29.09.2023

M. Czaika: Herzlich willkommen! Wir freuen uns außerordentlich, dass Du zum 1. September die neu geschaffene Professur für Migration und Integration am Department für Migration und Globalisierung übernommen hast. Deine Interessenschwerpunkte fügen sich hervorragend in die laufende Forschungstätigkeit unseres Departments ein.

J. Mourão Permoser: Ich freue mich auch sehr, Teil von diesem starken Team zu werden. Auch weil es ein interdisziplinäres Department ist und damit meinem eigenen Ansatz zur Migrationsforschung entspricht. Man kann ein Thema wie Migration nicht nur aus einem Blickwinkel verstehen, weil das Thema an sich so komplex ist. Nur wenn man rechtliche, historische, politische und soziale Aspekte zusammen denkt, kann man das Phänomen begreifen. Auch ist es wichtig, die Stärken von normativen und empirisch orientierten Forschungsansätzen zusammenzuführen. 

Inter- bzw. Transdisziplinarität kann aber nur dann in volles Ausmaß realisiert werden, wenn die entsprechende institutionelle Verankerung dafür da ist. Zwar können (und sollten)  Einzelpersonen interdisziplinär forschen und aus verschiedenen Disziplinen Theorien und Methoden heranziehen, aber das ist oft nicht genug. Um tatsächlich interdisziplinär an einem so komplexen Thema wie Migration forschen zu können, braucht man Departments wie dieses hier in Krems, das Expert*innen aus unterschiedlichen Bereichen zusammen bringt und dadurch Zusammenarbeit über disziplinäre Grenzen hinweg fördert. 

Julia Mourão Permoser bei einer Diskussion zum Thema Irreguläre Migration
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Franziska Klauser/ UWK


Könntest Du uns vielleicht einen Überblick über Deine Schwerpunkte geben, insbesondere über das von Dir mitbegründete Forschungsprogramm „Ethics of Migration Policy Dilemmas“?

Ich schaue mir das Phänomen der Migration und der Integration derzeit aus zwei Perspektiven an, die sich durchaus ergänzen. Bei der einen geht es darum, politische und gesellschaftliche Konflikte über Migration und Integration als eine Form von Moralpolitik zu erforschen. Mich interessiert, welche Wertekonflikte hier zum Ausdruck gebracht werden und wie Politik im Kontext solcher Auseinandersetzungen entsteht. Insbesondere interessiere ich mich für  zivilgesellschaftliche Akteure, wie zum Beispiel NGOs, Bürgerbewegungen oder religiöse Einrichtungen, und für Formen des Politikmachens abseits der klassischen elektoralen Politik (siehe hierzu auch ein laufendes Forschungsprojekt mit dem Titel "Migration as Morality Politics").

Der zweite Forschungsschwerpunkt liegt auf ethischen Dilemmas im Kontext der Regulierung von Wanderungsbewegungen oder des Integrationsprozesses. Menschen, die hier aktiv involviert sind – sei es als Policymaker oder als Vertreterin einer zivilgesellschaftlichen Organisation – sind immer wieder in der Situation, sich zwischen Handlungsoptionen entscheiden zu müssen, von denen jede aus unterschiedlichen Gründen problematisch ist. Es geht mir also um die Frage: Mit welchen normativen Dilemmas sind die Menschen in diesem Feld konfrontiert? Wie gehen sie damit um? Und welche Analysen und Lösungsansätze können wir als Forscher*innen anbieten, die das Dilemma, wenn schon nicht komplett auflösen so doch zumindest etwas leichter bewältigbar machen? Es gibt hier großen Forschungsbedarf. Bisher wurden in der Migrationsforschung nur wenige Initiativen gestartet, die normativ orientierte und empirische bzw. anwendungsbezogene Ansätze zusammenführen.

