08.05.2024

… ODER BRAUCHEN WIR NUR EINE ANDERE ERZÄHLUNG?

Die Demokratie ist in Gefahr. Betrachtet man die Entwicklung der Demokratie in Europa, drängt sich dieser Schluss geradezu auf (siehe etwa für das Beispiel Österreichs Zandonella 2022). Aber ist sie das wirklich? Oder erleben wir aktuell „nur“ eine Transformation, eine notwendige Weiterentwicklung, unserer demokratischen Systeme? Diese Frage möchte ich in diesem Beitrag beantworten. Mein Ziel ist es, ein wenig Distanz zu lähmenden Schreckensszenarien herzustellen, den Blick zu klären – und Hoffnung zu erzeugen. Nicht naiv und mit rosa Brille, sondern lösungsfokussiert und vorwärtsgewandt. Gerade weil die Demokratie ein hohes Gut ist. 

 

Die populäre Erzählung des Westens

Europa gilt gemeinhin als Wiege der Demokratie, Westeuropa als das Zentrum der modernen Demokratie. Demokratiegefährdende Entwicklungen werden meist in Osteuropa bzw. außereuropäischen Staaten verortet. Im Westen sei alles gut, so die verbreitete Meinung. Weit gefehlt.

Die Annahme des “noble West“ vs. dem „dirty rest“ (Börzel 2016: 148) ist nicht haltbar. Denn in der Beobachtung der realpolitischen Praxis zeigt sich, dass demokratische Prinzipien rasch nachgereiht werden, wenn es um eigene bzw. geostrategische Interessen geht. Anders ist es nicht zu erklären, dass westliche Länder in autoritäre bzw. diktatorische Staaten investieren oder von ihnen Ressourcen beziehen. Als ein sehr aktuelles Beispiel dient etwa der Gasliefervertrag Deutschlands mit Katar (SZ 2022). Mehr noch, westliche Staaten fördern selbst die Entwicklung und Stärkung demokratischer Strukturen wenig systematisch bis unzureichend:

„Not only did they [der “demokratische Westen”] fail to develop a coherent approach on how to support the Arab Spring, they were also silent on the military coup against a democratically elected government in Egypt, tolerated the Saudi-led military intervention of the Gulf Cooperation Council that assisted Bahraini security forces in detaining thousands of protesters, and stood by the massive human rights violations committed by the Assad regime in Syria.” (Börzel 2016: 148)

 

Demokratie und Democratic Backsliding

„Democratic Backsliding“ kann als „schrittweise Demontage demokratischer Institutionen“ (Schmotz 2020: 365) verstanden werden. Damit gemeint sind Staatsstreiche, Putsche der Exekutive und offenkundiger Wahlbetrug genauso wie die – seit dem Kalten Krieg deutlich häufiger zu beobachtenden – Androhungen und Putschversprechen, strategische Wahlmanipulationen oder die sukzessive Aushöhlung demokratischer Institutionen (vgl. auch Bermeo 2016). Ziemlich bedrohliche Szenarien, zumindest für eingefleischte Demokrat_innen.

