Ein Zuwachs an Bürokratie und der Einfluss politischer Interessen stellen das EU-Recht und seine Prinzipien immer mehr in Frage. Expert_innen sehen nach 70 Jahren Reparaturbedarf an einem der größten Rechtsbestände der Welt.
Von Cathren Landsgesell
2004 konnte man noch nachzählen: Der niederländische Künstler Rem Koolhaas gab anlässlich der Ausstellung „The Image of Europe“ eine Gesamtausgabe des Acquis communautaire der EU, der Gesamtheit aller Rechtsakte der Europäischen Union, heraus. Das Werk hatte damals 31 Bände (den Kapiteln des Acquis entsprechend) und etwa 85.000 Seiten. Das EU-Recht, zudem bis heute wohl zigtausend Seiten dazugekommen sind, umfasst das gesamte gültige Recht – angefangen bei den Euratom-Verträgen von 1957 bis hin zu den aktuellen Richtlinien. Muss man 67 Jahre später den Rechtsbestand aufräumen? Und wenn ja, aus welchen Gründen und wo anfangen?
Der verlorene Zauber des Anfangs
Das EU-Recht in seiner Gesamtheit, der EU-Acquis, umfasst das so genannte Primärrecht, das sind der EU-Vertrag (der Gründungsvertrag) sowie der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union; das Sekundärrecht, das sind alle Richtlinien und Verordnungen, die durch EU-Organe erlassen werden; die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union, Entschließungen und Erklärungen der EU-Organe sowie schließlich alle völkerrechtlichen Verträge und Abkommen der EU mit anderen Staaten. Gezählt wird ab 1993, allerdings sind im Acquis auch ältere Rechtsbestände enthalten.
„Eine der großen Errungenschaften der EU, die ja auch die Integration des Wirtschaftsraums ermöglicht hat, war die Harmonisierung des Rechts in vielen wichtigen Bereichen“, sagt Daniel Varro. Als Professor für Steuerrecht und nachhaltige Steuerpolitik an der Universität für Weiterbildung Krems sieht er vor allem Vereinheitlichungen im Wirtschafts- und in bestimmten Bereichen des Steuerrechts als eine Erleichterung für Unternehmen und Bürger_innen der EU. „Ich habe jetzt allerdings den Eindruck, dass es insgesamt bürokratischer wird, je größer die politischen Herausforderungen werden.“ Dem Digital Services Act gelänge es etwa nicht, Bürger_innen effektiv vor Betrug und Datenmissbrauch zu schützen und auch die nach EU-Vorgaben in österreichisches Recht übertragene globale Mindestbesteuerung für Unternehmen habe nun einen Umfang von „circa 80 Paragrafen – das sind deutlich mehr Paragrafen als im österreichischen Körperschaftssteuergesetz“.
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„Eine der großen Errungenschaften der EU war die Harmonisierung des Rechts in vielen wichtigen Bereichen.“
Daniel Varro
Mangelnde Transparenz
Dieter Krimphove, der an der Universität Paderborn Wirtschaftsrecht lehrt, sieht das ähnlich. „Die Zahl der Rechtsquellen, die unmittelbar in einem Mitgliedsland wirken, sind in den letzten Jahren um bis zu zehn Prozent gestiegen“, sagt er. Die Vielzahl der Verordnungen erschwere Unternehmen die Planung. Kritischer noch sieht Krimphove allerdings eine Praxis, die sich vor allem in der Banken- und Kapitalmarktaufsicht verbreite: die Steuerung durch Guidelines oder Verlautbarungen. „Nationale Aufsichtsbehörden haben die Pflicht, den EU-Leitlinien nachzukommen, es sei denn, sie begründen, warum sie dies nicht tun. Die Guidelines erhalten durch dieses ‚comply or explain‘ faktisch eine Bindungswirkung, die ihnen eigentlich nicht zukommt, es ist eine Gesetzgebung unter dem Radar.“
Intransparenz in Kombination mit einer undurchschaubar werdenden Vielzahl kleinteiliger Vorschriften unterminierten das Vertrauen der Bürger_innen in die Institutionen der EU ist Varro überzeugt: „Die EU tritt den Bürger_innen zunehmend als großer Regulierungsapparat entgegen.“
Das Recht und die Demokratie
Steckt mehr Büro- als Demokratie im EU-Recht? Ist die EU irgendwann übers Ziel hinausgeschossen, als sie sich von einer Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Gemeinschaft wandelte? „Eine EU als reine Wirtschaftsgemeinschaft ist eine Fiktion“, sagt der auf Europarecht spezialisierte Rechtswissenschaftler Paul Gragl von der Universität Graz. „Sofern die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht bilaterale Abkommen mit 27 einzelnen Staaten treffen wollen, wird diese Entität auch eine demokratisch legitimierte Gesetzgebung, einen Grundrechtsschutz, Streitbeilegungsmechanismen und Koordinationsmechanismen im Strafrecht etc. brauchen. Die Politikwissenschaft nennt das ‚Spillover Effect‘, und der ist unvermeidlich, denn Wirtschaft funktioniert nicht ohne rechtliche Absicherung.“
Seit dem Vertrag von Lissabon 2009 ist die EU-Grundrechtecharta rechtsverbindlich für alle Mitgliedsstaaten der EU. „Die Grundrechte sind in der EU gut abgesichert, nicht nur durch den Europäischen Gerichtshof, sondern auch durch die nationalen Gerichte. Der Grundrechtsschutz funktioniert allerdings nur nach Innen. Beim Asylrecht bestehen Lücken“, sagt Gragl. So sind Zurückweisungen von Asylsuchenden an den EU-Außengrenzen nach der Grundrechte-Charta verboten, durchgeführt werden sie dennoch. Nach einer Entscheidung des EuGH vom September 2023 läge die Verantwortung für die illegalen Pushbacks nicht bei Frontex, der Grenzsicherungsagentur der EU, da diese von den nationalen Behörden besetzt werde.
