21.01.2025

Am 1. Juli 2024 übernahm Ungarn zum zweiten Mal seit seinem EU-Beitritt die EU-Ratspräsidentschaft. Symbolisch wählte die ungarische Regierung einen Zauberwürfel des ungarischen Erfinders Ernő Rubik als offizielles Logo der Ratspräsidentschaft. Trotz Erfolgen wie der Schengen-Erweiterung von Rumänien und Bulgarien oder der „Budapester Erklärung“ (Europäisches Abkommen zur Wettbewerbsfähigkeit) war die zweite ungarische Ratspräsidentschaft von diplomatischen Kontroversen, internationaler Kritik und einer zunehmend isolierten Position Orbáns innerhalb der Europäischen Union geprägt. Der Beitrag beleuchtet die Rolle und Aufgaben der Ratspräsidentschaft, analysiert die Entwicklungen während der ungarischen Amtszeit und untersucht die Bedeutung von Viktor Orbáns „Friedensmission“ in Zeiten globaler Machtverschiebungen.

 

Die EU-Ratspräsidentschaft: Rolle und Aufgaben

Die EU-Ratspräsidentschaft ist ein zentraler Bestandteil der europäischen Governance. Sie wurde mit den Römischen Verträgen (1957) eingeführt und mit dem Vertrag von Lissabon (2009) reformiert. Zu den wichtigsten Aufgaben der EU-Ratspräsidentschaft gehören die Leitung der Beratungen des Rates und die Vertretung gegenüber den anderen EU-Institutionen. Ziel ist es, die EU-Agenda voranzutreiben, Gesetzgebungsverfahren zu koordinieren und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dabei soll der Vorsitz als neutraler Vermittler agieren (Rat der EU, 2024). Obwohl die Ratspräsidentschaft mit wichtigen Aufgaben betraut ist, wird sie vor allem als rechtliche und diplomatische Verpflichtung und weniger als politisches Mandat verstanden. Der Schwerpunkt liegt auf der Koordinierung und Umsetzung bestehender EU-Politiken, nicht auf der Durchsetzung nationaler politischer Agenden.

Die ungarische EU-Ratspräsidentschaft 2024 fiel in eine Übergangsphase nach den Europawahlen, in der institutionelle und legislative Entscheidungen traditionell in den Hintergrund treten. Dies unterscheidet sich deutlich von der ersten ungarischen Ratspräsidentschaft 2011, die in eine der dynamischsten Phasen des EU-Gesetzgebungszyklus fiel.

 

„Ehrlicher Makler“ oder Eigeninteressenvertreter?

„Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder man hat eine politische Präsidentschaft oder eine bürokratische.“ „Ich habe mich bewusst für eine politische Präsidentschaft entschieden […]“. (Orbán, 2024)

EU-Ratspräsidentschaften werden in erster Linie an ihrer administrativen und organisatorischen Effizienz gemessen, also daran, wie sie die Kontinuität der EU-Agenda gewährleisten und reibungslose Abläufe ermöglichen. Dies hätte der ungarischen Ratspräsidentschaft eine günstige Ausgangsposition verschafft, da der „institutionelle Puffer“ durch die Konstituierungsphase des Europäischen Parlaments und die Neubildung der Kommission nach den Europawahlen einen eingeschränkten politischen Handlungsspielraum bot. Dennoch nutzte die ungarische Regierung die Ratspräsidentschaft, vor allem um eine politische Agenda voranzutreiben. Unter dem provokanten Motto „Make Europe Great Again“ - in Anlehnung an den Slogan von Donald Trump - präsentierte Ungarn sieben zentrale Prioritäten, die nationale Interessen über die kollektiven Ziele der EU stellten:

  1. Wettbewerbsfähigkeit: Förderung nachhaltigen Wachstums, Unterstützung von KMUs, grüner und digitaler Wandel sowie die Umsetzung des Letta- und Draghi-Berichts zur Stärkung des Binnenmarktes.
  2. Verteidigungspolitik: Ausbau der Verteidigungsfähigkeiten, Förderung des Strategischen Kompasses und Verhandlungen zum EU-Verteidigungsindustrieprogramm (EDIP).
  3. Erweiterungspolitik: Schwerpunkt auf die Westbalkan-Staaten, mit einem EU-Westbalkan-Gipfel. Die Ukraine und Moldau blieben unberücksichtigt.
  4. Migration: Eindämmung illegaler Migration durch engere Kooperation mit Drittstaaten, Rückführungen und neue Asylregeln.
  5. Kohäsionspolitik: Stärkung des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhalts durch strategische Debatten und Ratsschlussfolgerungen.
  6. Agrarpolitik: Förderung einer wettbewerbsfähigen und krisenfesten Landwirtschaft mit Blick auf die Zeit nach 2027.
  7. Demografische Herausforderungen: Diskussionen zu Arbeitskräftemangel und belasteten Sozialsystemen (HU24EU).

