13.05.2024

Europas Antwort auf Democratic Backsliding: Maßnahmen und Möglichkeiten der EU im Fokus

Einführung

In den vergangenen Jahren hat die Debatte über mögliche Maßnahmen der Europäischen Union (EU) zur Bekämpfung von Verletzungen rechtsstaatlicher Prinzipien in ihren Mitgliedsstaaten, der zunehmenden Tendenz zum democratic backsliding, stetig an Intensität zugenommen. Insbesondere die anhaltenden und zunehmenden Verletzungen rechtsstaatliche Prinzipien in Polen und Ungarn haben diese Diskussion verstärkt. Dies führt einerseits dazu, dass die bestehende Sanktionsmöglichkeiten der EU, wie sie in den Verträgen vorgesehen sind, im akademischen und medialen Diskurs kritisch hinterfragt werden und andererseits dazu, dass auch die EU versucht, die Effektivität ihrer Maßnahmen weiterzuentwickeln. Dieser Blogbeitrag gliedert sich in zwei Schritte. Im ersten Schritt werden die Instrumente der EU dargestellt, die darauf abzielen, gegen Rechtsstaatlichkeitsverletzungen vorzugehen. Im zweiten Schritt erfolgt eine kritische Analyse dieser Maßnahmen im Hinblick auf ihre Effektivität und abschließend wird dargestellt, was aus Sicht des Autors als angemessene Reaktion auf gravierende Rechtsstaatlichkeitsverletzungen von Mitgliedsstaaten in Betracht gezogen werden sollte.

 

(Neuer) Rechtsstaatlichkeitsmechanismus und Art. 7 EUV

Der Rechtsstaatlichkeitsmechanismus wurde 2014 von der EU-Kommission ins Leben gerufen und ist ein Instrument zum "Schutz der Werte gemäß Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union - EUV" (Europäisches Parlament 2023: S. 1). Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union (EUV), ein ursprünglich durch den Vertrag von Amsterdam eingeführtes Instrument, dient ebenfalls dem Schutz der in Artikel 2 genannten Werte. Diese Werte besagen, dass sich die EU auf der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit gründet (ebd.).

Unter Einsatz dieser Richtlinien zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union sollen bestehende systembedingte Gefahren erkannt und überwunden werden. Falls ein Mitgliedsstaat der EU Anzeichen dafür zeigt, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zu verletzen, soll dieser Mechanismus als eine Art Frühwarnsystem in Aktion treten. Auf diese Weise soll die Kommission rechtzeitig in den Dialog mit den Regierungen treten, bei denen zumindest der Anfangsverdacht einer Beeinträchtigung der Funktion des Rechtsstaats besteht.

Dieser Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit war nicht überraschend wenig effektiv, da er lediglich zu einem konstruktiven Dialog aufrief. In Anbetracht der Demokratiedefizite in einigen Mitgliedstaaten war es nur eine Frage der Zeit, bis dieser Mechanismus verschärft werden würde. Auf Druck und Initiative des Europäischen Parlaments wurde schließlich im Januar 2021 die „Verordnung über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union“ – auch als neuer Rechtsstaatlichkeitsmechanismus bekannt - eingeführt. Wesentlich dabei ist, dass nun Verstöße von Mitgliedsstaaten gegen rechtsstaatliche Prinzipien auch finanzielle Sanktionen nach sich ziehen können. Mithilfe dieser Verordnung können Zahlungen aus dem EU-Haushalt oder Mittel aus dem Strukturfonds eingefroren werden (wie derzeit bei Polen und Ungarn), wenn diese gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen und diese Verstöße sich negativ auf die finanziellen Interessen der Union auswirken. Die Europäische Kommission kann diesen Mechanismus aktivieren, und der Europäische Rat kann daraufhin finanzielle Sanktionen mit qualifizierter Mehrheit festlegen (Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg  o. D.).

Seit 2020 wird der EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismus zudem mit einen jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit ergänzt. Dieser Mechanismus ermöglicht einen Dialog zwischen der Europäischen Kommission, dem Europäischen Rat, dem Europäischen Parlament und den Mitgliedstaaten. Der Bericht konzentriert sich auf positive und negative Entwicklungen in vier Schlüsselbereichen: dem Justizsystem, dem Rahmen für die Korruptionsbekämpfung, dem Medienpluralismus sowie sonstigen institutionellen Fragen im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung. Das Hauptziel besteht darin, die interinstitutionelle Zusammenarbeit zu fördern und sicherzustellen, dass alle EU-Organe gemäß ihren institutionellen Aufgaben zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit beitragen. Er soll dafür sorgen, dass Herausforderungen frühzeitig erkannt werden, um gemeinschaftlich Lösungen zu finden und die Rechtsstaatlichkeit zu schützen. Die Beteiligung der Mitgliedstaaten, ihrer Parlamente sowie anderer Interessenträger auf nationaler und EU-Ebene wird dabei ausdrücklich angeregt  (Europäische Kommission o. D.).

