Viele Menschen rätseln über die Sinnhaftigkeit mancher Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Angesichts der komplexen Herausforderung ertönt der Ruf, die Politik solle evidenzbasiert handeln. Aber was genau bedeutet das in der Praxis?

Von Peter Illetschko

Dem Simulationsforscher Niki Popper wird nachgesagt, dass er Österreich hinsichtlich des Umgangs mit Daten in der Bekämpfung der Corona-Pandemie mit einer Dorf-Fußballmannschaft verglichen haben soll. Man könne von einer solchen Mannschaft über Nacht keine Teilnahme an der Champions League verlangen. Poppers Aussage darf man auch mit der Tatsache in Verbindung bringen, dass Register von Gesundheitsoder Wirtschaftsdaten hierzulande nicht untereinander verknüpft werden können – obwohl es die gesetzliche Basis dafür gäbe. Corona-Erkrankungsfälle etwa sind aufgrund des Epidemiologiegesetzes im Gesundheitsministerium gelistet. Um aber Rückschlüsse auf Berufsgruppen, auf die mögliche Gefährdung in diesen Jobs, auf die Gefahr von Ansteckung und Weitergabe in der Familie ziehen zu können, müssten diese Daten mit den Registern der Sozialversicherung verknüpft werden – was natürlich mit anonymisierten Daten passieren würde. Angesichts nur zäh anlaufender Impfkampagnen und steigender Fallzahlen, könnte man durch Datenverknüpfungen vermutlich auch feststellen, wo man Nachjustierungen bräuchte, um nicht in einen Betten-Engpass in Intensivstationen zu geraten, sagt etwa der Wirtschaftswissenschafter Harald Oberhofer von der Wirtschaftsuniversität Wien, einer der Begründer der Plattform Registerforschung. Das wäre eine Evidenz, die die Basis für politisches Handeln schaffen könnte. Da diese Datenverknüpfung aber nicht herzustellen ist, da es über viele andere Bereiche des Lebens auch nur schlechte oder gar keine Daten gibt, wirken die Anti-Corona-Maßnahmen der österreichischen Bundesregierung für viele Wissenschafterinnen und Wissenschafter wie Versuche im Experimentierlabor – und das ein Jahr nach Beginn der Pandemie.

Zwiespalt Politik – Evidenz

So entsteht ein Bild des Zwiespalts zwischen Politik und Evidenz: Von Lockdown-Maßnahmen Betroffene – Theater- und Operndirektoren, Kinobetreiber, Restaurantbesitzer – fordern vielfach Datenanalysen, die die Schließungen rechtfertigen könnten. Doch die scheint es nicht zu geben. Andererseits sprach aus epidemiologischer Sicht nichts für eine Öffnung des Handels am 8. Februar, dennoch ist dieser Schritt umgesetzt worden – den Warnungen von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern zum Trotz. Der Politologe Peter Filzmaier von der Donau-Universität Krems sagt: „Es gibt evidenzbasierte Politik, aber immer auf Basis einer subjektiven Auswahl seitens der Politik. Beispiele: Politiker lassen sich von ExpertInnengremium beraten, aber sie wählen aus, wer in den Expertengremien sitzt.“ Und sie können auch die Studienergebnisse auswählen, die sie für ihre Anliegen brauchen. In Einzelfällen, berichten Wissenschafter, werden Details von Untersuchungen aus dem Zusammenhang gerissen zitiert. Das seien aber Ausnahmen, wenn auch sehr ärgerliche.

„Es gibt evidenzbasierte Politik, aber immer auf Basis einer subjektiven Auswahl seitens der Politik.“

Peter Filzmaier

Mangelnde Transparenz

Viele Beobachter fragen sich, wie es zu entsprechenden politischen Entscheidungen kam. Gerald Gartlehner, Epidemiologe an der Donau-Universität Krems, erzählt von mangelnder Transparenz, die am Beginn der Corona-Pandemie an der Tagesordnung war. Es habe Berater des Bundeskanzleramtes gegeben, man habe aber nicht gewusst, wer das war, und auch nicht, wie sie zu bestimmten Entscheidungen kamen. „Das war wie eine riesige Blackbox, völlig intransparent.“ Man erinnere sich noch an eine Hochrechnung im Frühjahr 2020, etwa 100.000 Österreicherinnen und Österreicher würden im Zuge der Pandemie sterben, derzeit sind es rund 9.000. Damals sei viel von Evidenz gesprochen worden. „Es gab aber keine Evidenz, für niemanden, weil das Virus neu war und wir alle kaum Erfahrung damit hatten.“ Wie Entscheidungen gefällt werden, warum sie gefällt werden, sei Gartlehner, Mitglied der Ampelkommission im Gesundheitsministerium, teilweise bis heute nicht klar. Auch wenn sich die Einbindung wissenschaftlicher Meinungen in das politische Handeln in den vergangenen Wochen gebessert habe, wie auch Filzmaier bestätigt. ExpertInnen würden deutlich glaubwürdiger wirken als Politiker, was in der Natur der Sache liege. Man wirke der „Kultur der mangelnden Offenheit“ entgegen, wenngleich die Virologen oder Epidemiologen dabei immer am Ende der Pressekonferenz zu Wort kommen. Ist die besprochene Intransparenz typisch für Österreich, wie vielfach behauptet wird? „Ich tu mir schwer, das länderspezifisch zu betrachten.“ Man müsse schon immer wieder die unterschiedlichen Aufgaben in den „beiden Subsystemen Wissenschaft und Politik“ betrachten. Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter hätten die Aufgabe, „möglichst profundes Wissen zu generieren“, Politiker dagegen müssen „allgemeine Entscheidungen auf Basis dieses Wissens treffen, die möglichst viele zufrieden stellen“, so Filzmaier.