Vielleicht ist gerade deswegen eine differenzierte Sichtweise auf das Phänomen sinnvoll: Die wesentliche Frage lautet, ab wann man von Democratic Backsliding spricht – und, vor allem, wie man darauf antworten kann. Gleich vorab: Demokratie ist nichts Statisches, sondern eine Praxis, die Prozesse der Ausverhandlung von Positionen beschreibt und durch Verfassung bzw. Recht gerahmt ist. „Democracy is a practice not a utopian ideal, and it will always fall short of achieving all that people might want it to accomplish.” (Evans/Stoker 2022: 4) D.h., normativ-wissenschaftliche Konzepte sind zu eng gefasst. Die „ideale Demokratie“ gibt es nicht – bzw. eben nur in der Theorie. Diversität, Vielfalt, verschiedene Positionen darüber, was Demokratie ist, wie sie auszusehen hat, wie sie gestaltet bzw. weiterentwickelt werden soll – und auch der Streit darüber – gehören zur Demokratie dazu. Wir dürfen nicht vom Konsens ausgehen, sondern müssen Kontroverse und diametrale Standpunkte akzeptieren, auch aushalten, und darauf aufbauend eine Vision für Europa entwickeln (vgl. dazu Mouffe 2012). Dies bedeutet, dass Tendenzen demokratischen Rückschritts und selbst Versuche, Demokratie abzubauen, uns nicht in Schockstarre verfallen lassen dürfen. Nicht jeder Anlassfall demokratischen Rückschritts muss zur Erosion des demokratischen Systems führen. Zumindest nicht, wenn die rechtstaatlichen Institutionen ihre Aufgabe erledigen und die verfassungsrechtlichen Prinzipien liberaler Demokratien gewährleisten können. Ist dies der Fall, dann können Anlassfälle von Democratic Backsliding gar zu progressiven Entwicklungsschüben der Demokratisierung führen. Mehr noch: Democratic Backsliding ist, in diesem Sinne, nicht zwingend ein Indiz für eine gefährdete Demokratie, sondern als demokratieimmanentes Phänomen zu verstehen. Eine gewagte Hypothese? Vielleicht – aber was ist die Alternative? Die „ideale Demokratie“ und „die europäische Idee“ zu Grabe tragen? Auch angesichts des Aufschwungs populistischer und rechtsnationaler Bewegungen werden wir Wege finden müssen, unsere Institutionen noch deutlicher gegen Angriffe verteidigen zu können.

 

Was verstehen wir eigentlich unter Demokratie?

Parlamente gehören zu den wichtigsten Institutionen in repräsentativen Demokratien. Sie sind die eigentliche Vertretung des Volkes und haben maßgeblichen Einfluss auf die Gesetzgebung. Parlamentsdirektionen sind für den Betrieb des Parlaments verantwortlich. Sie sind wichtige und verlässliche Informationsquellen für Wissen über Demokratie. Wollen wir wissen, was Demokratie eigentlich ist, sollte die Parlamentsdirektion eine gute Adresse sein.

Die österreichische Parlamentsdirektion nennt folgende Merkmale, die für das Funktionieren von (liberalen) Demokratien voraussetzend sind (Demokratiewebstatt 2023):

  • Gleichheit: Alle Bürger_innen besitzen die gleichen Rechte und Pflichten, unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Besitz.
  • Wahlen: Durch freie Wahlen wird sichergestellt, dass sich alle (wahlberechtigten) Bürger:innen politisch beteiligen und mit ihrer Stimme den Staat, dem sie angehören, mitgestalten können.
  • Rechtsordnung: Die für die Organisation einer demokratischen Gesellschaft notwendigen und gültigen Rechte und Pflichten sind in Gesetzen festgeschrieben.
  • Gewaltentrennung: Die Aufteilung von Macht soll gegenseitige Kontrolle ermöglichen und damit Missbrauch bestmöglich verhindern. Dem klassischen Beispiel entsprechend wird in Österreich zwischen folgenden „Playern“ unterschieden:
    • Legislative – Parlament (Nationalrat und Bundesrat) sowie Landtage
    • Exekutive – Verwaltung (u.a. Bundespräsident_in, Bundes- und Landesregierungen)
    • Judikative – Gerichtsbarkeit (Gerichte und Richter_innen)
  • Gesetzlicher Schutz von Grundrechten: Grundrechte beziehen sich auf wesentliche Prinzipien, die eine Gesellschaft als besonders wichtig und schützenswert hält. Sie sind in Österreich in der Bundesverfassung verankert, haben allgemeine Gültigkeit und sind einklagbar. Die Grundrechte umfassen Menschen-, Minderheiten- und Freiheitsrechte – u.a. das Recht auf freie Meinungsäußerung, Meinungs- und Versammlungsfreiheit oder Presse- und Informationsfreiheit.