Ich kann für moralische Dilemmas in diesem Bereich ein Beispiel aus meiner Forschung zur Seenotrettung von geflüchteten Menschen geben. Viele Menschen versuchen über das Mittelmeer, vor allem von den nördlichen Küsten Afrikas aus, die südlichen Grenzen Europas zu erreichen und geraten in Seenot. In meiner Forschung habe ich beleuchtet, mit welchen Problemen die Seenotretter*innen, die zivilgesellschaftlichen NGOs, die im Mittelmeer aktiv sind, konfrontiert sind und wie sie damit umgehen. Dabei wurde deutlich, dass sie vor zwei Dilemmas stehen: Das eine kennen wir aus der politischen und medialen Debatte. Seenotretter befürchten, in bestimmten Situationen ungewollt durch ihre Rettungsfahrten einen Beitrag zum Business-Modell der Schlepper zu leisten, die ein Geschäft damit machen, Menschen in billigen, seeuntauglichen Booten mit zu wenig Treibstoff über das Mittelmeer zu bringen. Viele Seenotretter wollen diese Schleppergeschäfte nicht fördern– sehen es aber als eine ethische Pflicht an, Menschen vor dem Sterben zu bewahren. Tun sie das nicht, verstoßen sie gegen ihre Prinzipien. Tun sie das schon, handeln sie eventuell auch gegen ihre Prinzipien, wenn Schlepper von ihren Handlungen indirekt profitieren. 

Ein weiteres Dilemma, mit dem sie konfrontiert sind, betrifft die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden. Um vor Ort tätig sein zu können, müssen diverse Regelungen befolgt werden, die die EU-Staaten vorgeben. Das heißt, wenn sie als Retter tätig sein wollen, müssen sie kooperieren: Das kann auch bedeuten, da und dort ein Auge zuzumachen, wenn etwa eine Küstenwache eines europäischen Landes inhuman mit Geflüchteten umgeht. Oder wenn europäische Staaten, statt die Menschen zu retten, die libysche Küstenwache informieren, um keine Asylanträge aufnehmen zu müssen. Libyen ist kein Unterzeichnerstaat der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Seenotretter sind also verpflichtet, um retten zu können, jeden Fall von Seenot an die Küstenwache des jeweiligen europäischen Staats zu melden, im Wissen, dass diese Nachricht sofort weitergegeben wird an die libysche Küstenwache, die die Menschen zurückbringen wird, in eine Situation, in der mitunter Folter oder Lebensgefahr drohen. Sie stehen also vor der Frage: Entweder akzeptiere ich, an etwas beteiligt zu sein, das ich zutiefst ablehne (Pushbacks) oder ich kooperiere nicht und kann dann nicht mehr in der Seenotrettung aktiv sein. 

Das sind Beispiele für ethische Dilemmas, die die Sozialforschung aufdecken und analysieren kann – um generell darüber zu informieren, aber auch um eine bessere Entscheidungsgrundlage für das Abwägen von Handlungsoptionen zu schaffen. Darum geht es uns in unserem Programm „Ethics of Migration Policy Dilemmas“, das ich gemeinsam mit Rainer Bauböck (Leiter der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der ÖAW), Martin Ruhs (EUI) und Lukas Schmid (Zentrum für Normative Orders in Frankfurt) koordiniere. Wir laden Wissenschaftler*innen ein, über bestimmte Dilemmas im Migrations- und Fluchtbereich und den Umgang damit zu schreiben. Daraus entstehen dann Spezialausgaben sowie langfristige Artikelserien in wichtigen Journals wie z.B. „Comparative Migration Studies“. Für jeden dieser Artikel wird dann auch ein virtuelles Symposion auf der Dilemma-Website organisiert, in dem Sinn, dass vier bis sechs Kommentare verfasst werden durch Wissenschaftler*innen aus der Politischen Philosophie, aus der empirischen Forschung sowie aus dem Politik-Bereich oder dem betreffenden Feld (in Fall meines Papers wurde einer der Kommentare von einem Mitglied der NGO „Sea Watch“ verfasst). Die Autor*innen nehmen dann gesammelt zu den Beiträgen Stellung (alle Beiträge sind kostenlos auf der Projektwebsite abrufbar). Unser Ziel ist es, damit zum einen innerhalb der Migrationsforschung den interdisziplinären Dialog zwischen normativ orientierten und den primär empirisch arbeitenden Wissenschaftler*innen zu fördern, und zum anderen den Austausch zwischen Policymakern und anderen „Praktiker*innen“ sowie der Wissenschaft zu verbessern.

