Aktuelle Entwicklungen der europäischen Erweiterungspolitik
Europa ist seit Februar 2022 von einer grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse gekennzeichnet. Mit der russischen Invasion der Ukraine war besonders die EU gefordert, ihre Politik gegenüber den Ländern der östlichen Partnerschaft zu überdenken. Die Herausforderung der EU bestand darin, die Ukraine gegenüber Russland zu unterstützen und den Ländern, die Interesse an einer EU-Mitgliedschaft hatten, stärker an die EU zu binden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden der Ukraine, Moldau und Georgien eine EU-Beitrittsperspektive in Aussicht gestellt. Ukraine und Moldau erhielten im Juni 2022 und Georgien im Dezember 2023 den EU-Kandidatenstatus.
Mit den neuen Kandidatenländern stellt sich die Frage, ob die EU nicht ihre Erweiterungsstrategie reformieren müsste, um besser auf die Gegebenheiten der neuen Kandidaten eingehen zu können. Der derzeitige EU-Erweiterungsprozess versucht seit über zwei Jahrzehnten, mehrere Staaten Südosteuropas auf eine EU-Mitgliedschaft vorzubereiten. Doch dieser Prozess hat sich in den letzten Jahren größtenteils - durch Stillstand und Blockadepolitik ausgezeichnet. Durch die Entscheidung der EU, die EU-Mitgliedschaft den drei osteuropäischen Staaten zu ermöglichen, erhofften sich die Staaten des Westbalkans, dass eine positive Dynamik den eingeschlafenen Prozess der Erweiterungspolitik wieder zum Leben erwecken würde. Mit einem Blick zurück und einen nach vorne soll der Versuch unternommen werden, eine Einschätzung der Erweiterungspolitik der EU zu geben.
Der Blick zurück…
Die EU-Erweiterungspolitik, die von der EU bis heute als die wichtigste Strategie zur Stabilisierung der Westbalkanregion angesehen wird, ist nach dem Beitritt Kroatiens 2013 im Sand verlaufen. Kroatien hatte es noch in die EU geschafft, danach folgten mehrere Krisen, die sich nachteilig auf die EU sowie die innenpolitische Situation der Staaten der Westbalkanregion auswirkten. Die EU konnte nicht mehr den Optimismus der 2000er Jahre vermitteln, der noch die sogenannte Big-Bang Erweiterung von 2004 begleitete. Die EU war ab 2008 damit beschäftigt, auf eine Vielzahl an Krisen zu reagieren. In der zweiten Hälfte der 2000er kamen in der Westbalkanregion zusehends Regierungen an die Macht, die der EU und den Reformforderungen gegenüber kritisch waren. Die Umsetzung von Reformen wurde nicht mehr als prioritär angesehen, da die regionale Elite mittlerweile die Erfahrung gemacht hatte, dass nicht automatisch ein Fortschritt im Erweiterungsprozess zu erwarten ist, auch wenn Reformen umgesetzt wurden. Das beste Beispiel dafür ist die Namensänderung der ehemaligen Republik Mazedonien auf Nordmazedonien, um den Forderungen des EU-Mitgliedslandes Griechenland gerecht zu werden. Dann kam die Blockade durch Frankreich.
EU-Mitgliedsstaaten, die sich für die Erweiterung einsetzten, initiierten 2014 den Berlin Prozess, der mit konkreten Kooperationsprojekten die Westbalkanstaaten auf ihren Weg in die EU unterstützen und dem Erweiterungsprozess neue Impulse verleihen sollte. Doch auch diese Initiative brachte nur kurzfristige Erfolge. Das entstandene politische Vakuum in der Region ermöglichte es anderen externen Akteuren wie China, Russland, den Golfstaaten und der Türkei in der Region verstärkt aktiv zu werden, was wiederum Unbehagen bei der EU auslöste. Trotz finanzieller Unterstützung und der Karotte eines EU-Beitritts zeigte sich, dass die EU nicht mehr über jene Anziehungskraft verfügte, die dem Mechanismus der politischen Konditionalität zur Wirkung verhalf. Mittlerweile kommunizieren die Vertreter*innen der EU und der Westbalkanstaaten nicht mehr miteinander, sondern aneinander vorbei. Beide Seiten pflegen ihre Narrative, die die Schuld für den Erweiterungsstillstand der jeweils anderen Seite zuschieben. Im Westbalkan kann der Beitrittsprozess seine eigentliche Funktion der Stabilisierung und Demokratisierung der Region nicht mehr erfüllen. In einigen Ländern ist sogar ein Rückgang der Demokratiequalität erkennbar und die Etablierung von sogenannten „Stabilitokratien“, das sind Regime, die Sicherheit nach innen und außen garantieren, aber nicht unbedingt Demokratie fördern. Doch eigentlich sollte auch klar sein, dass Regime, die sich nicht zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verpflichten, nicht Mitglieder der EU werden können.