Diese Prioritäten der ungarischen Ratspräsidentschaft 2024 waren ambitioniert, litten jedoch unter einem Mangel an Kohärenz und Ausgewogenheit. Viele der Ziele schienen von Ungarns nationalen Interessen geprägt zu sein, während zentrale europäische Herausforderungen wie die Ukraine-Krise oder eine solidarische Migrationspolitik vernachlässigt wurden (Europäisches Parlament, 2024;  Deutscher Bundestag, 2024; von der Leyen, 2024).

 

Orbán entzaubert den Frieden

Einer der umstrittensten Aspekte der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft 2024 war Viktor Orbáns sogenannte „Friedensmission“. Diese beinhaltete bilaterale Treffen mit autoritären Führern wie Wladimir Putin, Xi Jinping und Recep Tayyip Erdoğan, die offiziell als Versuch dargestellt wurden, diplomatische Lösungen für den Krieg in der Ukraine zu fördern. Orbán nutzte diese Treffen, um sich als unabhängiger Akteur zu positionieren, der nicht an die gemeinsame Außenpolitik der EU gebunden ist. Orbáns Strategie des Trolling to weaken the EU while winking at Trump(Political Capital, 2024) diente weniger der Friedensförderung als vielmehr der Inszenierung Ungarns als geopolitischer Vermittler, während sie gleichzeitig autoritären Regimen Legitimität verlieh.

Orbáns Ansatz bedeutet also keine Abweichung, sondern eine bewusste Fortsetzung seiner bisherigen Außenpolitik, nämlich ein Balanceakt zwischen der Nutzung europäischer Mitgliedschaftsvorteile und einer Annäherung an autoritäre Regime (Political Capital, 2024a). Die bilateralen Treffen mit Putin während der Ratspräsidentschaft sind ein Beispiel für diese „Troll-Diplomatie“, die darauf abzielt, internationale Aufmerksamkeit zu erlangen, ohne dabei eine kohärente oder konstruktive Rolle innerhalb der EU zu übernehmen (Hegedűs, 2024). Im Gegenteil: Orbáns Ukraine-Politik ist gekennzeichnet von Inkohärenz: Einerseits betont Ungarn den Schutz ethnischer Ungarn in der Ukraine, andererseits behindert es durch Blockaden auf EU- und NATO-Ebene genau jene Prozesse, die diese Rechte stärken könnten. Zugleich stärkt Budapest durch die Verweigerung militärischer Unterstützung faktisch Russland, was den ukrainischen Widerstand schwächt (Rácz, 2024).

 

Erfolge im Schatten von Kontroversen

Ein wichtiger Erfolg der ungarischen Ratspräsidentschaft war die Verabschiedung der Budapester Erklärung, ein Maßnahmenpaket zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU, das als wichtiger wirtschaftspolitischer Impuls für die Union gewertet wurde (von der Leyen, 2024). Ein weiterer Meilenstein war die Erweiterung des Schengen-Raums, bei der unter ungarischer Führung die Vollintegration Rumäniens und Bulgariens beschlossen wurde. Auch in der EU-Erweiterungspolitik spielte Ungarn eine zentrale Rolle. Dank seiner Bemühungen konnten die Beitrittsverhandlungen mit den Westbalkanstaaten beschleunigt werden, was als wichtiger Fortschritt für die Integration dieser Region in die EU angesehen wird (ibid).

Diese Erfolge verdeutlichen eine gewisse Zweigleisigkeit der ungarischen Ratspräsidentschaft. Einerseits sorgte die Brüsseler Bürokratie für einen reibungslosen Ablauf der Ratsgeschäfte, indem sie wichtige Dossiers diplomatisch vorantrieb, den institutionellen Anforderungen gerecht wurde und in einigen Bereichen die Rolle eines neutralen Vermittlers übernahm. Andererseits nutzte Ungarn die Ratspräsidentschaft als Plattform, um nationale Interessen in den Vordergrund zu stellen und politische Agenden zu verfolgen, die nicht im Einklang mit den kollektiven Zielen der EU standen.

