2018 ist das Jahr des europäischen Kulturerbes. Doch kann es ein Kulturerbe geben, mit man sich über Ländergrenzen hinweg identifizieren kann? Geht es überhaupt um „eine“ Identität?

Von Cathren Landsgesell

 

„Die große Begeisterung kommt in dem Moment, wo ich die Maschinen einschalte“, erzählt Maria Wiesinger. Maria Wiesinger ist eigentlich Textilfacharbeiterin. Seit vier Jahren führt sie Besucher durch das „Lebendige Textilmuseum“ in Groß Siegharts, einer kleinen Gemeinde im nördlichen Waldviertel nahe der Grenze zu Tschechien. „Die Maschinen“, das sind Webstühle und Webmaschinen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die in dem Museum in Groß Siegharts mit Transmission angetrieben werden und die heute noch funktionstüchtig sind; ebenso wie die Handwebstühle, die im frühen 18. Jahrhundert nach Groß Siegharts kamen und den Ursprung der Waldviertler Textilindustrie markieren. Wer das Textilmuseum besucht, kann Bänder und Tücher kaufen, wie sie an diesen Stühlen gewebt wurden. „Für viele Besucher ist es verblüffend zu erleben, wie solch eine Selbstverständlichkeit wie ein Stück Stoff tatsächlich hergestellt wird; welche Arbeitsschritte und Produktionszusammenhänge dahinter stehen“, sagt Maria Wiesinger.

2018 ist ein gutes Jahr, um ein Kulturerbe wie die Textilarbeit im Waldviertel sichtbar zu machen. Es ist das „Europäische Kulturerbejahr“, kurz „EYCH“, das „European Year of Cultural Heritage“. Das EYCH wurde als Themenjahr von der Europäischen Kommission initiiert und steht unter dem Motto „Sharing Heritage“, das Erbe teilen. Themenjahre gibt es seit 1983 in unregelmäßigen Abständen. EYCH soll in diesem Jahr die große Vielfalt des europäischen Kulturerbes zeigen und dabei das Gemeinsame dieses Erbes sichtbar werden lassen. Aber kann es überhaupt so etwas wie ein europäisches Kulturerbe geben?

Infografik_Kulturerbe

Lokal spezifischer Ausdruck

„Kulturelles Erbe findet zumeist einen lokal oder regional spezifischen Ausdruck. Jedes Kulturerbe ist das Produkt vieler Austauschprozesse, die weder national noch regional begrenzt waren und sind. Sie stellen das europäisch Verbindende dar.“ Uwe Koch leitet das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz, das in Deutschland die Durchführung des Themenjahres koordiniert. Die Schwierigkeit besteht aus seiner Sicht darin, die vielfältigen europäischen oder auch globalen Ursprünge erfahrbar zu machen. „Wenn Sie in eine Dorfkirche gehen, und Sie sehen dort einen Taufstein aus dem 12. Jahrhundert, dann können Sie abseits seiner lokalen Bedeutung vielleicht die Bildsprache entdecken, die auf Byzanz oder eine andere Region verweist. Da ist mehr Botschaft, als gemeinhin wahrgenommen wird. Wir wollen im Themenjahr die Leute anregen, ihnen sagen, ‚Entdeckt doch, schaut doch neu hin’“.

Uwe Koch setzt große Hoffnungen auf das Kulturerbe-Jahr. Die Chancen stünden gut, tatsächlich ein sehr großes Publikum zu erreichen, zumal sich jetzt bereits zeigen würde, wie groß das Interesse von Fachleuten und Laien ist. „Wenn wir von ‚Kulturerbe’ sprechen, verbinden wir damit auch den Anspruch, sozial, kulturell und generationell mehr in die Breite der Gesellschaft zu kommen.“ Das europäische Themenjahr ist offen für alle Formen des kulturellen Erbes, sei es baulicher, archäologischer, immaterieller oder industrieller Art. In Deutschland wird der Schwerpunkt auf das bauliche Erbe gelegt.