„Wir sollten endlich lernen, mit unsicherem Wissen umzugehen.“

Ulrike Felt

Elastischer Begriff

Wie Entscheidungen über Lockdowns oder Lockerungen gefällt werden, fragt sich die Sozialwissenschafterin Ulrike Felt von der Universität Wien seit Anbeginn der Corona-Krise. „Evidenzbasierte Politik“ sei ein „elastischer Begriff“, da seien zu viele Fragen offen: Welche Informationen sind für politische Entscheidungen relevant? Woher kommt die besagte Evidenz, und welche Evidenz ist wirklich wichtig? Felt: „Es muss da ja einen Verhandlungsraum geben, in dem die Sichtweisen von Politik und Wissenschaften aufeinandertreffen. Für mich ist nicht klar ersichtlich, welche Überlegungen zu einer bestimmten Entscheidung geführt haben.“ Die Wissenschafterin sieht Evidenz in den Studien, sie sieht die Politik, aber der Begriff „basiert“ oder „Basiertheit“ sei ihr zu ungenau beschrieben. Gäbe es da die nötige Transparenz, würde man auch die politische Legitimität schaffen.

Extrem experimentell

Die Corona-Bekämpfungsstrategien seien extrem experimentell, das werde so aber nicht kommuniziert. Wir versuchen jetzt etwas, das hoffentlich funktioniert, aber nicht funktionieren muss: Genau das hätte man vermitteln müssen. Nun habe die Politik ein Glaubwürdigkeitsproblem. Aber auch die Wissenschaft selbst müsse sich heute mehr denn je hinterfragen – vor allem hinsichtlich des Images, immer die Lösung für ein Problem parat zu haben. „Was selbstverständlich nicht stimmt“, sagt Felt. Filzmaier ergänzt, man könne die Wissenschaft nicht als Problemlöser abrufen, sie könne sich nur an die Problemlösung herantasten. Felt: „Wir sollten endlich lernen, mit unsicherem Wissen umzugehen.“

Diese Wahrheit würden Wissenschafterinnen und Wissenschafter stets zu vermitteln versuchen, die Öffentlichkeit würde das aber nicht sehen, sagt auch Filzmaier. Wahrscheinlich muss die Gesellschaft erst lernen, dass die Weltrettung nicht von einzelnen ExpertInnen in spezifischen Fachgebieten und auch nicht von Politikern kommen kann.


HARALD OBERHOFER 
Univ.-Prof. Dr. Harald Oberhofer ist stv. Institutsvorstand des Instituts für Internationale Wirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien, wo er eine Wirtschaftsprofessur hält. Oberhofer ist weiters Forscher am Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO sowie Research Fellow am CESifo.

GERALD GARTLEHNER 
Univ.-Prof. Dr. Gerald Gartlehner, MPH leitet das Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Donau-Universität Krems. Der Epidemiologe ist Direktor von Cochrane Österreich sowie stv. Direktor des Research Triangle Institute International – University of North Carolina Evidence-based Practice Center, USA.

PETER FILZMAIER 
Univ.-Prof. Dr. Peter Filzmaier hält die Professur für Demokratiestudien und Politikforschung an der Donau-Universität Krems. Er ist Koordinator von netPOL-Internationales und interuniversitäres Netzwerk Politische Kommunikation sowie geschäftsführender Gesellschafter des Instituts für Strategieanalysen (ISA).

ULRIKE FELT 
Univ.-Prof. Dr. Ulrike Felt ist Professorin für Wissenschafts- und Technikforschung am gleichnamigen Institut der Universität Wien, das Felt leitet. Sie studierte Physik, Mathematik und Astronomie. Sie fungiert u. a. als Präsidentin der European Association for the Study of Science and Technology (EASST).

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