20.06.2024

In ihrer Antrittsvorlesung am 7. Mai 2024 ging Julia Mourão Permoser auf die Ausarbeitung einer politischen Soziologie der Migrationsethik ein, einem zentralen Aspekt ihrer Professur. Mit 1. September 2023 wurde sie als Universitäts­professorin nach § 99 UG 2002 auf fünf Jahre befristet an die Universität für Weiterbildung Krems berufen. Hier forscht und lehrt sie am Department für Migration und Globalisierung der Fakultät für Wirtschaft und Globalisierung.

In den Begrüßungsworten zur Antrittsvorlesung betonte Rektor Mag. Friedrich Faulhammer die wichtige Rolle der Professur für die Profilbildung des Departments für Migration und Globalisierung sowie für die allgemeine Entwicklung der Universität. Der Dekan der Fakultät für Wirtschaft und Globalisierung, Univ.-Prof. Dr. Gerald Steiner, ging in seiner Vorstellung nicht nur auf die fachliche Expertise von Univ.-Prof.in Dr.in Julia Mourão Permoser, MA BS ein, sondern unterstrich auch ihre internationale Vernetzung im Fachbereich.

Große gesellschaftliche Herausforderungen

Bei ihrer intensiven Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Migration stellte Mourão Permoser fest, dass sich die drängendsten Herausforderungen bezüglich Inklusion und Exklusion, sozialer Gerechtigkeit und den Umgang mit Staatsbürger­schaften um diesen Bereich drehten. Die liberalen Demokratien des globalen Westens meinten sich Anfang des 21. Jahrhunderts in der erfreulichen Lage, die klassischen Diskriminierungsbereiche wie Rasse, Religion, Nationalität etc. überwunden zu haben, grundlegende Fragen schienen in Europa geklärt. Die Migrationsproblematik machte deutlich, dass dem nicht so war.

Den Kern des Konflikts verstehen

Fast alle wichtigen Themen der Migrationspolitik seien hochpolarisierend geworden, etwa die Frage, was „erfolgreiche Integration“ von Zuwander_innen ausmache – wirtschaftliche Selbstständigkeit oder kulturelle Assimilation? Wie definiert sich die eigene Kultur und inwieweit kann eine pluralistische Gesellschaft Anpassung von Menschen einfordern? In ihrer Vorlesung erklärte Julia Mourão Permoser die politische Soziologie der Migrationsethik als einen Forschungsrahmen, der gesellschaftliche Konzepte zur Migration in den Mittelpunkt der Analyse stellt. Dabei sollen die Grundlagen der Konflikte sowie deren politische Auswirkungen auf die Demokratie untersucht werden.

Lösung von Wertekonflikten

Mourão Permoser geht davon aus, dass der Umgang mit ethischer Normen den Kern vieler Konflikte im Zusammenhang mit Migration bildet. Wenn zwei gleichwertige Prinzipien miteinander in Konflikt stehen und nicht ohne weiteres miteinander in Einklang gebracht werden können, spricht man von ethischen Dilemmata. Solche Situationen führten häufig zu einer „Moralpolitik“, wie sie die Politikwissenschaft bezeichnet. Werden politische Fragen in moralischen Begriffen formuliert, bleibe zwischen „richtig“ und „falsch“ kein Raum für Kompromisse.

Analyse der Such- und Rettungs-Bewegung

Anhand einer Fallstudie aus dem interdisziplinären Projekt „Migration as Morality Politics: The Contentious Politics of Sanctuary in Europe and the United States" illustrierte Mourão Permoser die Anwendung ihres Forschungszugangs. Das Projekt verbindet politische Theorie mit empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung. Hier untersucht die Migrationsexpertin drei Arten von Zufluchtsorten: Kirchenasyl, Zufluchtsstädte und von der Zivilgesellschaft geleitete Such- und Rettungsaktionen.