Aus historischer Perspektive könnte man sagen, „Kulturerbe“ sei eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Im „Jahrhundert der Geschichte“, wie der französische Philosoph Michel Foucault es nannte, war man in vielen europäischen Ländern und speziell in Deutschland bestrebt, die Formierung der Nation durch ein ‚nationales’ Kulturerbe zu stärken. „Das ist aber etwas Konstruiertes, das dem Wesen kulturellen Erbes überhaupt nicht gerecht wird“, sagt Uwe Koch. So wurde die Gotik im 19. Jahrhundert als „deutscher Stil“ identifiziert und die Fertigstellung des Kölner Doms bis 1880 im Stil der Neugotik damit zu einer nationalen Aufgabe. „Das ist sehr gewagt, denn gerade die Gotik ist im europäischen Miteinander entstanden“, sagt Uwe Koch. „Nationale Grenzen eignen sich prinzipiell sehr schlecht, um ein Kulturerbe zuzuordnen, weil sie sich über die Jahrhunderte natürlich stets geändert haben.“

„Wir wollen im Themenjahr die Leute anregen,
ihnen sagen, entdeckt doch, schaut doch neu hin.“

Uwe Koch

Unverzichtbar: Freiwilliges Engagement

Aufgerufen, mit Projekten und Veranstaltungen zum Gelingen des EYCH beizutragen, haben nicht nur offizielle Stellen, sondern auch unzählige Freiwillige, Vereine und Gruppen ihre Ideen eingebracht bzw. erstmals sichtbar machen können, was sie zum Teil schon Jahren für das europäische Kulturerbe tun: „In Deutschland erleben wir eine Mobilisierung, die unsere Erwartungen übertrifft“, so Uwe Koch.

Im 1988 gegründeten „Lebendigen Textilmuseum“ steckt bis heute sehr viel von solch freiwilligem Engagement: Dass das Museum heute an zwei Tagen in der Woche geöffnet sein kann, ist zum einen Maria Wiesinger zu verdanken, die die Maschinen bedienen kann und dem Verein, der über Spenden den Erhalt finanziert. Immerhin: Seitdem der Thayatal-Radweg auf der Trasse der ehemaligen Thayatalbahn fertiggestellt ist, kommen viel mehr Besucher.

 Groß-Siegharts im Waldviertel hat heute rund 2800 Einwohner. Sein kulturelles Erbe weist über die geringe Größe hinaus: Bis in die späten 1980iger Jahre war der Ort ein wichtiges Zentrum der Textilindustrie in Europa und ist bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert spezialisiert auf die Bandproduktion. Die Firma Silberbauer, 1848 in Groß Siegharts gegründet, ist heute noch einer der führenden Hersteller unter anderem von technischen Spezialbändern für den Maschinen- und Automobilbau. Das Unternehmen ist nach wie vor ein Familienbetrieb.

Im Museum wird diese Geschichte als Geschichte des Alltagslebens erlebbar und in die Gegenwart geholt: Wir sehen die Webstühle, die Johann Graf von Mallenthein um 1720 in das Dorf Groß Siegharts brachte, Rekonstruktionen der Weberhäuser, in denen die aus ganz Europa stammenden Arbeiter im Verlagssystem Bänder und Garne produzierten, unter anderem für die Ostende-Kompanie des Kaisers. Die bescheidenen Häuser der ersten Arbeiter sind in Groß Siegharts heute noch in Grundzügen erhalten; so lassen sich die von Mallenthein angelegten Siedlungsstrukturen nach dem Museumsbesuch plötzlich leicht erkennen. Groß Siegharts ist geradezu durchdrungen von europäischer Industriegeschichte und bemüht sich, sie sichtbar und lebendig sein zu lassen. Aber muss ein Kulturerbe eigentlich immer erlebbar sein?