 

Historisches Erbe: Von der „Habsburg-Angst“ zur „Brüssel-Angst“

Die ungarische Ratspräsidentschaft war trotz wichtiger Erfolge stark von Viktor Orbáns „Friedensmission“ und einer grundlegenden Spannung zwischen dem politischen Kurs Ungarns und den Werten der liberalen Demokratie geprägt. Orbáns Handeln spiegelte erneut ein wachsendes Misstrauen gegenüber supranationalen Institutionen wider, das bereits in der ungarischen Verfassungsänderung von 2018 verankert ist. Es müsse nämlich die Mitgliedschaft Ungarns in der EU „vereinbar sein mit den grundlegenden Rechten und Freiheiten, wie sie im Grundgesetz niedergelegt sind, und darf Ungarns unverzichtbares Verfügungsrecht in Bezug auf seine territoriale Integrität, Bevölkerung, Regierungsform und Regierungsorganisationen nicht begrenzen“ (Art. E Abs. 2 des ungarischen Grundgesetzes).

Der aus der nationalen Revolution von 1848 hervorgegangene Ruf nach einem unabhängigen Ungarn hat das politische Selbstverständnis des Landes nachhaltig geprägt. Die damals etablierte „Habsburg-Angst“, ein zentrales Element der ungarischen Identität, äußerte sich einerseits in der Furcht vor einem übermächtigen Wien und einem möglichen Kontrollverlust Budapests, andererseits in einem romantisierenden Festhalten an den Resten nationaler Souveränität (Barlai, 2017: 58-71). Ähnlich dieser historischen Abwehrhaltung gegenüber Wien ist auch die aktuelle Politik Viktor Orbáns von einer tief verwurzelten Skepsis gegenüber westlich-liberalen Mächten geprägt. Brüssel wird von ihm als Symbol einer bürokratischen, regulierungswütigen und fremdbestimmenden Macht dargestellt. Diese Rhetorik hat sich im Laufe der Jahre zunehmend verschärft. Die diplomatische Zurückhaltung, die Orbán früher in Brüssel an den Tag legte, ist inzwischen offener Konfrontation gewichen. Die historische „Habsburg-Angst“ scheint damit eine ideologische Parallele in der heutigen „Brüssel-Angst“ zu finden, die Viktor Orbán geschickt politisch instrumentalisiert. Indem er sich selbst als Freiheitskämpfer (Orbán, 2022) inszeniert, der die nationale Souveränität Ungarns gegen die vermeintliche Bevormundung durch Brüssel verteidigt, stärkt er sein Narrativ des Widerstands. Diese Strategie knüpft an historische Emotionen an und nutzt sie, um eine tief verwurzelte Skepsis gegenüber supranationalen Institutionen zu mobilisieren.

 

Die Lektionen der ungarischen Ratspräsidentschaft 2024

Orbáns Politik ist Teil eines größeren Trends: der Krise der liberalen Demokratie. David Runciman (2018) beschreibt in seinem Buch „So endet die Demokratie“ das Bild liberaler Demokratien, die „erschöpft und schwerfällig“ wirken. Noch beunruhigender ist die These von Levitsky und Ziblatt (2018), die zeigen, wie Demokratien sterben können, wenn ihre Institutionen geschwächt sind und ihre „Gatekeeper“-Funktion versagt - demokratische Rezessionen wie in Ungarn sind die Folge. Die Selbstinszenierung Ungarns als „Brücke“ zwischen der EU und autoritären Regimen wie Russland und China untergräbt die Bemühungen der EU, eine kohärente Außenpolitik zu entwickeln. Diese Position bietet autoritären Staaten eine zusätzliche Plattform zur Ausweitung ihrer Einflusssphären und schwächt gleichzeitig die Einheit und Geschlossenheit der EU. Besonders problematisch ist, dass Orbán mit dieser Politik das Signal aussendet, dass einzelne Staaten die gemeinsamen Werte und Strategien der EU untergraben können, ohne ernsthafte Konsequenzen befürchten zu müssen.

Der zweigleisige Charakter der ungarischen Ratspräsidentschaft wirft die zentrale Frage auf, wie einer möglichen Aushöhlung der Ziele der Ratspräsidentschaft durch nationale Agenden begegnet werden kann. Die Herausforderung besteht darin, sicherzustellen, dass die Ratspräsidentschaft ihrer ursprünglichen Rolle als neutrale Plattform zur Förderung der gemeinsamen Interessen der Europäischen Union gerecht wird und nicht von den innenpolitischen Prioritäten des amtierenden Mitgliedstaates dominiert wird.

