Das zwischenmenschliche Vertrauen ging weltweit im Zuge der COVID-19-Pandemie zurück. Um es wiederherstellen zu können, müssen maßgebende Faktoren erkannt werden. Dieser Fragestellung gingen Jakob Weitzer und Eva Schernhammer von der Abteilung für Epidemiologie an der Medizinischen Universität Wien sowie Gerald Steiner und Lukas Zenk von der Universität für Weiterbildung Krems gemeinsam mit Kolleg_innen des Transatlantic Research Lab on Complex Societal Challenges mit einer Studie in Deutschland, Österreich und der Schweiz nach.
Die Fähigkeit, starkes Vertrauen in jemanden oder etwas zu haben, ist Voraussetzung für Kooperation und konstruktive Reaktion auf Krisen. Die COVID-19-Pandemie scheint dieses Vertrauen innerhalb der Gesellschaften eher geschwächt zu haben. Die Vertrauenserosion in Westeuropa geht über die zwischenmenschliche Dimension hinaus und betrifft auch staatliche Strukturen, Regierungssysteme und wissenschaftliche Einrichtungen. Die während der COVID-19-Pandemie beobachtete rasche Zunahme antidemokratischer Bewegungen, die sich auf Verschwörungstheorien stützen oder an diese appellieren, sowie das Misstrauen gegenüber wissenschaftlichen und staatlichen Institutionen erfordern dringende Maßnahmen.
Komplexitätsdenken erhöht Vertrauen
Aus der vorliegenden Stichprobe von erwachsenen Einwohner_innen der D-A-CH-Region konnte abgeleitet werden, dass Optimismus, Komplexitätsdenken sowie die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, Extrovertiertheit und Verträglichkeit mit höheren Vertrauenswerten korrelierten. Unter Komplexitätsdenken wird die Fähigkeit verstanden, auch nicht-evidente Strukturen und Zusammenhänge in komplexen realen Systemen zu erkennen, sowie die damit in Verbindung stehenden emergenten Eigenschaften und adaptiven Kapazitäten. Dieses Denken ist dann die Grundlage für das Verständnis beispielsweise der Wechselwirkungen zwischen Entwicklungen in den Bereichen biologische Vielfalt, Wasser, Klimawandel und Gesundheit in Verbindung mit bestimmten Wirtschafts- und Energienutzungsszenarien. Auch der Umkehrschluss wurde bestätigt: Ein hoher Wert bei der Affinität zu COVID-19-Verschwörungstheorien ist ein signifikanter Prädiktor für geringes zwischenmenschliches Vertrauen. Diese Zusammenhänge blieben auch in multivariabel-adjustierten Modellen signifikant. Es gibt nur wenig bis gar keine Literatur über die Beziehung zwischen komplexem Denken, Optimismus und zwischenmenschlichem Vertrauen. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass in einer zunehmend komplexen und krisengeschüttelten Welt diesen Aspekten, deren Wurzeln bis in die frühe Kindheit zurückgehen, bereits in den ersten Schuljahren Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Neben ihrer Relevanz für die persönliche Weiterentwicklung und die Wirtschaft könnte Weiterbildung durch die Förderung von Komplexitätsdenken außerdem in jedem Lebensalter einen wichtigen Beitrag leisten. Dem Thema Vertrauensverlust in der Gesellschaft widmet sich auch ein aktueller Artikel der New York Times ("Why So Many Americans Are Losing Trust in Science"), der auf eine Studie des American Enterprise Institute mit ähnlichen Ergebnissen eingeht.
Mögen sich die Ergebnisse im D-A-CH-Raum je nach Geschlecht und Land leicht unterschieden – die Schweizer Teilnehmer_innen wiesen etwas höhere Vertrauenswerte auf als jene aus Deutschland und Österreich –, blieben die Muster der Korrelationen in den untersuchten Gruppen weitgehend unverändert. Möglicherweise aufgrund ihrer geringeren Risikosensibilität waren Männer vertrauensvoller als Frauen. Es zeigte sich auch ein Altersgefälle: Die Studienergebnisse legen nahe, dass das zwischenmenschliche Vertrauen mit zunehmendem Alter steigt, was auch durch die Neurowissenschaft untermauert wird.
Zur Studie
Die Daten wurden zwischen Juli und August 2021 im Rahmen einer Online-Umfrage unter 3.067 Erwachsenen erhoben, die nach Alter, Geschlecht und Wohnort in eine Quotenstichprobe erfasst wurden. Die Teilnehmer_innen waren zwischen 18 und 90 Jahren alt, deutschsprachig und in Deutschland, Österreich oder der Schweiz wohnhaft. Der Fragebogen, erstellt von Mitgliedern des Forschungsteams, umfasste 74 Fragen zu Lebensstil, Gesundheit und COVID-19 bezogenen Maßnahmen und Verhaltensweisen.
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