 

Kulturwerte bleiben

„Nein“, sagt Mechtild Rössler. „Erlebbarkeit“ ist für sie keine Kategorie. Sie ist die Direktorin des UNESCO-Welterbezentrums und damit jener Organisationseinheit, die für die Umsetzung und Einhaltung der Welterbe-Konvention der Vereinten Nationen von 1972 zuständig ist; und sie wacht über die Liste der insgesamt 1.073 Stätten auf der Erde, die als UNESCO-Weltkulturerbe und/oder UNESCO-Weltnaturerbe gelten. „Eine Welterbestätte behält ihren Wert, egal, ob Sie sie sehen können, oder nicht.“ Tatsächlich kann man nicht alle UNESCO-Welterbestätten sehen. Manche liegen unter der Erde, andere dürfen aus konservatorischen Gründen nicht betreten werden, wie etwa die schottische Inselgruppe St. Kilda, die ebenso Weltkultur- wie Weltnaturerbe ist. Ein multimediales Besucherzentrum auf einer benachbarten Insel, das auch der lokalen Bevölkerung „sehr wichtig“ ist, wie Mechtild Rössler erklärt, vermittelt die Geschichte der Inselgruppe. Wer will, kann bei gutem Wetter mit freiem Auge nach St. Kilda herüberschauen.

„Wenn man die vielzitierte Käseglocke über ein kulturelles Erbe stülpt, kann man es als lebendiges Erbe auch nicht mehr an nachkommende Generationen weitergeben.“

Christian Hanus

Schafft man damit Monumente statt kulturellem Erbe? „Natürlich, die Gefahr der Musealisierung besteht oftmals“, sagt Christian Hanus. Er leitet das Department für Bauen und Umwelt an der Donau-Universität Krems. Entwicklung müsse möglich sein, sagt der Architekt. „Wenn man die vielzitierte Käseglocke über ein kulturelles Erbe stülpt, kann man es als lebendiges Erbe auch nicht mehr an nachkommende Generationen weitergeben.“ Am Beispiel der Wachau zeigt sich, dass materielles und immaterielles Kulturerbe zusammengehören, um sich wechselseitig zu stützen: Die technologischen Errungenschaften im Weinbau unterstützen die traditionsnahe Bewirtschaftung der historischen Kulturlandschaft, die ohne dieses wirtschaftliche Fundament so schwer zu erhalten wäre.

Auch die Inszenierung von kulturellem Erbe kann aus der Sicht von Hanus (siehe auch Interview Seite 15) das Verständnis für die Geschichte erhöhen. Carnuntum etwa, die römische Siedlung in Niederösterreich, die zum Teil nachgebaut wurde, sieht er daher durchaus positiv, selbst wenn sie in Form der Römerfestspiele daherkommt: „Zwar hat das mit Denkmalpflege wenig zu tun, doch sehe ich dies als didaktischen Akt, den geschichtlichen Kontext eines Denkmals auf anschauliche Weise zu vermitteln. Das kann zur Wertschätzung des kulturellen Erbes beitragen.“

 

„Nicht jede Dorfkirche schützen“

Mechtild Rössler muss sich täglich unter anderem damit auseinandersetzen, was als Welterbe gilt und was nicht. Die Definition von Kultur- und Naturerbe ist gewissermaßen ihr täglich’ Brot. Auf die Welterbeliste kommt nur, was von außergewöhnlicher, universeller Bedeutung ist. „Es ist eine selektive Liste. Es geht definitiv nicht darum, dass jedes Land sein Welterbe hat und jede Dorfkirche geschützt wird.“ Als Welterbe-Kommission treffen 21 Repräsentanten der 193 Unterzeichnerstaaten regelmäßig zusammen, um über die Weltwerbestätten zu entscheiden. Ende Juni war Mechtild Rössler daher in Bahrain anzutreffen. Unter anderem ist es bei dieser Sitzung um den Erhaltungszustand von Wien als Welterbe gegangen. „Eines der grundlegenden großen Missverständnisse ist, dass insbesondere die Städte glauben, sie könnten weitermachen wie bisher, wenn sie einmal den Welterbestatus haben. Das ist aber nicht so. Sie müssen sich wie alle Stätten an die Richtlinien halten.“ Wien ist durch das geplante Hochhaus am Heumarkt bereits zum zweiten Mal auf der „roten Liste“. 2001 und 2002 hatte die UNESCO bereits die Auslistung erwogen.