 

Die Rolle der Institutionen

Wie man an diesen Merkmalen der Demokratie sieht, kommt rechtsstaatlichen Institutionen eine fundamentale Bedeutung zu (vgl. Offe 2019: 31-36). Sie beschließen (im Falle des Parlaments) Gesetze und setzen diese um. Sie müssen sich strikt an die rechtlichen Rahmenbedingungen halten und schaffen durch die Regelgeleitetheit ihres Vorgehens Sicherheit, Stabilität und Voraussagbarkeit. Anders ausgedrückt: Wenn man weiß, wie z.B. Landesverwaltungen funktionieren, dann weiß man, was man erwarten darf. Sollten diese Landesverwaltungen nicht auf die Art und Weise agieren, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, kann man dies beanspruchen. Keine Frage, aus der Praxis und aus Bürger_innensicht betrachtet muss man einräumen, dass dies mitunter aufwändig, bürokratisch, mühsam und auch nervtötend ist – aber es ist möglich, legitim und letztlich Teil der bürgerlichen Verantwortung. Demokratie ist schließlich keine Einbahnstraße: Institutionen haben sicherzustellen, das sich alle Bürger_innen (auch Politiker_innen, Wirtschaftstreibende und Firmen, etc.) an die demokratischen Grundprinzipien halten; genauso wie Bürger_innen mit ihren Mitteln darüber wachen müssen, dass die Institutionen ihrer Kontrollpflicht nachkommen.

Zusätzlich kommt den Institutionen noch eine andere wichtige Rolle zu: Sie organisieren demokratische Zusammenarbeit. Sie sorgen dafür, dass nur das, was von der Gesetzgebung als notwendig erachtet wurde, realisiert wird, und nicht irgendetwas anderes. Dadurch helfen sie den Ausführenden, sich ökonomisch sinnvoll und effizient zu verhalten, anstatt sich auf Nebengleisen zu verlaufen.

Letztlich sind Institutionen in funktionierenden Demokratien vor allem eines: stabil. Sie schaffen Kontinuität und garantieren, dass die „Staatsgeschäfte“ gut – und auch in Zeiten von Krisen – erledigt werden können. In diesem Zusammenhang sei der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen (2019) zitiert, der im Mai 2019 angesichts der Causa „Ibiza“ (genauso wie bei anderen Staatskrisen der jüngeren Geschichte) auf die Qualität der österreichischen Bundesverfassung – und damit der sich daraus ableitenden Strukturen und Abläufe – hingewiesen hat: „In dieser Form ist das, was zuletzt in Österreich passiert ist, noch nicht dagewesen. Es sind Tage, die manchen als unübersichtlich erscheinen mögen. Aber es gibt keinen Grund, besorgt zu sein. Denn gerade in Zeiten wie diesen, zeigt sich die Eleganz, ja die Schönheit unserer österreichischen Bundesverfassung. Jeder Schritt, der jetzt getan wird, ist vorgesehen und in der Verfassung verankert.“ Die Bundesverfassungsgesetze und die demokratischen Institutionen stellen daher die fundamentalen Leitlinien politischen Handelns dar, auch – und vor allem – in Zeiten der Instabilität und der Krise. 

Natürlich gilt bei all dem Gesagten der Einwand, dass Theorie und Praxis zweierlei Dinge sind. Wir alle kennen die „Stabilität“ unserer Institutionen, die zum Teil in Richtung Trägheit und ein Übermaß an Bürokratismus abdriftet. Wir alle kennen Beispiele, wo versucht wurde, Gesetze besonders leger zu interpretieren, „Freunderlwirtschaft“ zum Nutzen Einzelner zu betreiben oder Verwaltungswege illegitim abzukürzen. Aber: All dies würde es nicht rechtfertigen, die demokratischen Institutionen an sich in Frage zu stellen. Das Gegenteil ist der Fall: All diese Beispiele – die kleinen des Alltags wie die großen politischen Skandale – sollen Motivation und Aufruf sein, das Funktionieren jener Strukturen, die uns gesellschaftlich halten und rahmen, einzufordern und zu verteidigen. Dies alleinig den politischen Eliten und Medien zu überlassen, wäre sträflich. Auch das gehört zur staatsbürgerlichen Pflicht – und zum staatsbürgerlichen Recht.

