Neue Technologien, veränderte Lebenskonzepte und eine flexiblere Arbeitswelt stellen die Bildung vor große Chancen und Herausforderungen. Was braucht es, um Weiterbildung zukunftsfit zu machen?

Von David Rennert

Was ist die größte Herausforderung für die Bildung der Zukunft? ChatGPT hat wie immer sofort eine Antwort parat: An erster Stelle steht demnach der technologische Wandel, der die Anforderungen der Arbeitswelt rasant verändere und „ständig neue Anpassungen in der Weiterbildung erfordert“. Das generative Künstliche-Intelligenz-System ChatGPT, das seit seiner Veröffentlichung Ende 2022 weltweit Wellen schlug, ist selbst ein prominentes Beispiel für diese Entwicklung. Es zeigt auch anschaulich, welche Chancen und Herausforderungen Künstliche Intelligenz für die Hochschullehre bringt. 

Große Umbrüche werden immer auch von Verunsicherung begleitet, sagt die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny in Bezug auf Künstliche Intelligenz. Die emeritierte Professorin der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich war Gründungsmitglied und Präsidentin des Europäischen Forschungsrats ERC. Bei ChatGPT beobachtete sie in Bildungseinrichtungen zunächst Aufregung und eine „leise Hoffnung, dass alles doch nur ein Hype war“. Doch dem sei nicht so, ist Nowotny überzeugt. „Die Large Language Models als die jüngste Inkarnation der Künstlichen Intelligenz werden bleiben und weitere Entwicklungen werden folgen.“ 

Mittelfristig erwartet Nowotny, dass Tools wie ChatGPT im Bildungsbereich von engagierten Lehrkräften genutzt werden, um beispielsweise Lernmaterial zusammenzustellen oder im Unterricht mit den Schüler_innen und Studierenden zu experimentieren. „In einigen europäischen Ländern gibt es bereits Projekte, die solche Initiativen mit entsprechender Expertise unterstützen und begleiten“, berichtet Nowotny. Längerfristig sieht die Wissenschaftsforscherin aber den Bedarf für „radikalere Anpassungen des gesamten Lehrstoffs an die Möglichkeiten, die von der KI geboten werden“. Konkret müsse man sich auch teils unangenehmen Fragen stellen: Was kann die KI besser im Hinblick auf welche Lernziele? Wo ersetzt sie die Lehrenden? Wo und wie unterstützt sie die Lehrenden? Und in welcher Lernstufe muss ein kritischer Umgang mit KI vermittelt werden? 

Helga Nowotny

„Die Large Language Models als die jüngste Inkarnation der Künstlichen Intelligenz werden bleiben und weitere Entwicklungen werden folgen.“

Helga Nowotny

In Arbeitswelt zunehmend relevant

KI-Kompetenzen zu erlernen und zu verstehen, was solche Systeme können und was nicht, ist auch für die Arbeitswelt zunehmend relevant. Auch wenn es einen anderen Anschein erweckt: ChatGPT denkt nicht und versteht uns nicht, sondern entwirft seine scheinbar fundierten Antworten aus der statistischen Analyse großer Textmengen. Welche Daten für das „Training“ dieser KI verwendet werden, ist für die Benutzenden nicht nachvollziehbar, die Qualität der Ergebnisse kann stark schwanken. Fachleute unterstreichen das enorme Potenzial solcher Sprachmodelle, warnen aber auch, dass wir damit anders umgehen müssen als mit anderen Medien. 

Neue technologische Möglichkeiten wirken sich umso disruptiver auf das Bildungssystem aus, als dieses traditionell „eher zurückhaltend ist, was Innovationen betrifft“, analysiert Peter Parycek. Der Vizerektor für Lehre, wissenschaftliche Weiterbildung und digitale Transformation der Universität für Weiterbildung Krems beobachtete, dass viele technologischen Möglichkeiten, die auch schon vor der Corona-Pandemie vorhanden waren, nicht oder nur zögerlich genutzt worden sind. Dabei nimmt sich Parycek auch selbst nicht aus, obwohl er Digitalisierung naturgemäß sehr aufgeschlossen gegenübersteht. „Hätten Sie mich vor ein paar Jahren gefragt, ob es möglich ist, einen kreativen Workshop über mehrere Tage mit Design Thinking zu machen, wäre meine klare Antwort gewesen: Nein, das funktioniert nicht.“ Die pandemiebedingte Distanzlehre hat ihn vom Gegenteil überzeugt. Die Erfahrungen, wo digitale Tools und Flexibilisierung in der Lehre sinnvoll einsetzbar sind, wo sie aber direkte Interaktion nicht ersetzen können, seien für die Weiterentwicklung des Bildungswesens von großem Wert. 