Artikel 7 EUV ermöglicht es der EU, bei schwerwiegenden und anhaltenden Verstößen eines Mitgliedstaates gegen die Werte der Union zu intervenieren. Artikel 7 Absatz 1 sieht eine "Präventivphase" vor, in der ein Drittel der Mitgliedstaaten, das Parlament und die Kommission ein Verfahren einleiten können. Der Rat kann mit einer Mehrheit von vier Fünfteln feststellen, dass eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung vorliegt.

Artikel 7 Absatz 2 und 3 beinhalten einen "Sanktionsmechanismus", der von der Kommission oder einem Drittel der Mitgliedstaaten aktiviert werden kann. Der Europäische Rat kann einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung vorliegt, nach Zustimmung des Parlaments. Sanktionen können bis hin zum Entzug der Stimmrechte im Europäischen Rat für das betreffende Land  reichen. Das Verfahren wurde in Bezug auf Polen und Ungarn eingeleitet, ist jedoch aufgrund der erforderlichen Einstimmigkeit im Rat blockiert. Um Lücken zu schließen, wurde dann eben der eingangs beschriebene Rechtsstaatlichkeitsmechanismus eingeführt (Europäisches Parlament 2023: S. 4-6).

 

Diskussion

Die folgende Diskussion konzentriert sich auf die Frage, wie die EU darauf reagieren kann, dass einige ihrer Mitgliedstaaten wichtige demokratische und rechtsstaatliche Verpflichtungen nicht ausreichend einhalten. Die Wirksamkeit der bestehenden Mechanismen, sowie die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen zur Bekämpfung von democratic backsliding in europäischen Staaten werden dabei beleuchtet.

Es ist festzustellen, dass die derzeitigen Maßnahmen unzureichend sind, insbesondere angesichts der Vielzahl problematischer Entwicklungen nicht nur in Polen und Ungarn, sondern auch in Bulgarien, Rumänien, Spanien oder der Slowakei. Eine zentrale Problemstellung liegt dabei im Artikel 7 EUV, der vorsieht, dass die Feststellung schwerwiegender und anhaltender Verletzungen europäischer Werte einstimmig getroffen werden muss. Dies führt dazu, dass Artikel 7 in der Praxis ineffektiv ist, da Staaten wie Polen und Ungarn einander in den gegen sie laufenden Verfahren Beistand leisten und so ein Beschluss durch gegenseitige Vetos blockieren.

Ein weiteres Problem, das durch Theuns (2022: S. 2) richtig erkannt und benannt wird, besteht in den demokratietheoretischen Unstimmigkeiten von Artikel 7. Während er Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit sanktionieren möchte, weist er gleichzeitig demokratietheoretisch fragwürdige Grundsätze auf. Der Entzug von Stimmrechten für einen Mitgliedstaat im Europäischen Rat würde faktisch bedeuten, dass dieser keine effektive Möglichkeit zur demokratischen Partizipation mehr hätte, obwohl die Entscheidungen des Europäischen Rates dennoch bindend für das Land wären – ein Widerspruch bzw. zumindest ein starker Kontrast zu den europäischen Werten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Die Einbehaltung von Geldern im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits trifft es die Staaten dort, wo es schmerzt, indem wichtige Gelder einbehalten werden, was sie zu (zumindest teilweise und hinter verschlossenen Türen stattfindender) konstruktiver Zusammenarbeit zwingt. Andererseits kann das als Erpressungsinstrument dienen, wie im Fall Ungarns bei der finanziellen Unterstützung für die Ukraine zu beobachten ist. Durch eine angedrohte Blockade in einem anderen Politikbereich kann man quasi die Freigabe der zurückgehaltenen Mittel verlangen. So kann das Einbehalten von Geldern auch als Katalysator für nicht konstruktives Verhalten in anderen Bereichen wirken - eine Art Spill-Over-Effekt, um die Gelder freizupressen. Zudem gibt es Staatsspitzen mit autokratischen Tendenzen, wie Viktor Orban die Möglichkeit, seine innenpolitische Legitimität zu erhöhen, indem er das "Wir gemeinsam gegen die Schurken aus Brüssel“ propagiert und so eine Art „Märtyrerstatus“ anstrebt, bei dem er der einzige ist, der wirksam für die Interessen Ungarns kämpft.

Ebenfalls gibt es im Diskurs eine Diskussion über die Möglichkeit, Staaten wie Ungarn aus der EU auszuschließen. Es lässt sich argumentieren, dass dies schwierig bis unmöglich umzusetzen ist, weil es eine Änderung der EU-Verträge erfordern würde, was einen langwierigen und eher aussichtslosen Prozess darstellt – schließlich gilt auch hier das Prinzip der Einstimmigkeit. Man könnte argumentieren, dass Ungarn niemals freiwillig einer solchen Anpassung der Verträge zustimmen würde. Denn, die gesamte Funktionsweise des Orban-Regimes, "die auf der strategischen Korruption und dem Missbrauch von EU-Geldern aufgebaut ist, […] ist außerhalb der EU nicht funktionsfähig“ (Hegedus, zitiert nach Grobe & Liboreiro 2022).

