Beim lebenslangen Lernen sei es entscheidend, Lernende in den Mittelpunkt zu stellen. Sämtliche Aspekte seines oder ihres Lebens müssten in die Betrachtung miteinfließen, sagt Séamus Ó Tuama. Er ist Direktor der Erwachsenenbildung am University College Cork in Irland. In seinem Vortrag bei der vierten Veranstaltung von CACE („Crossroads in Academic Continuing Education“) ging es um die Reflexivität des Lernens. Dabei würden fünf sogenannte „Kapitalien“, über die jeder Mensch verfügt, eine Rolle spielen.
Als erstes erklärt Ó Tuama das sogenannte „Seed Capital“, das Startkapital. Für ihn meint es jene Fähigkeiten, die Lernende bereits mitbringen. Dabei sei zu beachten, dass nicht alle Menschen ein gleich hohes Level aufweisen. Es gäbe auch die „Zurückgelassenen“, und das in großer Zahl. Sie seien außen vor, hätten Schwierigkeiten teilzuhaben und oft auch keine Intention dazu. Auch auf diese Menschen müsse Augenmerk gelegt werden, sagt Ó Tuama.
Sehr oft konzentriere man sich auf Jüngere, wenn es um Lernangebote geht. Das sei auch richtig und wichtig so. Nichtsdestotrotz gelte es, alle Menschen im Blick zu haben – auch ältere. Diese, erinnert Ó Tuama, hätten eine wichtige Vorbildwirkung. Bildung werde bekanntlich immer noch „vererbt“. So zeige sich, dass junge Menschen, deren Eltern einen Hochschulabschluss haben, drei Mal so oft an einer Universität studieren wie jene, deren Eltern lediglich einen Pflichtschulabschluss haben. Ebenso bilde sich später eher weiter, wer eine gute Ausbildung erfahren hat. Die Herausforderung sei, „niemanden zurückzulassen“, neben den „High Achievers“ auch ausgeschlossenen Gruppen Angebote zu machen.
Das zweite sei das „Identity Capital“, was übersetzt so viel bedeutet wie Identitätskapital. Es setze sich zusammen aus dem Selbstwertgefühl eines Menschen und seiner Bedeutung innerhalb einer Gemeinschaft. Dieses Kapital könne durch Weiterbildung gestärkt werden, sagt Ó Tuama und appelliert: „Wir müssen immer daran denken, dass sich durch Lernprozesse die Identität von Menschen verändert. Das ist eines der ganz zentralen Dinge, für die wir verantwortlich sind: Wir helfen Menschen, eine neue Identität auszubilden. Und ihre neue Identität ermöglicht es ihnen, an der Gesellschaft teilzuhaben. In einer Art und Weise, wie sie es sonst nicht könnten.“ Beim Identitätskapital gehe es nicht zuletzt auch um Autonomie. Wichtig sei, Lernende darin zu bestärken, sich selbst ins Zentrum ihrer Lebensplanung zu stellen.
Das „Cultural Capital“, das kulturelle Kapital, von Lernenden müsse stärker gesehen und wertgeschätzt werden – egal wo jemand herkommt. Für jene, die nicht der Mehrheitskultur angehören, sei es bedeutsam, das Gefühl zu haben, dass sie akzeptiert werden und dazugehören, und zwar auch im Lernkontext. Kenntnisse der Landessprache seien zum Lernen wichtig, dennoch bräuchten Menschen auch die Möglichkeit, mit der eigenen Kultur in Verbindung zu bleiben. Man dürfe sie nicht ihrer Kultur berauben, vielmehr gelte es, die Vorteile diverser Gesellschaften zu „feiern“. Ó Tuama bringt als Vergleich das Ökosystem, bei dem Diversität die Robustheit fördert. Gleiches träfe auch auf die Gesellschaft zu. Anstatt ihnen ein fremdes kulturelles Kapital aufzuzwingen, solle auf jenes ausgebaut werden, das Menschen bereits mitbringen.
Dann kam der Vortragende zum „Social Capital“, dem sozialen Kapital. Netzwerke, geteilte soziale Normen und Werte seien sehr wichtig für die Gesellschaft und ihren Zusammenhalt. Ausbildung und Lernangebote wiederum seien nötig, damit Menschen soziales Kapital erwerben. Ausbildner würden daher eine zentrale Rolle einnehmen. „Wir helfen Menschen, soziales Kapital zu erwerben, das ihnen für den Rest ihres Lebens nützlich sein wird.“ Insbesondere gelte das für Randgruppen, weil diese kaum Verbindungen über ihre Community hinaus hätten. Bildung könne ihnen dazu verhelfen.
Schlussendlich geht Ó Tuama auch noch auf das „Human Capital“, das Humankapital, ein. Es beziehe sich auf den Schatz an Wissen, Fähigkeiten, Kompetenzen und Eigenschaften, die jemand hat. Dieses Kapital, wie übrigens die anderen Kapitalien auch, sei „eine Form von Vermögen“, vergleichbar mit Geld. Wie Geld könne man es beispielsweise ansparen oder in etwas investieren.
Was Humankapital angeht, müsse folgendes im Kopf behalten werden: Fähigkeiten, die im Rahmen formeller Bildung erworben werden, müssten aufgefrischt werden, sonst gingen sie verloren. Informelle Fähigkeiten wiederum müssten stärker anerkannt werden, sagt Ó Tuama. Denn auch im alltäglichen Leben erwerbe man wichtiges Wissen und wichtige Kompetenzen. Ein gutes Beispiel seien Mütter oder Väter, die durch das Leben mit Kind einiges dazulernen.
Wie kann man nun den Erwerb dieser Kapitalien fördern? Darauf geht Séamus Ó Tuama am Ende seines Vortrages ein. Zunächst müssten Lernende ins Zentrum aller Bemühungen gestellt werden, „was eine große Herausforderung ist“. Außerdem gelte es, responsiv zu sein, flexibel und die Autonomie der Lernenden zu respektieren. „Lassen Sie uns der Versuchung widerstehen, zu glauben, dass wir besser wissen, als der Lernende selbst, was er lernen muss.“ Nötig sei es zudem, relevante und zeitgemäße Angebote zu machen. Nicht zu vergessen sei, dass der Erwerb von Lernkapital nicht nur Individuen selbst beeinflusst. Sondern auch ihr ganzes Umfeld, ihre Familien, ihre Kolleginnen und Kollegen, ihre Communities, „und nicht zuletzt auch die Gesellschaft als Ganzes“.