Gekommen, um zu bleiben

Was den Umgang mit Künstlicher Intelligenz und Sprachmodellen angehe, würden die österreichischen Universitäten eine klare Linie vertreten: Die KI sei da und müsse eingesetzt werden, betont Parycek. „Wir müssen sie in die Lehrpläne integrieren, wir müssen sie bei Prüfungen einsetzen, teilweise aus Prüfungen ausschließen, aber es ist überhaupt kein Thema, KI generell zu verbannen“, sagt Parycek. „Ganz im Gegenteil besteht Konsens, dass wir uns überlegen müssen, wie KI die Bildung verändert und wie wir sie breit integrieren können.“ Generative KI-Systeme wie ChatGPT hätten das Zeug dazu, ein großartiges Expertenwerkzeug zu sein. „Man muss aber zuerst Expertin oder Experte sein, um die Ergebnisse richtig beurteilen zu können.“

In der Arbeitswelt sei inzwischen der „hybride Modus ganz selbstverständlich, weil wir nicht mehr davon ausgehen, dass wir alle am gleichen Ort sind“, sagt Parycek. Auch dabei könnten Sprachmodelle wie ChatGPT wertvolle Dienste leisten, indem sie etwa erlauben, zeitsparend Transkriptionen und Zusammenfassungen von Meetings zu erstellen. Umso wichtiger sei es, dass diese neuen digitalen Möglichkeiten auch im Bildungsbereich etabliert würden. „Man kann das letztlich nur umarmen und sich damit auseinandersetzen.“

Personalisiert Lernen dank KI

Zu den Chancen der digitalen Transformation im Bildungsbereich zählt für Parycek auch personalisiertes Lernen. Indem Daten zum Lernverhalten und aus Persönlichkeitstests gesammelt werden, könnten individualisierte Lehrangebote erstellt werden. Insbesondere aus Studierendensicht sei das Potenzial von Learning Analytics groß. Unter diesem Schlagwort versteht man das Sammeln und Auswerten studienbezogener Daten, aus denen sich etwa Lernfortschritte, persönliche Stärken und Schwächen ableiten lassen. Das kann dabei helfen, personalisierte Hilfestellung zu geben, die Studienplanung zu erleichtern und Studienabbrüchen vorzeitig entgegenzuwirken. „Wie gut das funktioniert, hängt wiederum davon ab, wie gut die Lehrangebote digitalisiert sind“, sagt Parycek.

Peter Parycek

„Wir müssen uns überlegen, wie KI die Bildung verändert und wie wir sie breit integrieren können.“

Peter Parycek

Gut durchdachte Digitalisierung ist auch für Elmar Pichl, Sektionschef im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, eine wesentliche Voraussetzung, um Bildung zukunftsfit zu gestalten. „Digitalisierung ist auf der einen Seite ein technologischer Prozess, aber sie ist auch ein sozialer Prozess. Die Herausforderung, den Einsatz von Technologie und Digitalisierung in der Hochschullehre zum Erfolg zu bringen, ist eine Frage der Didaktik und des Durchdenkens neuer technologischer Möglichkeiten. Und hier sind wir heute in einer Phase der unglaublichen Dynamik.“ 

Elmar Pichl

„Technologie und Digitalisierung in der Hochschullehre zum Erfolg zu bringen, ist eine Frage der Didaktik und des Durchdenkens neuer technologischer Möglichkeiten.“