Der jährliche Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU kann hingegen als positive Entwicklung betrachtet werden. Schließlich wird im Erstellungsprozess  der Zivilgesellschaft eine effektive Möglichkeit eingeräumt Probleme zu benennen und so ihre Meinung und Expertise in den Prozess einzubringen. Eine Vielzahl von beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteuren bei der Erstellung dieses Berichts ist eine positive Entwicklung - gibt man ihnen schließlich so eine Stimme und schafft es den innerstaatlichen Druck auf die Regierungen zu erhöhen bzw. aufrecht zu erhalten. (Conzelmann 2022: S. 683).

Eine weiterführende Idee zur Stärkung rechtsstaatlicher Prinzipien kann in der Gründung eines unabhängigen Gremiums oder einer Agentur liegen, die systematisch die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in allen Mitgliedsstaaten überwacht. Ein solches Gremium hätte die Aufgabe, objektive Einschätzungen vorzunehmen und potenzielle Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit frühzeitig zu erkennen. Dabei wäre es von entscheidender Bedeutung, dass das Gremium möglichst breit aufgestellt ist und Vertreter der proeuropäischen Zivilgesellschaft einbezieht. Durch die Einbindung verschiedener Interessengruppen könnte eine umfassende und ausgewogene Bewertung gewährleistet werden. Die Stärkung der Zivilgesellschaft stellen dabei essenzielle Elemente dar, um effektiv zur Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit beizutragen. Eine gut informierte und engagierte Zivilgesellschaft kann als Wächterin der Demokratie agieren, indem sie auf mögliche Missstände aufmerksam macht,  politische Verantwortung einfordert und so den Druck auf ihre Regierungen erhöht rechtsstaatliche Prinzipien einzuhalten.

Insgesamt empfinde ich einen Mix aus finanziellen Sanktionen und der Erhöhung des zivilgesellschaftlichen Drucks als sinnvolle Strategie zur Bekämpfung von democratic backsliding. Man muss sich allerdings auch eingestehen, dass diese Maßnahmen allein nicht ausreichen werden, um democratic backsliding vollständig zu unterbinden. Letztlich geht es in einer Demokratie darum, das kleinere Übel bzw. Kompromisse auszuhandeln und zu erkämpfen. Positive Veränderung kommen oft in kleinen Schritten und langwierigen Prozessen. Insofern sollte man immer ein klares Ziel vor Augen haben, aber bis dahin auch kleine Verbesserungen erkennen, um nicht den Mut zu verlieren. Mit dem (neuen) Rechtsstaatlichkeitsmechanismus und dem Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit hat die EU bereits erste Schritte in die richtige Richtung unternommen, weitere müssen aber folgen!

Literaturverzeichnis

Conzelmann, T. (2022): Peer Reviewing the Rule of Law? A New Mechanism to Safeguard EU Values. European Papers. 7(2), S. 671-695.

Europäische Kommission (o. D.): Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit. Verfügbar unter Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit - Europäische Kommission (europa.eu) [zuletzt abgerufen am 12.01.2024].

Europäisches Parlament (2023): Der Schutz der Werte gemäß Artikel 2 EUV. Verfügbar unter Der Schutz der Werte gemäß Artikel 2 EUV in der EU (europa.eu)  [zuletzt abgerufen am 12.01.2024].

Grobe, S. & Liboreiro, J. (2022, April 14): Ein Rauswurf aus der EU - ist er rechtlich möglich? Verfügbar unter Ein Rauswurf aus der EU - ist er rechtlich möglich? | Euronews [zuletzt geprüft am 13.01.2024]

Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg (o. D.): EU-Rechtsstaatsmechanismus und Artikel-7-Verfahren. Verfügbar unter EU Rechtsstaatsmechanismus - Artikel-7-Verfahren - Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit (lpb-bw.de) [zuletzt abgerufen am 12.01.2024].

Theuns, T. (2022). The Need for an EU Expulsion Mechanism: Democratic Backsliding and the Failure of Article 7. Res Republica. 28, S. 693-713.

Autor

Constantin Palmer ist seit 2023 als Doktorand im Fachbereich Politikwissenschaft an der Andrássy Universität Budapest tätig. Er erlangte seinen Bachelor-Abschluss in Staatswissenschaften an der Universität Passau und absolvierte seinen Master in Politikwissenschaft an der Universität Kopenhagen. Zudem sammelte er internationale Erfahrungen durch Studienaufenthalte an der Deakin University in Melbourne, der Copenhagen Business School und der Sciences Po Paris. Seine Forschungsinteressen konzentrieren sich auf Internationale Beziehungen und Foreign Policy Analysis, insbesondere im Bereich der deutschen Sicherheits- und
Außenpolitik.



 


Andrássy Universität Budapest
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