In gewisser Weise sind sie Shooting Stars der biomedizinischen Forschung, und das seit vielen Jahren: extrazelluläre Vesikel (EV). Als „Zellstaub“ lange Zeit nicht weiter beachtet, rückten die membran-umschlossenen Bläschen seit den 2010er Jahren verstärkt in den Fokus.
Zunächst, was sind extrazelluläre Vesikel?
Viktoria Weber: Extrazelluläre Vesikel, kurz EVs, sind von der Form her kleine Bläschen in einem Größenbereich von etwa 30 bis 1.000 Nanometer, die von einer Membrandoppelschicht umgeben sind. Sie finden sich in allen Körperflüssigkeiten, vom Blut bis zur Tränenflüssigkeit. Zellen, setzen die Vesikel sowohl unter physiologischen als auch unter pathologischen Bedingungen frei, geben sie also aktiv ab. EVs erfüllen verschiedene Funktionen, die nach und nach entdeckt und verstanden wurden, etwa bei der Signalübertragung von Zelle zu Zelle oder bei der Regulation des Immunsystems. Das macht sie für die Forschung interessant.
Bekannt sind EVs bereits seit den 1960er Jahren, aber in den Fokus der Forschung sind sie erst viel später gerückt, ein regelrechter Boom kann seit ungefähr 2010 beobachtet werden. Was ist da passiert?
Weber: Die Entdeckung von EVs hatte, wie so oft, mit erweiterten technischen Möglichkeiten zu tun. In diesem Fall waren das die Entwicklung leistungsfähiger Zentrifugen, um auch sehr kleine Bestandteile aus Flüssigkeiten abzutrennen und die erweiterten mikroskopischen Möglichkeiten. Eine erste zentrale Publikation war jene von Peter Wolf 1967, in der er von „Platelet Dust“ schreibt, also „Plättchenstaub“.
Dass Vesikel in den 1960er Jahren gerade im Zusammenhang mit Blutplättchen entdeckt wurden, war sicher kein Zufall. Blutplättchen reagieren stark auf Veränderungen in ihrer Umgebung und neigen dazu, Vesikel abzugeben. EVs besitzen im Verhältnis zu ihrem Volumen eine sehr große Oberfläche. Dort befinden sich Membranlipide, die dazu führen, dass die Gerinnung schneller ablaufen kann.
Die Rolle von Vesikeln bei der Signalweitergabe und Kommunikationsvorgängen zwischen Zellen rückte erst in den 1990er Jahre in den Fokus der Forschung. Wichtige Forschung dazu betrieben James Rothman, Randy Schekman und Thomas Südhof, die 2013 gemeinsam dafür den Nobelpreis erhielten. Den Zellbiologen Schekman hörte ich als Studentin selbst in einem Vortrag, er hat mich begeistert und inspiriert.
Die Forschung zur Frage, welche Rolle Vesikel bei Transportvorgängen in Zellen spielen, hat sich dann mehr und mehr verdichtet, immer mehr Forscher_innen widmeten sich diesem Thema. Mit den Fragen zur Funktion kamen dann bald auch Fragen nach möglichen diagnostischen und therapeutischen Anwendungen von EVs. Ab etwa 2010 organisierte sich die Forschung in diesem Gebiet, zum Beispiel durch die Gründung einer internationalen Fachgesellschaft, der International Society for Extracellular Vesicles (ISEV). Die bis dahin sehr unterschiedlichen Begriffe und Bezeichnungen wurden unter dem Sammelbegriff „Extrazelluläre Vesikel“ zusammengefasst und es wurden Mindeststandards für ihre Charakterisierung erarbeitet und publiziert, um die Vergleichbarkeit von Forschungsergebnissen verschiedener Gruppen zu verbessern.
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„Wir konzentrieren uns auf zwei Schwerpunkte: die Rolle der Vesikel in der Blutgerinnung und ihre Rolle in der Entzündung. Beide Themen sind eng verknüpft.“
Viktoria Weber
Wann wurden EVs Forschungsgegenstand an der Universität für Weiterbildung Krems?
Weber: Etwa 2010 wies uns der damalige Leiter unseres Departments, Prof. Dieter Falkenhagen (1942-2015), auf eine entsprechende Publikation hin - er hatte immer ein Gefühl für Zukunftsthemen in der Medizin. Meine Kolleg_innen und ich waren damals noch zurückhaltend, weil uns die Methoden und Geräte zur Messung und Charakterisierung fehlten. Mit der Gründung des CD-Labors für Innovative Therapieansätze in der Sepsis hatten wir dann ab 2013 aber die Möglichkeit, uns diesem Thema zu widmen. In der Zwischenzeit war klar geworden, dass Zellen Energie in die Freisetzung von EVs investieren. Das bedeutete: Vesikel waren kein Zufallsprodukt, wie die Plättchenstaub-Idee das ursprünglich nahelegte, sondern sie mussten eine Funktion haben: die der Übertragung molekularer Informationen zwischen Zellen. Plötzlich war mit diesem Konzept vieles erklärbar, die Signalübertragung im Blut und wie Zellen grundsätzlich bei verschiedenen Erkrankungen, etwa bei Tumorerkrankungen kommunizieren.