Denn sonst, und damit kommen wir zurück zum Democratic Backsliding, können sich Institutionen stark verändern und letztlich erodieren (also „abgetragen“ und zerstört werden“). Dies trifft vor allem zu, wenn sie systematisch ausgehöhlt werden, solange bis sich eine Transformation, ein „Gestalt Switch“ (Offe 2019: 35) vollzieht. Dann wird es spooky – auch deswegen, weil dies oft damit einhergeht, dass einzelne Personen („Führer_innen“) Macht anhäufen und staatliche Institutionen Macht verlieren. D.h., die politische Arbeit wird in diesem Fall immer weniger vorhersehbar und kontrollierbar bzw. unterliegt zusehends der Willkür einzelner Personen, Cliquen oder politischen Eliten. Grund-, Menschen- und Minderheitenrechte bleiben dann sehr schnell auf der Strecke - bzw. werden an die „politische Agenda“ angepasst.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass es natürlich auch andere Gründe gibt, warum sich Institutionen signifikant wandeln können (vgl. Offe 2019: 34-36). So können geänderte Umfeldbedingungen, also Änderungen in der Außenwelt, dazu führen, dass Institutionen „explodieren“. Ein Beispiel dafür wäre die – zumindest vorübergehende – Außerkraftsetzung aufgrund eines kriegerischen Angriffs. Oder die Institutionen selbst versagen, also „implodieren“, etwa weil die Beschäftigten die eigenen Prinzipien nicht einhalten und (bewusst oder unbewusst) untergraben.

  

Demokratie als Prozess

Man sieht – Demokratie besticht einerseits durch Stabilität und Kontinuität, zum anderen aber auch durch fortlaufende Evolution. Theoretisch zumindest.

Zweifelsohne muss jedes demokratische System – aufgrund seiner spezifischen historischen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen – gesondert betrachtet werden. Eine Vereinheitlichung würde nicht funktionieren. Ein Denkschema zu haben, um die Entwicklung demokratischer Systeme zu veranschaulichen, macht jedoch Sinn.

In Analogie zum (global ausgerichteten) Demokratisierungsmodell von Huntington (1991, 1997) könnte man versuchen, auch regionale oder nationale Entwicklungen der Demokratisierung zu beschreiben. Huntington geht davon aus, dass die Entwicklung der Demokratie nicht geradlinig, sondern vielmehr in Wellen geschieht. D.h., Phasen sukzessiver Demokratieentwicklung werden gefolgt von regressiven oder zumindest destabilisierenden, samt aller „backlashes“ und „backsliding“-Phänomene.   

Fälle oder Perioden demokratischen Rückschritts wären in diesem Zusammenhang nicht als demokratiegefährdend, sondern als entwicklungsimmanent zu verstehen – und entsprechend zu beantworten. Voraussetzung wäre auch hier, dass die demokratischen Strukturen stabil bleiben und die Systemschwankungen abgefedert werden können. Werden sie jedoch vehement und/oder kontinuierlich angegriffen und werden gewisse Kipppunkte erreicht, scheint ein Zusammenbruch des demokratischen Systems möglich und wahrscheinlich.1

Anders ausgedrückt: Genügen die systemeigenen Abwehrkräfte, um die Attacken auf den demokratischen Organismus abzufangen, kann dies zu einen progressiven Entwicklungsschritt führen. Reichen diese nicht aus, erkrankt das System, wird instabil und zur Veränderung gezwungen. Mitunter ist auch Unterstützung von außen nötig (in der Politik zum Beispiel durch internationale Diplomatie oder supranationale Bündnisse). Tot ist es aber noch lange nicht.

In Europa befinden uns zumindest auf dem Weg in Richtung Erkrankung – und sollten entsprechend reagieren, auf den unterschiedlichsten Ebenen. Dabei gilt auch hier – wie immer –, dass wir warten können, bis „die da oben es richten“, oder selbst aktiv werden.  Demokratie muss von allen gestaltet werden, sonst wird sie zur leeren Hülle.