Auslistungen sind selten. 2009 hatte das Dresdner Elbtal wegen der sogenannten „Waldschlösschen-Brücke“ seinen Welterbestatus verloren. In diesem Jahr wird vermutlich das aus dem 3. Jahrhundert vor Christus stammende historische Zentrum von Shahrisabz in Usbekistan von der Liste gestrichen. Mechtild Rössler: „Es ist sehr außergewöhnlich, wenn eine Stätte wieder gestrichen werden muss. Allerdings sind Investoren, Immobilienentwickler und urbane Entwicklungen, die das Welterbe nicht berücksichtigen, ein immer größer werdendes Problem gerade in historischen Innenstädten.“

„Es ist eine selektive Liste. Es geht definitiv nicht darum, dass jedes Land sein Welterbe hat und jede Dorfkirche geschützt wird.“

Mechtild Rössler

Dabei ist der Status als Weltkulturerbe eigentlich ein Gewinn für die Städte. Mechtild Rössler berichtet, dass der Tourismus in Le Havre in einem Jahr etwa um 25 Prozent zugenommen hat, seitdem die französische Stadt auf der Welterbeliste steht. Was den Städten nützt und wohl auch ein Grund ist, warum sich so viele Städte um Aufnahme bewerben, kann für das kulturelle oder auch natürliche Erbe allerdings erneut zur Bedrohung werden. Dubrovnik etwa leidet ebenso wie Venedig unter den Tausenden Besuchern, die mit jedem Kreuzfahrtschiff in diese kleine Städte kommen. „Das geht in eine Richtung, die nicht mehr vertretbar ist“, sagt Mechtild Rössler.

 

Staaten wollen nicht zahlen

Ein großes Problem der UNESCO ist das fehlende Geld: Während die Liste der Welterbestätten von Jahr zu Jahr länger wird und ihre Bedrohungen, darunter auch der Klimawandel, Jahr für Jahr zunehmen, bleiben die Ressourcen des Welterbefonds im Wesentlichen unverändert. „Die Staaten wollen alle mehr Welterbe-Stätten, aber mehr zahlen wollen sie nicht. Wir haben eine wachsende Anzahl von Projekten, die von der EU oder privaten Geldgebern finanziert wird.“

Maria Wiesinger würde „ihr“ Museum gern mehr in die Gegenwart holen, etwa mehr Materialien und Objekte zur aktuellen Situation der Textilproduktion integrieren, zum Statistiken zur Arbeitswelt oder auch Weiterentwicklungen der Webmaschinen: „Man muss das Erbe bewahren, das ist wichtig. Allerdings sollten wir auch zeigen, was daraus bis heute entstanden ist. Es ist ja nicht so, dass die Textilwirtschaft ganz aus dem Waldviertel verschwunden ist. Und wer weiß, vielleicht kommt sie eines Tages zurück.“


Christian Hanus

Univ.-Prof. Dipl. Arch. ETH Dr. Christian Hanus studierte Architektur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und ist auf die Bereiche Denkmalpflege, Solararchitektur und Baustoffkunde spezialisiert. Seit 2013 leitet der Dekan der Fakultät für Bildung, Kunst und Architektur der Donau-Universität Krems das dortige Department für Bauen und Umwelt.

 

Uwe Koch

Dr. Uwe Koch leitet die Geschäftsstelle des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz (DNK) in Berlin. Er war zuvor viele Jahre als Referatsleiter für Denkmalpflege, Denkmalschutz, Museen, Gedenkstätten und Erinnerungskultur im Brandenburger Kulturministerium tätig. Das DNK bildet als bundesweites fachliches und politisches Forum eine institutionelle Klammer für alle Akteure im Bereich des Denkmalschutzes und der Denkmalpflege in Deutschland.

 

Mechtild Rössler

Dr. Mechtild Rössler ist seit 2015 die Direktorin des Welterbezentrums der UNESCO in Paris, deren Vizedirektorin sie war. Die Geowissenschaftlerin ist bereits seit 1991 bei der UNESCO tätig und hat unter anderem auch das Konzept der „Kulturlandschaft“ mitentwickelt, das es ermöglicht, dass nicht nur Bauwerke oder Ensembles in die Weltkulturerbeliste aufgenommen werden können.

 

Maria Wiesinger

Maria Wiesinger hat eine Textilfachausbildung abgeschlossen und vermittelt das industrielle Kulturerbe Groß Siegharts an Besucher des „Lebendigen Textilmuseums“.

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