Welchen Aspekten der EVs widmet sich die Forschung der Universität für Weiterbildung Krems?
Weber: Unser Interesse bestand anfangs darin, EVs als Marker für die Aktivierung von Zellen zu nutzen, etwa bei der Entwicklung von Blutreinigungsverfahren, bei denen eine Aktivierung von Zellen ja möglichst vermieden werden soll. Werden also möglichst wenige Vesikel freigesetzt, ist das System blutverträglich.
Es zeigte sich aber rasch, dass EVs darüber hinaus Bedeutung besitzen, und wir konzentrierten uns auf zwei Schwerpunkte: die Rolle der Vesikel in der Blutgerinnung und ihre Rolle in der Entzündung. Beide Themen sind eng verknüpft. Entzündungsprozesse sind grundsätzlich wichtig und wesentlich für die Regeneration von Geweben, allerdings nur, solange sie reguliert bleiben. Eine Fehlregulation führt entweder zu chronischen Entzündungen wie zum Beispiel Atherosklerose oder zu systemischen Entzündungen, wie zum Beispiel Sepsis. Wir wissen heute, dass EVs an dieser Regulation maßgeblich beteiligt sind. Die gleichzeitige Aktivierung der Blutgerinnung und eine sehr starke Entzündungsreaktion, auch als Immunthrombose bezeichnet, zeigte sich auch bei Patient_innen mit schweren Verläufen von COVID-19. In klinischen Proben konnten wir die Rolle von EVs bei der Entstehung von Immunthrombose dabei nachweisen.
Ein weiteres Thema unserer Forschung ist die Veränderung von Blutprodukten, also von Erythrozytenkonzentraten oder von Blutplättchen bei der Lagerung. Sowohl Erythrozyten (rote Blutkörperchen) als auch Plättchen setzen bei der Lagerung große Mengen an Vesikeln frei. Diese Vesikel können auf Grund ihrer Oberflächenbeschaffenheit gerinnungsaktivierend wirken. Wird nun Patienten mit voraktivierter Gerinnung – z. B. im Fall verschiedener Tumorerkrankungen – ein Blutprodukt verabreicht, das große Mengen an EVs enthält, können diese gleichsam der Zündstoff für eine Entzündungsreaktion sein.
Charakterisierung und Erforschung der EVs ist auf Geräteausstattung angewiesen. Mit der Core Facility Campus Krems verfügt die Universität über moderne Forschungsinfrastruktur. Wie nützt sie der EV-Forschung?
Weber: Nur mit entsprechender Geräteausstattung, wie sie uns in der Core Facility am Campus Krems zur Verfügung steht, ist die Charakterisierung von EVs möglich. Mittels Durchflusszytometrie können wir Vesikel direkt in ihrer Umgebung, in unserem Fall in Blut, charakterisieren, d.h., Verfälschungen der Ergebnisse durch Anreicherungsprozesse werden weitestgehend vermieden. Allerdings können wir mit dieser Methode nur einen bestimmten Größenbereich erfassen, die ganz kleinen Vesikel „sehen“ wir damit nicht – oder noch nicht, denn die technischen Möglichkeiten verbessern sich laufend. Zusätzlich ermöglichen bestehende Kooperationen mit der Medizinischen Universität Wien eine weitere Charakterisierung, z.B. mittels Imaging Flow Cytometry. Die Kombination von Durchflusszytometrie mit Fluoreszenzmikroskopie ermöglicht dabei, von jedem Vesikel ein Bild zu generieren. So konnten wir zeigen, wie Vesikel von Blutplättchen mit Immunzellen interagieren.
Zur Charakterisierung der molekularen „Fracht“ von EVs kommen unter anderem massenspektrometrische Verfahren zur Anwendung. Damit lässt sich die Lipid- und Proteinzusammensetzung von Vesikeln charakterisieren. Dies erfordert eine intensive Methodenentwicklung, der wir uns seit Jahren widmen, um eine Basis für weiterführende Forschungsarbeiten zu entwickeln.
Das heißt, die Methodenentwicklung als Basis für die Charakterisierung der EVs hat Ihre Forschung lange Zeit beschäftigt. Was ist danach gekommen?
Weber: Eine Kombination unterschiedlicher Methoden ist die Basis für die Erforschung der Funktionen von EVs. Dieses Verständnis für die unterschiedlichen Funktionen von EVs, etwa bei der Regulation von Entzündungsprozessen, steht derzeit in unserem Fokus.