 

Politische Bildung

Selbst wenn die formalen Kriterien liberaler Demokratien eindeutig zu sein scheinen, so haben wir doch alle unser eigenes Gefühl dafür, was sie ist und ausmacht: Demokratie bedeutet für jeden und jede ein bisschen etwas anderes. Entsprechend macht es keinen Sinn, paternalistisch, also von oben herab und vermeintlich wissend, anderen zu erzählen, wie sie Demokratie verstehen und was sie tun (oder nicht tun) sollen. Das ist nicht nur anmaßend, sondern funktioniert schlicht auch nicht, wie wir immer wieder erleben. Normative Konzepte sind daher zu hinterfragen. Stattdessen muss das Ziel darin bestehen, Politik und politisches Verständnis am Leben der Menschen zu orientieren. Es braucht differenzierte Beschreibungen, die die Diversität unserer Gesellschaft berücksichtigen. Alle Bürger und Bürgerinnen haben gemeinsame Ziele: Sicherheit, Wohlstand, Entwicklungsmöglichkeiten und das Erleben eines gemeinsamen Ganzen – von Gemeinschaft, aber auch Gesellschaft und Identität. Entsprechend muss die Frage lauten: Wie können wir – alle! – diese gemeinsamen Ziele erreichen?

Hier kann politische Bildung eine bedeutende Rolle einnehmen. Die meisten Formate sind jedoch für sehr eingeschränkte Zielgruppen konzipiert – vor allem für Angehörige politischer Organisationen, wie Parteiakademie und Gewerkschaftsverbänden, oder akademisches Publikum. In der traditionellen, für die Breite der Bevölkerung ausgerichtete Erwachsenenbildung (z.B. Volkshochschule) ist politische Bildung kein wesentlicher Faktor. Dies ist bemerkenswert, da deren erste Höhepunkte eng mit der Bildung von Arbeiterinnen und Arbeitern verbunden waren. Klassische Beispiele dafür sind die austro-marxistische Arbeiterbildung, die Volkshochschulen sowie die Initiativen von Gewerkschaften und der Kammer für Arbeiter und Angestellte im Wien der 1920er Jahre (vgl. Filla 2016). Bedeutet dies, dass sich die Zielgruppe der politischen Bildung von der Arbeiter_innenklasse in Richtung Bildungsbürger_innentum verschoben hat? Zumindest die Angebotspalette deutet darauf hin. Dies wäre umso bedenklicher, als die Gruppe jener, die Misstrauen dem politischen System gegenüber empfindet oder sich komplett von demokratischer Beteiligung verabschiedet, immer größer wird und nicht in Parteilokalen sitzt (Zandonella 2022).

 

Wie könnte nun politische Bildung noch aussehen?

Bestehende Formate wie Vorträge, Workshops, etc. sind etabliert und sollen natürlich weiterhin zum Einsatz kommen. Die Frage ist vielmehr, in welchem Rahmen diese stattfinden. Statt punktuell und abgekoppelt in Bildungseinrichtungen, sollte diese stärker in der Lebenswelt der Menschen verankert werden. Dies mag nicht die Wesensstärke der Politikwissenschaft betreffen. Dafür aber der Sozialen Arbeit, die an der Schnittstelle zwischen Mensch und Gesellschaft aktiv ist. Diesem Gedanken folgend, könnte Politische Bildung als niederschwelliges, fortlaufendes Angebot direkt in die nachbarschaftlichen Zusammenhänge der Menschen gebracht werden – dort, wo sie hingehört, da die Nachbarschaft, das „Grätzl“, das Quartier bzw. der Soziale Raum jene Sphäre darstellt, in der politische Ausverhandlung täglich stattfindet – und stattfinden muss (vgl. dazu etwa Früchtel/Cyprian/Budde 2007). Wird politische Bildung in die Volkshäuser, Gemeinde- und Nachbarschaftszentren geholt, läuft sie nicht Gefahr, unnahbar, abgehoben oder elitär zu sein. Dies würde zur Berücksichtigung zweier weiterer Aspekte, die Bildung ansprechen und behandeln muss, zwingen: Leidenschaft und Erfahrung. Wie Mouffe (2012: 27) festhält, ist demokratische Politik – und damit auch politische Bildung – nicht ausschließlich durch Rationalität abzuhandeln, sondern muss Leidenschaft als treibende Kraft anerkennen. Letztlich, Lernen erfolgt dann am nachhaltigsten, wenn sie mit konkreter Erfahrung, samt Anschlussfähigkeit zum eigenen Leben, verknüpft ist (vgl. Kolb 1984). 