Du hast selbst einen faszinierenden Weg zurückgelegt, der sowohl geografisch als auch in Bezug auf Deine akademischen Projekte vielfältig war. Wie kam es dazu, dass Du Dich für die Forschung im Bereich Migration entschieden hast? 

Ich bin in Brasilien aufgewachsen und dann zum Studium der Internationalen Beziehungen in die USA gegangen, mit dem Ziel danach zurückzukehren, um im Außenministerium zu arbeiten. Ich habe meine Abschlussarbeit über partizipative Budgetgestaltung in Brasilien verfasst – schon seit diesen Anfängen hat mich das Thema der gesellschaftlichen Inklusion interessiert. Das kommt vielleicht auch daher, dass Brasilien ein tief gespaltenes Land ist, zum einen wegen der enormen Einkommenskluft zwischen der Elite und der breiten einkommensschwachen Bevölkerung, die mit sehr wenig für das tägliche Leben auskommen muss. Zum anderen ist die Ungleichheit im heutigen Brasilien nicht zu trennen vom kolonialen Erbe in Bezug auf die hierhin verschleppten und versklavten Afrikanerinnen und Afrikaner und deren Nachkommen. Und sie steht natürlich auch in Zusammenhang mit dem, was der indigenen Bevölkerung Brasiliens angetan wurde. Das heißt, in Brasilien ist die Ungleichheit vor allem eine ökonomische Ungleichheit, aber in jeder Hinsicht bedingt und verbunden mit strukturellem Rassismus. Partizipatorische Demokratie, etwa im Bereich der Budgetentwicklung, stellt einen sinnvollen Ansatz dar, um die gesellschaftliche Inklusion von unterrepräsentierten Gruppen zu fördern. Auch in Europa haben mich demokratiepolitische Fragen nicht losgelassen – ab den 2000er Jahren habe ich vor allem über das Politikmachen auf supranationaler Ebene und das damals stark diskutierte „Demokratiedefizit“ der EU geforscht.

Im Rahmen meiner Doktorarbeit habe ich mich dann verstärkt mit Migration beschäftigt. Ich habe festgestellt, dass sich die Prozesse der gesellschaftlichen In- und Exklusion in Europa vor allem im Kontext von Migration abspielen. Die Frage der Migration ist für mich eine Möglichkeit, die Herausforderungen an den Pluralismus in heterogenen Gesellschaften zu studieren  – das beinhaltet auch die mit kultureller und ethnischer Diversität verbundenen Ein- und Ausschlüsse in sozialer, ökonomischer wie auch politischer Hinsicht, die die Ungleichheit in Ländern wie Österreich prägen. Wie fördert man gesellschaftliche Inklusion und Gerechtigkeit über Trennlinien hinweg – diese Frage treibt mich nach wie vor an. Und seitdem ich in Europa lebe, beschäftige ich mich mit ihr aus der Perspektive der Migrationsforschung, weil das eines der Felder ist, wo sie am brisantesten ist. Und die Tatsache, dass ich selbst auch Migrantin bin, hat sicher auch zu meinem Interesse an diesem Forschungsfeld beigetragen.


Biographisches: 
Seit dem 1. September 2023 ist Julia Mourão Permoser als Professorin für Migration und Integration am Department für Migration und Globalisierung der Universität für Weiterbildung Krems tätig. Davor war sie Gastprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien und Senior Research Fellow am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, wo sie das vom FWF finanziertes Projekt „Migration als Moralpolitik“ leitete, welches dank zusätzliche Drittmittelförderungen – nun im Rahmen der UWK – fortgesetzt wird. Parallel zu diesem Projekt leitet sie gemeinsam mit Kollegen das Forschungsprojekt „The Ethics of Migration Policy Dilemmas“, das am European University Institute in Florenz angesiedelt ist. Sie verfügt über einen Bachelor-Abschluss von der Georgetown University, einen Master-Abschluss von der Diplomatischen Akademie Wien und einen Doktortitel in Politikwissenschaft von der Universität Wien. Zu ihren neuesten Publikationen zählt das Special Issue „Spheres of Sanctuary“, das gerade beim hochrangigen Journal of Ethnic and Migration Studies erschienen ist. 

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