Das Problem der Erweiterungspolitik ist, dass eine Erweiterung der Union einstimmig erfolgen muss und einzelne Staaten den Prozess behindern können. Die von der EU versprochene Belohnung bei der Umsetzung von Reformen fielen oft nationalstaatlichen Interessen von EU-Mitgliedsstaaten zu Opfer, die durch ein Veto den Prozess blockierten. Die Problematik, dass die EU in der Erweiterungspolitik nicht als einheitlicher Akteur auftritt und einzelne EU-Mitgliedsstaaten den Prozess blockieren, wird ebenfalls bei der Erweiterung der drei Staaten der östlichen Partnerschaft zu tragen kommen. Die EU besitzt gegenüber den osteuropäischen Ländern noch einen gewissen Grad an Anziehungskraft und Glaubwürdigkeit, den sie jedoch gegenüber den Westbalkanländern bereits verspielt hat. Die Westbalkanstaaten wurden zu Beginn ihres EU-Weges angehalten, ihre Konflikte mit den Nachbarstaaten zu lösen, bevor diese in die EU aufgenommen werden. Während Mitte der 2000er Jahre noch die Kooperation mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und die Auslieferung von vermeintlichen Kriegsverbrechern Priorität hatte, wurde später neben der Aufforderung der regionalen Kooperation noch Aussöhnung und die Förderung guter nachbarschaftliche Beziehungen eingefordert. Einige bilaterale Streitfälle, die durch den Zerfall Jugoslawiens aufgetreten waren, konnten tatsächlich gelöst werden. Andere Fälle wiederum, die staatliche und demokratische Entwicklung von Bosnien-Herzegowina und Kosovo, sind bis heute bestehende Problemfälle der EU und der internationalen Gemeinschaft allgemein. Vergleichbar mit den Kriegserfahrungen der Westbalkanstaaten sollte sich die EU überlegen, wie sie mit den regionalen Herausforderungen der neuen osteuropäischen EU-Anwärter, umgehen wird.
Der Blick nach vorne…..
Die Frage nach dem Umgang von Kriegserfahrungen, latenten Konflikten sowie manifesten Kriegssituationen im Rahmen der EU-Erweiterungsstrategie wird in Zukunft auch die Staaten der östlichen Partnerschaft betreffen. Ukraine, Moldau und Georgien hatten seit 2004 ihre Beziehungen zur EU im Rahmen der Östlichen Partnerschaft (EaP) gepflegt, die ursprünglich keinen EU-Beitritt vorsah. Doch mit einer im Raum stehenden Mitgliedschaft wären Überlegungen anzustellen, ob diese Staaten nicht spezifische Kriterien erfüllen sollten, um offene regionale Streitfragen als Vorbedingung für einen EU-Beitritt zumindest zu adressieren. Ein Problem ist, dass Russland in unterschiedlichem Ausmaß in allen drei Staaten Einfluss hat. Moldau hat das Transnistrien-Problem, eine russischkontrollierte Enklave, die die territoriale Souveränität der Republik Moldau einschränkt. Es kann nicht im Interesse der EU sein, einen kleinen russischen Staat inmitten der EU zu haben. Da sich Russland nicht in direkter Nachbarschaft zu Transnistrien befindet, könnte es zu einer Vereinbarung mit den transnistrischen Behörden, betreffend einer Eingliederung in Form einer Autonomie, in Moldau kommen. Georgien ist mit einer ähnlichen Situation konfrontiert, doch erschwerend kommt hinzu, dass Russland ein direkter Nachbar ist. Die Regierung in Tbilisi hat keine direkte Kontrolle über die Provinzen Südossetien und Abchasien, die von russischen Truppen besetzt sind. Georgien hatte in einem unüberlegten, nationalistisch aufgeheizten Moment versucht die beiden abtrünnigen Provinzen in Sommer 2008 zurückzuerobern. Doch die georgischen Truppen, die in den Provinzen einmarschierten, wurden schnell von russischen Soldaten auf ihr Staatsgebiet zurückgedrängt. Georgien muss versuchen, gute nachbarschaftliche Beziehungen mit Russland zu pflegen. Fraglich ist, wie sich ein EU-Beitritt auf die Nachbarschaft mit Russland auswirken wird. Georgien ist aufgrund der geographischen Lage in einer schwierigen Situation. Der komplexeste Fall ist jedoch derzeit die Ukraine, die sich in einem Krieg mit Russland befindet. Neben den menschlichen Verlusten und materiellen Schäden sind auch Teile des ukrainischen Staatsgebiets von Russland besetzt. Die Ukraine ist, im Gegensatz zu den anderen beiden Staaten, in einen aktiven Krieg involviert und ein Ende ist derzeit nicht in Sicht. Die EU wird Geld für den Wiederaufbau zur Verfügung stellen und mit einer stärkeren Einbindung der Ukraine in EU-Strukturen versuchen, die Wirtschaft anzukurbeln, um so den Wohlstand zu fördern. Doch ein weiterer Punkt, der Probleme für die Aufnahme der Ukraine darstellt und über den nicht viel gesprochen wird, ist die geographische und demographische Größe des Landes. Während Georgien und Moldau in Bezug auf die territoriale Größe und Bevölkerungszahl mit anderen Westbalkanstaaten vergleichbar sind, hat die Ukraine fast eine zweieinhalbmal höhere Bevölkerungszahl (43,8 Mio.) als der gesamte Westbalkan (17,5 Mio.) und ein Territorium, dass fast dreimal größer ist als, dass des Westbalkans (603 500 km2 zu 207,481 km2). Bei einem Beitritt der Ukraine würde sich die EU-Grenze gegen Osten verschieben und Russland würde zum direkten Nachbarn der EU werden.