Zusatz: Soziale Räume gibt es natürlich nicht nur im physischen Bereich, sondern auch im virtuellen. Die Nutzung digitaler Technologien zur Förderung politischer Beteiligung, steckt noch in den Kinderschuhen. Das Potenzial ist veritabel und sollte genützt werden. Aber: Der bloße Einsatz digitaler Medien führt noch nicht zu einem Mehr an Demokratie. Im Gegenteil, „das Netz“ und Social Media laden ein zu Desinformation, Diskriminierung und der Verbreitung reaktionärer, illiberaler Ideen – wie etwa das Beispiel des „TikTok-Gurus“ Andrew Tate zeigt (siehe etwa Huber 2023). Wie bei allen Werkzeugen kommt es also auf die Art der Verwendung an.

Eine letzte Vision sei erlaubt, die Forschung betreffend. Auch lebensnahe Sozialwissenschaft findet nicht in Büros, Besprechungsräumen oder Hörsälen statt, sondern „im Feld“. Dies trifft insbesondere auf die Partizipative Aktionsforschung zu (siehe etwa Reason/Bradbury 2008). Sie hat den Anspruch, soziale Realitäten nicht nur zu verstehen, sondern auch zu verändern (von Unger 2014: 46-49). Auf politische Bildung bezogen könnte dies bedeuten, dass Forscher:innen dorthin gehen, wo am wenigsten politisches und demokratisches Verständnis vermutet wird. Gemeinsam mit den Menschen und mittels eines beteiligenden „hands-on“ Zuganges könnten konkrete Angebote entwickelt werden. All dies kann entlang wissenschaftlicher Kriterien erfolgen, darf und soll die empirische Erforschung und Evaluierung beinhalten, darf und soll auch publiziert werden. Der Unterschied besteht darin, dass der gesamte Prozess als Koproduktion angelegt ist. D.h., die „Forschungssubjekte“ werden zu Co-Forscher_innen – und wissenschaftliche Papers müssen so geschrieben werden, dass sie nicht nur allgemeinverständlich sind, sondern auch einen Mehrwert als den rein akademischen generieren. Derartige Forschung entspringt der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Adressat:innen. Sie fördert neues Wissen und innovative Methodik zutage – und wirkt ermächtigend. Klassisches win-win also. So – why not simply go for it?

 

So, what?

Das bisher Gesagte legt nahe, dass Demokratie lebt. Das bedeutet, dass wir sie verstehen und gut nähren müssen, um sie gesund zu halten – oder wieder gesunden zu lassen, je nachdem.

Ein wesentlicher Teil dieser „Gesundheitsförderung der Demokratie“ ist der uneingeschränkte Schutz der rechtstaatlichen Strukturen und Institutionen.