Elmar Pichl

Analoge Intervention erforderlich

Learning Analytics könne Studierenden eine nützliche Hilfestellung bieten, um die eigenen Lernfortschritte in einen Kontext zu setzen und gleichzeitig engagierte Lehrende dabei unterstützen, individuelle Hilfestellungen zu geben, sagt Pichl. Erfolgreich könnten derartige Tools aber nur in der richtigen Kombination sein: „Es braucht dann auch die analoge didaktische oder pädagogische Intervention, damit der Lernende etwas davon hat. Man muss stets zu den Informationen, die man aus Daten und Datenanalysen bekommt, auch die richtige Operationalisierung ableiten.“ Fortbildungen und Schulungen für Lehrende in diesem Bereich sind für Pichl daher ein wichtiger Hebel, um Learning Analytics im österreichischen Hochschulraum breiter zu verankern.

Wie sich die Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz im Bildungsbereich sinnvoll nutzen lassen, hängt für Pichl auch von der jeweiligen Disziplin ab. Generell könnten KI-Tools sowohl den Lehr- als auch den Lernprozess unterstützen, „die große Herausforderung ist aber, wie man mit den Ergebnissen umgeht.“ Es brauche die Kompetenz, Resultate zu hinterfragen und kritisches Denken und Plausibilisieren zu beherrschen.

Diesem Aspekt räumt auch Helga Nowotny große Bedeutung ein, insbesondere wenn Künstliche Intelligenz in sensiblen Bereichen wie dem Bildungswesen eingesetzt wird. In ihrem kürzlich erschienen Buch „Die KI Sei mit Euch. Macht, Illusion und Kontrolle algorithmischer Vorhersage“ geht es auch darum, den Ergebnissen von Künstlicher Intelligenz nicht blind zu vertrauen. „Die KI ‚versteht‘ nichts und ‚weiß‘ nicht, was sie uns sagt“, so Nowotny. „Das trügerische Vertrauen wird gezielt geschürt.“ Denn ChatGPT sei so programmiert, dass es uns glauben lasse, wir würden mit einem Menschen kommunizieren. Dafür müssten sowohl Kinder wie auch Erwachsene sensibilisiert werden.

Integrationsstütze

Ob der Einsatz von Künstlicher Intelligenz zu mehr sozialer Durchlässigkeit im Bildungsbereich führen wird, lasse sich noch kaum anhand empirischer Daten beurteilen. Nowotny zeigt sich hier vorsichtig optimistisch: „Die wenigen bisher vorliegenden Studien zeigen, dass ChatGPT vor allem jenen hilft, die nicht in ihrer Muttersprache lernen oder andere sprachliche Defizite im Vergleich zu den geforderten Standards haben“, sagt Nowotny. Das sei eine große Chance für Menschen aus benachteiligten Familien und mit Migrationshintergrund. „Freilich ist das nicht genug, um soziale Inklusion zu erreichen, doch es sollte Auftrieb geben, sprachliche Hürden auf dem Weg zur Integration zu überwinden“, analysiert Nowotny. 

Wenn es um Durchlässigkeit, aber auch um Flexibilisierung und individuelle Bedürfnisse in der Bildung geht, können technologische Innovationen wichtige Werkzeuge sein. Ohne politische Entscheidungen und rechtliche Rahmenbedingungen bleibt ihre Wirkung allerdings begrenzt. Mit der 2021 beschlossenen Novelle des Universitätsgesetzes wurde ein Schritt gesetzt, der neue Bildungswege ermöglicht: In dem Reformpaket wird die hochschulische Weiterbildung in Österreich neu organisiert und in die Bologna-Struktur eingegliedert.

UG-Novelle öffnet Optionen

Parycek sieht in der Novelle einen „mutigen Schritt der Politik“, der ganz neue Bildungsoptionen eröffne: Zusätzlich zu den bisherigen Weiterbildungsmasterstudien gibt es nun auch Bachelorstudien in diesem Bereich, die berufsbegleitend absolviert werden können. Leistungen aus dem nichthochschulischen Bereich, etwa von Berufsschulen und betrieblichen Weiterbildungen, können dafür anerkannt werden. „Damit wird die scharfe Trennung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft ein Stück weiter aufgeweicht“, sagt Parycek. Abgeschlossene Weiterbildungsstudien berechtigen außerdem nun auch zu aufbauenden Regelstudien an anderen Universitäten.

