Stärkere Kooperation, Steigerung des Forschungspotenzials, fächerübergreifende Vernetzung: mit diesen Zielen schlossen sich 2016 sechs niederösterreichische Wissenschaftsinstitutionen im Forschungsnetzwerk Interdisziplinäre Regionalstudien first zusammen. Nach Abschluss der ersten dreijährigen Arbeitsphase zog das in zwei Forschungsverbünden organisierte, vom niederösterreichischen FTI-Programm geförderte Netzwerk Bilanz.
Seit drei Jahren erstellen niederösterreichische Wissenschaftsinstitutionen in den beiden Forschungsverbünden „Migration“ sowie „Ernährung und soziale Ungleichheit“ epochenübergreifende Längsschnittstudien. Seit dem Zusammenschluss von geistes-, sozial- und kulturwissenschaftlichen Instituten mit Sitz in Niederösterreich zum Forschungsnetzwerk Interdisziplinäre Regionalstudien, kurz first, im Jahr 2016 konnten mittlerweile die ersten grundlegenden Studien im Auftrag des Landes abgeschlossen werden. Darüber hinaus wurden bereits weitere Forschungsaufträge gemeinsam erfolgreich eingeworben, zahlreiche Veranstaltungen abgehalten und Vermittlungsmaßnahmen gesetzt. Ergebnis sind rund 40 wissenschaftliche Publikationen, darunter die Sonderbände (peer reviewed) „Ernährungsgeschichte“ und „Migrationswege“[1], 75 wissenschaftliche Vorträge sowie drei Tagungen und fünf Workshops, die von first abgehalten wurden. An die breite Öffentlichkeit vermittelt werden die Ergebnisse durch die von Studierenden der Donau-Universität Krems entwickelte und seit September online verfügbare Science-to-Public-Plattform https://history.first-research.ac.at.
„Die Herausforderung an Kommunikation, voneinander Lernen und gegenseitiger Hilfestellung führte zu einer Erfolgsbilanz von Forschungsergebnissen, Publikationen und nicht zuletzt von bewilligten Forschungsanträgen. Eine Erfolgsgeschichte, die mit Engagement und Begeisterung aller Beteiligten fortgesetzt wird“, beurteilt Martha Keil, first-Sprecherin, die erste Arbeitsphase. „Wir alle profitieren enorm von der Horizonterweiterung, die durch die wechselseitigen Befruchtungen in methodischer und inhaltlicher Hinsicht gegeben sind und möchten diesen Mehrwert auch in der Wissenschaftsvermittlung sichtbar machen“, ergänzt der zweite first-Sprecher Thomas Kühtreiber.
Niederösterreichs FTI-Programm als Rahmen
Ziel der Vernetzung war eine stärkere Kooperation, die Steigerung des Forschungspotenzials, fächergreifende Vernetzung und nicht zuletzt eine bessere Sichtbarkeit der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung in Niederösterreich. Den Rahmen für diese Neuaufstellung bildet das Forschungs-, Technologie- und Innovationsstrategieprogramm (FTI) des Landes Niederösterreich. Das Netzwerkmanagement wurde von der Donau-Universität Krems übernommen, die dem Netzwerk ab Herbst auch als Partner beitritt.
Forschungsverbund „Migration“: Wanderungsgeschehen in Niederösterreich
Migration als Konstante menschlicher Geschichte, mit dieser Hypothese analysierte der first-Forschungsverbund „Migration“ das Wanderungsgeschehen in Niederösterreich. Die Ursachen und Bedingungen für Ortswechsel reichen dabei von optimaler Chancennutzung bin hin zu Gewalt und Vertreibung. Wanderungen verbinden Ausgangs-, Transit- und Zielräume auf vielfältige Weise.