Darüber hinaus müssen wir aber auch mögliche krankheitswertige Anzeichen, Symptome der Anti-Demokratisierung oder des „Democratic Backsliding“ erkennen. Dazu gehören unter anderen:

  • Nicht-Anerkennung der Ergebnisse freier Wahlen
  • Nicht-Anerkennung rechtstaatlicher Prinzipien – d.h., die realpolitische Gebarung folgt nicht den verfassungsrechtlichen Grundlagen
  • Legitimation der Verletzung von Grund-, Freiheits- und Minderheitenrechten durch Exekutive oder/und Judikative
  • Fehlende institutionelle Korrektur durch rechtsstaatliche Instanzen im Falle von Backsliding-Fällen / -Prozessen

 

Zusatz: Den bisherigen Erfahrungen zufolge setzt struktureller Demokratieabbau so richtig ab der zweiten Legislaturperiode einschlägiger Regierungen ein (Diehl 2023). Das bedeutet: Einmal Protestwählen scheint okay zu sein, spätestens beim zweiten Mal sollte man die Konsequenzen der eigenen demokratischen Entscheidung aber kritisch reflektieren.  

Wollen wir die demokratischen Institutionen nachhaltig schützen, dann muss es als Teil des staatlichen Auftrages verstanden werden, niederschwellige politische Bildung anzubieten, diese als Teil unserer Kulturtechniken im Europa des 21. Jahrhunderts anzuerkennen. Denn Demokratie lebt nicht von einzelnen Führungspersönlichkeiten oder Eliten, die Macht anhäufen, sondern von den Menschen. Demokratie muss gelernt werden – nicht (nur) in Vorträgen und Workshops parteipolitischer Vorfeldorganisationen, sondern vor allem durch die pro-aktive – und professionell begleitete – Auseinandersetzung damit in Kindergärten und Schulen, im Nachbarschaftszentrum und bei der Umsetzung gemeinsamer Vorhaben. Demokratie muss inmitten des Lebens gelernt werden.

Mir ist bewusst, dass manches von dem hier Geschriebenen idealistisch klingen mag. Stimmt. Dasselbe gilt jedoch auch für andere Themen, welche die Einflusssphäre des/der Einzelnen überschreiten – wie z.B. Bewältigung des Klimawandels, Systemtransformation in Richtung nachhaltiger Wirtschaft oder Friedensarbeit. Den Kopf fatalistisch in den Sand zu stecken, ist mir aber zu wenig. Demokratie lebt vom Volk, dessen Teil jeder und jede Einzelne ist. Kümmern wir uns nicht selbst um die Aufrechterhaltung von Demokratie, werden es andere tun. Dieses Spiel bin ich, persönlich, nicht bereit zu spielen – frei nach Joseph Beuys: Die Demokratie, die wir wollen, muss – von uns allen – erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen!

 

1) Dies trifft im Übrigen auch auf andere Systeme zu, wie wir aus der Biologie, Psychologie, Soziologie oder Ökologie wissen. Vgl. dazu etwa Luhmann (1987), Holldöbler/Wilson (2008).

Literatur

ADL – Austrian Democracy Lab (2023): Demokratieradar. https://www.austriandemocracylab.at/demokratieradar/, Zugriff am 16.11.2023.

Bermeo, Nancy (2016): On Democratic Backsliding. Journal of Democracy. Vol. 27, No. 1. 5-19.

Börzel, Tanja A. (2016): The noble west and the dirty rest? Western democracy promoters and illiberal regional powers. In: Babayan, Nelli/Risse, Thomas (ed.): Democracy Promotion and the Challenges of Illiberal Regional Powers. London, New York: Routledge. 139-155.

Demokratiewebstatt (2023): Was sind die Merkmale einer Demokratie. https://www.demokratiewebstatt.at/wie, Zugriff am 16.11.2023.

Diehl, Paula (2023): Globaler Rechtsruck. Punkt Eins [Radiosendung von 28.11.2023]https://oe1.orf.at/player/20231128/740386, Zugriff am 28.11.2023.

Evans/Stoker (2022): Saving Democracy. London, New York, Dublin: Bloomsbury Academic.

Filla, Wilhelm (2016): Politische Bildung in Österreich: parteienzentriert und großorganisationsbezogen. Zeitschrift für Weiterbildungsforschung. Vol. 49, Issue 1. 27-42.

Früchtel, Frank, Cyprian, Gudrun, Budde, Wolfgang (2007): Sozialer Raum und Soziale Arbeit. Textbook: Theoretische Grundlagen. Wiesbaden: Springer VS.

