Komplexität als Begriff, aber auch als Forschungsrichtung erlebt gerade einen Hype. Gerald Steiner, Professor für Organisationskommunikation und Innovation an der Donau-Universität Krems, erklärt, warum dies nicht bedeuten muss, dass die Idee auch wirklich verstanden wurde.

Interview: Cathren Landsgesell 

upgrade: Es gibt wahrscheinlich keine Wissenschaft, die den Komplexitätsbegriff für sich reklamieren könnte. Selbst die Mathematik müsste sich wohl mit der Physik einig werden. Was ist also ein komplexes System?
Gerald Steiner: Ein System ist ein nach bestimmten Regeln definiertes Ganzes, mit Elementen, die darin wirken und Wechselwirkungen haben. Das muss aber noch nicht notwendigerweise komplex sein. Mechanische Systeme sind einfache Systeme. Auch wenn sie vielleicht kompliziert sind, so wie das Uhrwerk einer Uhr, das aus vielen Elementen besteht, die ineinandergreifen und die eine Wirkung aufeinander haben. Aber ein Uhrwerk verändert sich nicht über die Zeit. Es läuft nach einem bestimmten Muster in vorhersehbarer Weise ab. Das heißt, eine Uhr kann nicht komplex sein. Komplexe System verändern sich stetig; sie können Muster bilden, aber diese verändern sind. Eine Wolke ist das klassische Beispiel: Ich erkenne vielleicht eine Form darin, aber ich habe keinerlei Anhaltspunkt, um vorherzusagen, wie diese Wolke im nächsten Moment aussieht. Oder: Ein Virus und die Wechselwirkung mit dem Immunsystem sind eigentlich das perfekte Beispiel für Komplexität und die Notwendigkeit von neuen Ansätzen.

Die Idee, Gesellschaften könnten komplex sein, ist erst in den 1960er- und 1970er-Jahren mit dem Aufstieg der Informationstechnologien in die Sozialwissenschaften gewandert. Mit der Covid-19-Pandemie scheint diese Idee erneut aufzublühen. Kann die Perspektive der Komplexität etwas zur Klärung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen?
Steiner: Es ist tatsächlich eine Art Hype um die Komplexität entstanden, auch in den Wissenschaften rund um die „Complexity Sciences“. Die Corona-Krise führt uns deutlich vor Augen, dass eine komplexe Situation wie diese nicht deterministisch beschrieben werden kann: Es ist ein wunderbares Beispiel für Komplexität und auch ein Testfeld für die Complexity Sciences, und diese werden auch zugleich an ihre Grenzen gebracht.

Inwiefern?
Steiner: Die Grenzen sind dort, wo es um die Ableitung von Interventionen geht. Für analytische Zwecke sind Systemgrenzen leicht zu ziehen. Man kann Kopplungen, Wechselwirkungen, Interdependenzen von Systemen identifizieren. Auf dieser Ebene macht das zunächst einmal Sinn. Doch auch in der Realität werden künstlich Systemgrenzen gezogen: Ein Virus macht aber an der Grenze nicht halt. Das heißt, Alleingänge beim Setzen von Maßnahmen sind wenig wirksam. Wir müssen auch diese Logiken der einzelnen Systeme mitdenken, wenn man sinnvolle Interventionen setzen will.

Im allgemeinen Verständnis gilt: Das, was nicht einfach ist, muss wohl komplex sein. Komplexität ist hier gleichbedeutend mit „schwierig“, meistens „zu schwierig“. Hat die mediale Präsenz von Virologie, Epidemiologie und von Wissenschaft allgemein daran etwas geändert? 
Steiner: Zumindest ist jetzt wohl deutlich klar geworden, was gekoppelte Systeme und was Wechselwirkungen sind. Die breite Öffentlichkeit hat gesehen: Hoppla! Das System der Fauna und der Viren steht in Interaktion mit dem System des Menschen. Ökologische und soziale Systeme hängen voneinander ab. Es ist plötzlich jedem klar: Nicht nur technische Systeme sind von den Gesetzmäßigkeiten komplexer Systeme geprägt, sondern auch soziale Systeme. Da wie dort geht es um die Kopplung von Systemen, um die Wechselwirkungen zwischen Systemen und, innerhalb dieser, zwischen ihren einzelnen Elementen.

Können Complexity Sciences dieser Krise gerecht werden?
Steiner: Die Complexity Sciences jedenfalls. Anders als das vielleicht wahrgenommen wird, sitzen hier ja nicht ein paar Mathematiker und versuchen, die Zukunft vorherzusagen, sondern viele Disziplinen sind an der Modellierung von Systemdynamiken beteiligt. Sobald etwas nicht mehr deterministisch vorhergesagt werden kann, eben weil es komplex ist, stößt man ohne Interdisziplinarität recht schnell an die Grenzen. Nicht nur der Modelle, sondern auch der Interventionen, die ich daraus ableiten will: Wenn technologische Interventionen gelingen sollen, geht es nicht nur darum, ob eine App für das Contact Tracing funktioniert oder nicht, sondern diese Technologieinterventionen müssen auch die Kopplungen etwa mit dem Rechtssystem, Stichwort Datenschutzgrundverordnung, berücksichtigen.