Es ist auch das zentrale Thema im doc.funds.connect-Projekt „EVision: Extracellular Vesicles in Inflammation“, das vom Wissenschaftsfonds FWF mit 1,2 Mio. Euro gefördert wird und im Oktober 2024 startet. Damit werden fünf Doktoratsstellen für jeweils vier Jahre finanziert. Die IMC Fachhochschule Krems und die Medizinische Universität Wien sind unsere Partner in diesem Projekt.
EV in Blutprodukten und die damit verbundenen Fragen für deren Anwendung sind demnach Schwerpunkte im Projekt EVision?
Weber: Genau. Es geht vor allem um die Untersuchung von EVs in Blutprodukten. Unser Ziel ist, dazu beizutragen, dass Blutprodukte wie Erythrozytenkonzentrate oder Plättchenkonzentrate möglichst gut auf die jeweiligen Patient_innen abgestimmt werden können. Dabei spielt das Wissen um EVs in diesen Blutprodukten eine wesentliche Rolle.
Eine weitere Facette sind sogenannte oxidative Epitope, die auf Zellen und auf EVs vorhanden sein können. Durch oxidative Prozesse verändern sich laufend Proteine und Lipide in unserem Körper. Dadurch können neue Strukturen an der Zelloberfläche entstehen, die als „Damage-Associated Molecular Patterns“ wirken, auf die unser Immunsystem ebenso reagiert wie auf eine Infektion - mit einer Entzündungsreaktion. Inwieweit oxidative Epitope auf extrazellulären Vesikeln zu finden sind und ob sie sich bei der Lagerung von Blutprodukten bilden können, erforschen wir ebenfalls im Rahmen von „EVision“.
Bedeutet das, in der Anwendung der EV-Forschung könnte man stärker in Richtung einer individualisierten, personalisierten Medizin kommen?
Weber: Richtig. Unter dem Aspekt, dass Blutprodukte ein äußerst wertvolles Gut sind, und daher zur richtigen Zeit an den richtigen Patienten verabreicht werden sollen.
Wäre es denkbar, auch irgendwann einmal künstlich hergestellte Vesikel zu verwenden?
Weber: Ja. Künstlich hergestellte Vesikel werden bereits in der Forschung verwendet, hauptsächlich im Zusammenhang mit Transportvorgängen, zum Beispiel für das Einbringen von Substanzen in Zielzellen. Das heißt, man steuert die EVs so, dass sie ihren Weg finden und in der Zielzelle erkannt werden.
Man könnte also Medikamente zielgenau transportieren lassen?
Weber: Genau. Vesikel als Signalüberträger zwischen Zellen. Das Bild ist: Ich habe ein Vesikel und da drinnen sind Moleküle, die von A nach B transportiert werden sollen. Das Vesikel ist quasi der Briefumschlag, auf dem die Adresse steht. Allerdings gibt es eine entscheidende Frage zu klären: Behalten Vesikel, wenn man sie zum Beispiel aus Blut isoliert, ihre Eigenschaften, oder verändern sie sich? Einiges deutet darauf hin. Wir erkennen zunehmend solche Veränderungen, die mit der sogenannten Corona von EVs zusammenhängen. Das ist eine Schicht von Molekülen, welche Vesikel umgibt. An dieser Grenzfläche können sich bestimmte Moleküle anreichern, die Hülle kann aber bei der Reinigung von EVs auch verloren gehen.
Wie wird die Zusammenarbeit in der EV-Forschung in Europa gefördert?
Weber: Es gibt zum Beispiel Fellowships im Rahmen von MOVE (MObility for VEsicles research in Europe). In diesem Rahmen wird ab September eine PhD-Studentin aus Italien für einige Monate an unserem Department forschen.
Gibt es ein Unternehmensumfeld, das interessiert wäre, die Forschung aufzunehmen und in die Anwendung zu kommen?
Weber: Auf jeden Fall. Das Interesse an extrazellulären Vesikeln für therapeutische Anwendungen insbesondere in der regenerativen Medizin ist sehr groß, daher auch das große Interesse an der Forschung auf diesem Gebiet.
Zum Abschluss: In welcher Phase befindet sich dieses Forschungsgebiet?
Weber: Ich würde sagen, wir befinden in der exponentiellen Phase und es wird sich noch vieles entwickeln.
Das Gespräch führten Christoph Hahn und Roman Tronner
Univ.-Prof.in Dr.in Viktoria Weber ist Vizerektorin für Forschung und nachhaltige Entwicklung der Universität für Weiterbildung Krems und leitet dort das Department für Biomedizinische Forschung. Gemeinsam mit der MedUni Wien initiierte sie die Austrian Society for Extracellular Vesicles.
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