Hölldobler, Bert, Wilson, Edward O. (2008): The Superorganism: The Beauty, Elegance, and Strangeness of Insect Societies. New York : W. W. Norton.

Huber, Linder (2023): Der gefährliche Aufstieg des Andrew Tate. TikTok-Star und Frauenhasser. https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/andrew-tate-influencer-tiktok-portraet-100.html, Zugriff am 28.11.2023.

Huntington, Samuel P. (1991): The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century. Norman: University of Oklahoma Press.

Huntington, Samuel P. (1997): After Twenty Years: The Future of the Third Wave. National Endowment for Democracy. 8.4 (1997). 3-12.

Kolb, David A. (1984): Experiential learning. Experience as The Source of Learning and Development. New Jersey: Prentice Hall.

Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme: Grundriß allgemeiner Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mouffe, Chantal (2012): Agonistik. Die Welt politisch denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Offe, Claus (2019): Political Institutions and Social Power: Conceptual Explorations (2006). In: Offe, Claus: Liberale Demokratie und soziale Macht. Demokratietheoretische Studien. Ausgewählte Schriften von Claus Offe. Band 4. Wiesbaden: Springer VS. 25-44.

Reason, Peter, Bradbury, Hilary (2008): The SAGE Handbook of Action Research. Participative Inquiry and Practice. 2nd ed. Thousand Oaks, London, New Delhi, Singapore: Sage.

Schmotz, Alexander (2020): Demokratische Legitimität und Democratic Backsliding. In: Kneip, Sascha, Merkel, Wolfgang, Weßels, Bernhard (Hrsg.): Legitimitätsprobleme. Zur Lage der Demokratie in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. 365–386.

Sora (2023): Die Vertrauenskrise ist eine Krise der Repräsentation. https://www.demokratiemonitor.at/ergebnis/die-vertrauenskrise-ist-eine-krise-der-repraesentation/, Zugriff am 16.11.2023.

SZ – Süddeutsche Zeitung (2022): Deutschland bekommt Gas aus Katar - aber nur ein bisschen und nicht so lange. https://www.sueddeutsche.de/politik/energiekrise-lng-katar-deutschland-1.5705660, Zugriff am 16.11.2023.

Van der Bellen, Alexander (2019): Statement von Alexander Van der Bellen nach dem Gespräch mit Sebastian Kurz. https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/gespraech-mit-bundeskanzler-sebastian-kurz, Zugriff am 17.11.2023.

V-Dem Institute (2023): Democracy Report 2023. Defiance in the Face of Autocratization. V-dem_democracyreport2023_lowres.pdf, Zugriff am 16.11.2023.

Verein Demokratieindex (2023): Demokratieindex. https://demokratieindex.at/, Zugriff am 16.11.2023.

Von Unger, Hella (2014): Partizipative Forschung. Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS.

Zandonella, Martina (2022): Demokratie Monitor 2022. Fokusbericht. Wien: Sora. https://www.demokratiemonitor.at/wp-content/uploads/2023/10/SORA-Bericht-Demokratie-Monitor-2022-barrierefrei.pdf, Zugriff am 17.11.2023.

Autor

Roland Urban hat Geistes-, Sozial- und Gesundheitswissenschaften in Wien und Dublin studiert. Er ist Gesundheits-, Klinischer und Notfallpsychologe, Prozessgestalter und Forschender. Seit 30 Jahren arbeitet er in unterschiedlichen Kontexten mit sogenannten marginalisierten Gruppen und zielt darauf ab, diese auf ihrem Weg der Ermächtigung zu begleiten. Die letzten 15 Jahre hatte er die Möglichkeit, in verschiedenen koordinativen und leitenden Funktionen sowie durch diverse Fortbildungsangebote und Lehrgänge die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe in Oberösterreich mitzugestalten. Aktuell promoviert er zudem an der Interdisziplinären Doktorschule der Andrássy Universität Budapest. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Beteiligung, Peer Education, Empowerment, Gemeinschafts- und Demokratiebildung.

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