Obwohl das Zugestehen des Beitrittskandidatenstatus in einem relativ kurzen Zeitraum entschieden wurde, bedeutet das nicht, dass ein Beitritt demnächst erfolgen wird. Die drei Staaten der östlichen Partnerschaft sollten sich nicht täuschen lassen, ihre Kollegen aus dem Westbalkan wissen, dass es sich um einen langen Prozess handelt. Die Ukraine könnte sich zu einer neuen Türkei entwickeln, wenn der Erweiterungsprozess keine Resultate bringt.
Zum Schluss
Die EU wird sich in den nächsten Jahren mit einer Reihe von Problemen auseinandersetzen müssen, um eine erfolgreiche Erweiterungspolitik umsetzen zu können. Wahrscheinlich ist, dass die EU ihre Versprechungen nicht einhalten kann und relativ schnell die Ernüchterung bei den neuen Beitrittskandidaten eintreten wird. Die EU wird ihr Ansehen auch in diesen Ländern verlieren, wenn sie nicht ernsthaft über eine Reform der Erweiterungsstrategie nachdenkt. Unter anderem wären auch die Einstimmigkeit bei Erweiterungsfragen abzuschaffen, um Blockaden von einzelnen Mitgliedsstaaten zu verunmöglichen. Außerdem wäre zu überlegen, ob es vielleicht doch notwendig ist, auf die spezifischen Umstände der Beitrittskandidaten einzugehen.
Die Erweiterungsstrategie hatte von Erfahrungen gelernt und bestimmte politische Gegebenheiten – wie zB bei den Westbalkanstaaten – berücksichtigt. Nach dem Scheitern der Zypern-Frage wurde der Zusatz aufgenommen, dass Staaten ihre bilateralen Probleme vor einem Beitritt lösen müssen, damit sie keine Konflikte in die Union importieren. Somit wäre es keine Neuheit, wenn bestimmte zusätzliche Kriterien dem Beitrittsprozess hinzugefügt werden.
Diese EU-Erweiterung ist eine große Herausforderung für die EU und vielleicht hat sie sich zu viel vorgenommen. Immerhin schaffte sie es nicht, die viel kleineren Westbalkanstaaten über einen Zeitraum von 20 Jahren auf die EU-Mitgliedschaft vorzubereiten.
Publiziert am 5. Februar 2024, in: Andrássy Nachrichten, 15. Jahrgang, 1. Ausgabe, 26. Ausgabe, S. 43-46. Abrufbar unter: https://www.andrassyuni.eu/docfile/de-4102-andrassy-nachrichten-26-ausgabe-2024-sose.pdf
Autorin
Dr. Christina Griessler ist seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin für das Netzwerk Politische Kommunikation (netPOL) an der Universität Graz,entsandt an die Andrássy Universität Budapest. Das Magisterstudium der Politikwissenschaft und Kultur-und Sozialanthropologie absolvierte sie an der Universität Wien in 1999. 2009 erfolgte die Promotion im Fachbereich der Politikwissenschaft ebenfalls an der Universität Wien und der Abschluss des Postgraduate Diplomas in Conflict and Dispute Resolution Studies am Trinity College Dublin, Irland.
Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Konflikt- und Friedensforschung, insbesondere der Konflikttransformationsansatz sowie Fragen der Aussöhnung und Konfliktmediation; politische Systeme der Staaten des Westbalkans, EU-Erweiterung und irische und nordirische Politik.
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