Der Soziologe Armin Nassehi hat sinngemäß formuliert, Kausalität stelle man ohnedies immer erst im Nachhinein fest – wenn überhaupt. Was kann eine Komplexitätsperspektive zur Lösung gegenwärtiger Probleme beitragen?
Steiner: Die Erwartungshaltung ist immer, dass Komplexitätsforschung in die Zukunft blicken soll. Viele Modelle sind auch darauf ausgerichtet. Schließlich will man wissen, was ein Anstieg der Meeresspiegel bedeutet und wann damit gerechnet werden muss. Die Komplexitätsforschung muss natürlich eine Antwort auf die Fragen der Grand Challenges geben. Das ist für die unterschiedlichen Wissenschaftszweige eine Herausforderung, und die ist nicht trivial. Wir möchten es aber auch einfach haben, wir wollen am liebsten an einer Handvoll Kennzahlen ablesen können, wohin die Reise geht. Wir investieren zu wenig Denkkapazitäten in den Jetztzustand. Ich brauche die Sozialwissenschaften, Epidemiologen, Wirtschaftswissenschafter etc., aber auch Distributionslogistiker, wenn ich eine Krise bewältigen will.

Kann die Wissenschaft der Politik sagen, was sie tun soll?
Steiner: Nein, Wissenschaft kann nur die Entscheidungsqualität verbessern. Diese Möglichkeit, bessere Grundlagen für Entscheidungen zu liefern, ist aber nur ein Aspekt oder eine Facette der Complexity Sciences. Es ist sehr wichtig, meines Erachtens, dass hier die Rollen nicht vermischt werden. Es ist Aufgabe der Politik, Entscheidungen zu treffen. Die Wissenschaften müssen sich auf der anderen Seite ihrer Verantwortung bewusst sein, Zusammenhänge nicht zu verkürzen. Sie können die bestehende Komplexität aufzeigen, die Interdependenzen verständlich machen, das ist ihre Aufgabe. Es besteht umgekehrt auch eine große Gefahr, dass man sagt, es ist komplex, es ist keine Entscheidung möglich, solange wir nicht alles verstanden haben.

„Sobald etwas nicht mehr deterministisch vorhergesagt werden kann, eben weil es komplex ist, stößt man ohne Interdisziplinarität recht schnell an die Grenzen.“

Gerald Steiner

Bis zu dem Reaktorunfall 1986 in Tschernobyl sind die meisten Menschen wohl noch einem Risikoverständnis angehangen, das von Systemtheorie und Komplexitätsforschung bereits lange in Frage gestellt worden war. Hat sich unser Risikoverständnis inzwischen mehr jenem der Komplexitätsforschung angenähert?
Steiner: Wir denken eigentlich noch sehr oft in einem sehr vereinfachten und deterministischen Rahmen oder vielmehr Korsett. Das ist auch eine Lehre, die uns Covid-19 lehrt: Wir sehen auf einmal die Feedbackloops, die Abhängigkeiten der einzelnen Systeme. Es ist nicht damit getan, den Kontakt zum Virus einzudämmen, sondern zu verstehen, was eine Pandemie für das Gesundheitssystem, das Rechtssystem, das politische System bedeuten. Ich kann das Virus ja nicht auf ein System beschränken, sagen wir, das Gesundheitssystem, und sagen, das ist Sache der Medizin. So werde ich nie verstehen, welche systemischen Risiken da sind und wie ich auf sie reagieren kann. Die Intensivbetten symbolisieren am deutlichsten, was ein systemisches Risiko ist. Und es ist sofort klar, dass auf dieses Risiko nicht in Wien oder in Österreich im Alleingang reagiert werden kann, sondern dass man grenzüberschreitende Lösungen braucht. Damit tut sich besonders das politische System sehr schwer, weil es national ausgerichtet ist.

Heute sind Computer in der Lage, enorme Datenmengen in kurzer Zeit zu verarbeiten. Sind Big-Data-Anwendungen schließlich die Chance, der Komplexität auf die Spur zu kommen?
Steiner: Daten sind einerseits Ermöglicher für die Complexity Sciences. Es gibt keine Komplexitätsforschung ohne sie. Zugleich sind Daten auch die Grenze der Complexity Sciences: Wenn nämlich Daten nicht in der entsprechenden Qualität vorliegen oder ich nicht die Möglichkeit habe, das zu überprüfen, komme ich nicht sehr weit. Wenn bei einer Pandemie die Zahlen nicht passen, kann ich keine Cluster identifizieren, ich kann keine sinnvollen Interventionen setzen.


GERALD STEINER 
Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerald Steiner ist Dekan der Fakultät für Wirtschaft und Globalisierung der Donau-Universität Krems. In den dort angesiedelten Transdisciplinarity-Labs (Td-Labs) forscht Steiner u. a. zu nachhaltigkeitsorientierten Innovations-Systemen. In der Forschung des Universitätsprofessors für Organisationskommunikation und Innovation spielen systemische und transdisziplinäre Herangehensweisen eine besondere Rolle.

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