Wissenswertes

UN-Sustainable Development Goal 4:

„Bis 2030 für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung sicherstellen sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen fördern.”

Mit der Bildungsagenda 2030 verfolgen die Vereinten Nationen das Ziel, mit u.a. dem Leitkonzept lebenslangen Lernens beizutragen, die Sustainable Development Goals zu realisieren. Einrichtungen der tertiären Bildung einschließlich Hochschulen schreibt die Bildungsagenda 2030 bei der Entwicklung von Policies für und die Bereitstellung von chancengerechten Möglichkeiten zum hochwertigen lebenslangen Lernen eine wichtige Rolle zu.

Quelle: UNESCO Bildungsagenda 2030 Aktionsrahmen, Deutsche UNESCO-Kommission

An der Universität für Weiterbildung Krems arbeite man zusätzlich daran, kürzere Programme an unterschiedlichen Departments zu entwickeln, die kombinierbar sind. Das erlaube Studierenden eine individuellere Studiengestaltung und könne auch Hürden für Studieninteressierte ohne hochschulische Erfahrungen abbauen. „Wenn ich unsicher bin, ob ein Studium überhaupt etwas für mich ist, macht es einen großen Unterschied, ob ich mich gleich für ein sechs Semester langes Bachelorstudium entscheiden muss oder zunächst ein kürzeres zertifiziertes Programm absolvieren kann“, sagt Parycek. So könne man das Studium Schritt für Schritt gestalten und stärker an Bedürfnisse und Interessen anpassen. „All das macht die Hochschule zugänglicher und ich glaube, das muss letztendlich das Ziel von Weiterbildung sein.“ 

Für Pichl hat sich durch die Novelle die programmatische Mission der hochschulischen Weiterbildung in Österreich geändert. Bisher habe sie vorwiegend auf Personen abgezielt, die bereits Studien absolviert hätten. Das ändere sich nun grundlegend: „Mit dem Format des Weiterbildungsbachelors werden auch Zielgruppen erfasst, die aus dem Berufsleben direkt und zu einem späteren Zeitpunkt ihres Lebens einsteigen und einen ersten akademischen Grad erlangen wollen. Deshalb war die Einführung dieses Formats so wichtig.“ 

Zurück zur Einstiegsfrage: Was sind die größten Herausforderungen für die Zukunft der Bildung? ChatGPT spuckt plausible Antworten aus: Gleich nach der Auseinandersetzung mit dem technologischen Wandel rangieren die steigende Notwendigkeit von Flexibilität und die Förderung von lebenslangem Lernen. Woher die KI ihre Daten auch haben mag: In dem Fall ist das Ergebnis der Künstlichen Intelligenz erstaunlich nahe an den Einschätzungen der Fachleute.

David Rennert ist Wissenschaftsjournalist bei der Tageszeitung Der Standard


HELGA NOWOTNY
Prof. Dr. Helga Nowotny, Ph.D. ist ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats und eines seiner Gründungsmitglieder. Die international anerkannte Wissenschaftsforscherin ist emeritierte Professorin für Wissenschafts- und Technologiestudien der ETH Zürich. Die Ehrensenatorin der Universität für Weiterbildung Krems ist u.a. derzeit Präsidentin des Vereinsvorstandes des IWM Wien und Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats des Complexity Science Hub Vienna.

PETER PARYCEK
Univ.-Prof. Mag. Dr. Peter Parycek, MAS MSc ist Vizerektor für Lehre/Wissenschaftliche Weiterbildung und digitale Transformation (CDO) der Universität für Weiterbildung Krems. Dort leitet der Universitätsprofessor für E-Governance das Department für E-Governance in Wirtschaft und Verwaltung.

ELMAR PICHL
Mag. Elmar Pichl ist Sektionschef im Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, wo er die Hochschulsektion leitet. Der studierte Jurist war u.a. Kabinettchef im Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung und ist Aufsichtsratsvorsitzender der Agentur für Bildung und Internationalisierung (OeAD).

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