„Die große Spannbreite der Projekte – von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart – erwies sich dabei als durchaus herausfordernd“, so Forschungsverbund-Leiterin Anne Unterwurzacher. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit habe es jedoch ermöglicht, die in der Forschung meist getrennt bearbeiteten Themenfelder Flucht und Arbeitsmigration gemeinsam zu behandeln. Zentrales Ergebnis der Forschungen: Flucht und Arbeitsmigration lassen sich weit weniger voneinander abgrenzen, als dies heute die öffentliche Debatte suggeriert.
Rapide anwachsendes Problem Ernährungsarmut
Der first-Forschungsverbund „Ernährung und soziale Ungleichheit“ arbeitet die Einbettung des scheinbar ahistorischen Themas der Ernährung in spezifische gesellschaftliche und kulturelle Umstände sowie Strukturen heraus. Diese entscheiden darüber mit, wer gesicherten und sozial akzeptierten Zugang zu ausreichender Ernährung hat. Bisher zeigen die Forschungen: Das gesellschaftlich weitgehend negierte und in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung kaum beachtete Thema Ernährungsarmut ist auch in Europa (wieder) ein rapide anwachsendes Problem. Sie geht mit sozialer Ausgrenzung und beeinträchtigter Erwerbsfähigkeit einher und ist mit massiven Gesundheitsrisiken verbunden.
Forschungsverbund-Leiter Ulrich Schwarz-Gräber: „Das für mich wichtigste Ergebnis auf allgemeiner Ebene war, wie gut sich eine ernährungsgeschichtliche Perspektive dazu eignet, langfristige historische Vergleiche durchzuführen“. Erprobt wurde dieser Zugang in der Entwicklung des Konzepts für Nahrungsversorgung in Notlagen im historischen Vergleich im 17. und 20. Jahrhundert. Damit konnten die ForscherInnen nicht nur viel über Ernährungssicherheit in den beiden Perioden, sondern auch allgemein über die Veränderung der Gesellschaft herausfinden. Das Spektrum der ersten Forschungen reichte von der Organisation der Armenfürsorge in spätmittelalterlichen Bürgerspitälern bis zur Analyse von Erfahrungsberichten über die Inanspruchnahme von kostenlosen Lebensmittelangeboten in sozialen Einrichtungen im gegenwärtigen Niederösterreich.
Zweite Arbeitsphase gestartet
Dank erfolgreicher Drittmitteleinwerbungen setzen beide Forschungsverbünde ihre Arbeiten fort, drei Forschungsprojekte haben ihre Arbeit im Verlauf des Jahres 2019 bereits aufgenommen. Darüber hinaus entwickelten WissenschafterInnen des Forschungsnetzwerks den Lehrgang „Geschichte und Kultur“ für die Science Academy in St. Pölten, ein außerschulisches Vermittlungsprogramm.
Bis Jahresende stehen noch drei international besetzte Tagungen des Netzwerkes am Programm: Das Symposium „Bewegte Landbilder“ präsentiert vom 30.-31.10.2019 erste Ergebnisse der digitalen Erschließung des Amateurfilmbestandes „Niederösterreich privat“. Die Tagung „Unsichtbare Lager in Niederösterreich“ vom 20.-21.11.2019 diskutiert unter Beteiligung der Donau-Universität Krems und des Zeithistorischen Zentrums Melk, wie solche Erinnerungsorte beforscht, dokumentiert und zugänglich gemacht werden können. Vom 5.-6.12.2019 findet eine Tagung zur historisch orientierten Biografiearbeit, „Geschichte, Erinnern, Erzählen“, statt.
Sechs Institutionen formen das Netzwerk first
Im Forschungsnetzwerk Interdisziplinäre Regionalstudien (first) arbeiten folgende sechs wissenschaftliche Einrichtungen zusammen:
- Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung der FH St. Pölten
- Institut für Geschichte des ländlichen Raumes
- Institut für jüdische Geschichte Österreichs
- Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit der Universität Salzburg
- Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung/Außenstelle Raabs
- Zentrum für Migrationsforschung
- Department für Kunst- und Kulturwissenschaften, Donau-Universität Krems
[1] Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG), 2/2019 & 1/2020