Die Such- und Rettungs-Bewegung entwickelte sich als Reaktion auf den Rückzug staatlicher Rettungskräfte aus dem Mittelmeerraum im Jahr 2015. Es handle sich um eine Bewegung, die zum Gegenstand politischer Anfeindung und wertorientierter moralischer Polarisierung geworden ist. Für die einen sind diese Aktivist_innen die letzte Bastion der Solidarität, für die anderen brechen sie Gesetze, unterstützen das Geschäftsmodell der Schleuser_innen und erzeugen einen „Pull-Faktor“.

Externalisierung von Grenzen

In diesem Kontext der Migration ist das Phänomen der Externalisierung von Grenzen beobachtbar. Dabei werden Räume von Staaten geschaffen, in denen sie frei von Rechenschaftspflichten gegenüber Gerichten, internationalem und nationalem Recht und der breiten Öffentlichkeit handeln können. Das wohl bekannteste Beispiel von Externalisierung ist die Guantánamo Bay Naval Base, ein Marinestützpunkt der US Navy in Kuba. Im Mittelmeerraum geschehe dies durch die Einbeziehung von Drittländern, um die europäischen Grenzkontrollmaßnahmen durchzusetzen. Dies ermögliche es europäischen Staaten, sich der Zuständigkeit für potenzielle Asylanträge zu entziehen und der Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen zu entgehen.

Perspektive der Retter_innen

Auf der einen Seite besteht für Retter_innen das Risiko, indirekt ein kriminelles System der Ausbeutung von Migrant_innen durch Schleuser_innen zu unterstützen. Auf der anderen Seite sind Retter_innen oft noch mehr über eine mögliche Mitwirkung bei missbräuchlichen Praktiken und ungerechten Politiken europäischer Staaten besorgt. Wenn sie staatliche Behörden etwa um den Standort von Booten in Seenot bitten, kann damit die libysche Küstenwache alarmiert werden, die das Boot abfängt und die Menschen gewaltsam nach Libyen zurückbringt. Geben NGOs Informationen über die von ihnen geretteten Menschen weiter, besteht die Gefahr, dass diese Informationen die Chancen der Geretteten auf Asyl schmälern.

NGOs nutzen extraterritoriale Räume

Auf diese Gefahren reagieren NGOs mit einer spiegelbildlichen Anwendung des Prinzips der Externalisierung. Die NGOs versuchen zu vermeiden, dass sie in irgendeine Form der Einwanderungs- oder Strafverfolgung verwickelt werden. Ihr Rettungsschiff fungiert als schwimmendes Schutzzentrum, d.h. als ein Raum, der zwar nicht rechtlich, aber praktisch in ähnlicher Weise wie ein extraterritorialer Raum funktioniert, in dem nur die Menschenrechte gelten. Man kann von einer Strategie der Gegenexternalisierung sprechen.

Relevanz der Forschungsagenda

Für Mourão Permoser ist die Idee einer „politischen Soziologie der Migrationsethik“ in vierfacher Natur relevant: Sie stelle einen Brückenschlag zwischen empirischer Forschung und politischer Theorie dar, trage zu einem besseren Verständnis sozialer und politischer Konflikte bei, schaffe Wissen, das für Politik und Aktivismus relevant ist und dekonstruiere allzu vereinfachende Narrative. Damit sind Narrative gemeint, die versuchen, die Realität ethischer Dilemmata zu negieren. Eine Forschungsagenda, die die normativen Konflikte hinter scheinbar einfachen Fragen aufdeckt, könne helfen, solchen polarisierenden Diskursen entgegenzuwirken und so zu einem verbesserten Prozess der demokratischen Entscheidungsfindung beizutragen.

Hier spielt auch Wissenschaftskommunikation eine wichtige Rolle: Das von Mourão Permoser mitgegründete Projekt „DILEMMAS – The ethics of migration policy dilemmas“ ist kein Forschungsprojekt im klassischen Sinn. Vielmehr geht es darum, einen Dialog zwischen Wissenschafter_innen sowie zwischen Wissenschafter_innen und Interessenvertreter_innen, einschließlich politischer Entscheidungsträger_innen, Nichtregierungsorganisationen, internationalen Organisationen und anderen Akteur_innen in diesem Bereich, herzustellen.

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