Unklare Verantwortungsverteilung führt auch bei Rechtsakten wie der Dublin III-Verordnung, welche die Zuständigkeit für Asylverfahren regelt, zu Demokratiedefiziten bzw. Verstößen gegen die Grundrechte. „Oft ist nicht das Recht selbst das Problem, sondern der fehlende politische Wille, Demokratielücken zu schließen“, so Gragl.
Die Durchsetzbarkeit
Rechtstaatlichkeit und Demokratie sind Teil des EU-Vertrages. Ohne Rechtsstaatlichkeit ist eine EU-Mitgliedschaft ausgeschlossen. Baut ein Staat die Rechtsstaatlichkeit aber nach dem EU-Beitritt ab, sind Korrekturen entsprechend schwer. „Niemand hat damit gerechnet, dass Staaten auch Rückschritte machen können, was Demokratie und Grundrechte betrifft“, so Gragl.
Die Beispiele der Verfassungsreform in Polen und die kritisierte Erosion von Rechtsstaatlichkeit in Ungarn zeigen, dass die doppelte Absicherung der Grundrechte in der EU auch in Gefahr geraten kann. Obgleich Rechtsstaatlichkeit nach Artikel 2 des EU-Vertrags ein hohes rechtliches Gut ist, beschreitet die EU-Kommission Umwege, um Verstöße zu ahnden. Nachdem etwa Polen das Pensionsalter von Richter_innen um fünf Jahre gesenkt hatte, um kritische Richter_innen frühzeitig durch Günstlinge der Regierung ersetzen zu können, machte die EU-Kommission einen Verstoß gegen Altersdiskriminierung geltend, um eine unabhängige Gerichtsbarkeit zu erreichen.
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„Die Guidelines erhalten durch dieses ‚comply or explain‘ faktisch eine Bindungswirkung. Es ist eine Gesetzgebung unter dem Radar“
Dieter Krimphove
Vergleichbar hatte die EU-Kommission auch im Fall von Ungarn die Konditionalitätsverordnung aktiviert, die dazu da ist, die missbräuchliche Verwendung von Haushaltsgeldern zu unterbinden. Somit wurden 2022 zum ersten Mal in der Geschichte der EU Zahlungen von Fördergeldern an ein Mitglied suspendiert. 2023 und 2024 wurden diese Gelder zum Teil wieder freigegeben, um die ungarische Regierung zur Zustimmung zu Sanktionen gegenüber Russland bzw. zur Freigabe von Hilfsgeldern für die Ukraine zu bewegen.
Wird die EU erpressbar, weil das Subsidiaritätsprinzip den nationalen Regierungen zu viel Macht gibt? Die engen Verbindungen der ungarischen Regierung zu Russland waren es, die die EU-Kommission zwangen, Abstriche bei bestimmten Elementen des Green Deal zu machen. Ungarn blockierte zuletzt die Abstimmung über das Nature Restoration Law.
Die Achillesferse ist allerdings nicht die Subsidiarität, sondern die Einstimmigkeit: „Das Einstimmigkeitsprinzip soll die Souveränität der Mitgliedsstaaten in der Außen- und Sicherheitspolitik schützen“ sagt Gragl. „Es führt aber dazu, dass einzelne Staaten durch ein Veto die ganze Politik blockieren können. So hat Ungarn mit seinen knapp 10 Millionen Einwohnern eine Entscheidung für 450 Millionen zu Fall gebracht – nicht gerade demokratisch. Das heißt, da müsste eine Lösung gefunden werden, etwa eine qualifizierte Mehrheit, die bei solchen Entscheidungen höher angesetzt wird. Dafür müssten aber die Verträge geändert werden, und das geht nur einstimmig.“
Kann man die EU-Begeisterung früherer Jahre zurückholen? Dieter Krimphove erinnert daran, wie vor Ausbruch des Ukraine-Krieges immer konkreter über eine gemeinsame europäische Verfassung nachgedacht wurde. Heute löse die EU eher Wut und Enttäuschung aus. „Es fehlt an direkten Einflussmöglichkeiten“, so Krimphove. „Wenn Bürger das Gefühl haben, sie kommen in den Entscheidungsprozessen nicht vor, ist verständlich, dass sie nicht mehr mitmachen wollen.“
PAUL GRAGL
Univ.-Prof. MMag. Dr.iur. Paul Gragl ist Professor für Europarecht an der Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen das Europarecht, hier insbesondere den europäischen Grund- und Menschenrechtsschutz, das Völkerrecht und die Rechtstheorie und -philosophie.
DIETER KRIMPHOVE
Prof. Dr. Dieter Krimphove ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Paderborn. 2012 war er Gastprofessor an der Universität für Weiterbildung Krems.
DANIEL VARRO
Univ.-Prof. Mag. Mag. Dr. Daniel Varro, LL.M. ist Professor für Steuerrecht und nachhaltige Steuerpolitik am Department für Rechtswissenschaften und Internationale Beziehungen an der Universität für Weiterbildung Krems.
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