Literatur

Arte (2024). EU-Ratspräsidentschaft: Bilanz Ungarns, https://www.arte.tv/de/videos/124150-000-A/eu-ratspraesidentschaft-bilanz-ungarns/

Barlai, Melani (2017). Das System Orbán. Spiel mit den alten Feindbildern. In. Universitas, 72 (853), S. 59–70.

Deutscher Bundestag (2024): Aktueller Begriff Europa Titel: Die Prioritäten der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft (2024), https://www.bundestag.de/resource/blob/1014868/d7ae541488972a68d9a0b9774f16415c/Die-Prioritaeten-der-ungarischen-EU-Ratspraesidentschaft-2024.pdf

Europäische Kommission. Draghi-Report (2024). The future of European competitiveness, https://commission.europa.eu/topics/strengthening-european-competitiveness/eu-competitiveness-looking-ahead_en#paragraph_47059

Euractiv (2024). Hungary’s prioritization of migration goals, https://www.euractiv.com/section/politics/

European Council, https://www.consilium.europa.eu/en/council-eu/presidency-council-eu/

Euronews. (2024). Hungary’s controversial presidency of the Council of the European Union comes to an end. Verfügbar unter: https://www.euronews.com/2024/12/31/hungarys-controversial-presidency-of-the-council-of-the-european-union-comes-to-an-end

Europäisches Parlament (2024), https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20241003IPR24420/debatte-zum-programm-des-ungarischen-ratsvorsitzes-mit-ministerprasident-orban

Hegedűs, D. (2024). Troll-diplomacy in the EU: Hungary’s controversial presidency. IPG Journal, https://www.ipg-journal.de/rubriken/europaeische-integration/artikel/troll-diplomatie-7647/

HU24EU 2024, https://hungarian-presidency.consilium.europa.eu/en/programme/priorities/

Levitsky, S./Ziblatt, D. (2018). How Democracies Die, New York: Crown.

Orbán, V. (2024). Eudebatestv am 19. Dezember. Viktor Orbán defends Hungary’s rather controversial EU Council Presidency! Make Europe Great Again, https://www.youtube.com/watch?v=6NI3fvmUj8k

Orbán, V. (2022). Rede vor Conservative Political Action Conference in Texas in Dallas/USA, 4. August, https://2015-2022.miniszterelnok.hu/speech-by-prime-minister-viktor-orban-at-the-opening-of-cpac-texas/

Political Capital (2024), Trolling to weaken the EU while winking at Trump: the first week of Hungary's rotating EU presidency, https://politicalcapital.hu/news.php?article_read=1&article_id=3407

Political Capital (2024a). Prioritizing politics over policy? - Hungarian EU Presidency Watch, https://politicalcapital.hu/news.php?article_read=1&article_id=3448

Rácz, A. (2024). Eine »Friedensmission«, die der Kapitulation den Weg ebnen soll. Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Verfügbar unter: https://dgap.org/de/forschung/publikationen/eine-friedensmission-die-der-kapitulation-den-weg-ebnen-soll

Rat der EU (2024), https://www.consilium.europa.eu/de/council-eu/presidency-council-eu/

Runciman, David (2018). So endet die Demokratie, Frankfurt/M: Campus.

Von der Leyen, Ursula (2024). Rede der Präsidentin bei der Plenartagung des Europäischen Parlaments, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_24_5201

Autorin

Melani Barlai ist seit September 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Andrássy Universität Budapest im Rahmen des Projekts Netzwerk Politische Kommunikation (netPOL). Zuvor war sie Lehrbeauftragte an der Professur „Europäische Regierungssysteme im Vergleich" der Technischen Universität Chemnitz. Seit 2014 ist sie Koordinatorin der ungarischen online Wahlhilfe Vokskabin. 2017 wurde sie an der Eberhard Karls Universität Tübingen promoviert. In ihrer Dissertation behandelte sie die Relevanz von historischen Konfliktlinien in Ungarn in der Posttransformationsphase. Sie ist Mitbegründerin und Direktorin der NGO, Unhack Democracy, die sich zum Ziel setzt, Unregelmäßigkeiten bei Wahlen in und außerhalb Europas aufzudecken und elektorale Integriät in Europa zu stärken. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Ungarisches Parteien- und Wahlsystem, elektorale Integrität in Ungarn, online Wahlhilfen.


Andrássy Universität Budapest
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