Firmen und Mediziner_innen erwarten sich von der regenerativen Medizin lukrative Produkte, Betroffene erhoffen sich den Erhalt der Lebensqualität. Uneinheitliche Regularien hemmen die Entwicklung in Europa.

Von Jochen Stadler

„Es ist definitiv ein Hoffnungsmarkt“, sagt Lukas Moser vom Zentrum für Regenerative Medizin der Universität für Weiterbildung Krems. Für Firmen, die moderne Therapieprodukte entwickeln, und Mediziner_innen sowie Patient_innen, um Gesundheit und Lebensqualität wiederherzustellen. „Vor allem im Hinblick auf die zunehmende Überalterung unserer Bevölkerung und damit einhergehende gesundheitliche Auswirkungen für die Patient_innen steckt viel Hoffnung in der regenerativen Medizin“, erklärt er: „Das spiegelt sich in der intensiven Forschung wieder“. Als Beispiel nennt er Arthrose: „Die Abnutzung der Gelenkknorpeln kann man mittlerweile als Volkskrankheit bezeichnen“. Weltweit sind zwei Drittel aller Menschen über 65 Jahren betroffen, neben Leid und Lebensqualitäts-Einschränkungen hat sie enorme ökonomische Auswirkungen als eine Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit. „Über regenerative Therapien erhoffen wir, dass man das Fortschreiten der Arthrose hinauszögern oder sogar eine Neubildung der Gelenkknorpel ermöglichen kann“, so der Forscher und Mediziner. Dies könnten etwa Wachstumsfaktoren bewerkstelligen, die Regeneration fördern.

Durchhaltevermögen

Der Markt für fortschrittliche Medizintherapieprodukte (Advanced Therapy Medicine Produkts) ist ein besonderer, erklärt Emanuele Gatti, Gastprofessor für den Universitätslehrgang „Professional MBA Biotech, Pharma & MedTech Management“. Der Markt ist zur Sicherheit der Patient_innen stark reguliert. „Wir produzieren kein Spielzeug, sondern Produkte, die das Leben und die Lebensqualität der Patient_innen und ihrer Angehörigen beeinflussen“, so Gatti.

Emanuele Gatti

„Weiterbildung wie sie an der Universität für Weiterbildung Krems praktiziert wird, ist deshalb kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit zum Schutz der Patient_innen.“

Emanuele Gatti

Langwierige Forschung und minutiöse Tests stellen allerdings Disziplin und Durchhaltevermögen der beteiligen Wissenschafter_innen, Manager_innen und Firmen auf die Probe. „In der Wirtschaft gibt es den Begriff ‚Tal des Todes‘ für die Kluft, die Produkte und Therapien zwischen Wissenschaft und Anwendung überwinden müssen“, sagt Moser: „Manche davon kommen leider nicht darüber hinweg und auf den Markt, obwohl die Wirksamkeit bewiesen ist und sie den Patient_innen helfen könnten“. „Die Arbeiten für ein Produkt sind nicht fertig, wenn die klinischen Studien beginnen, wenn es eine Zulassung erhält oder auf den Markt kommt“, erklärt Gatti. Denn laut EU-Regularien und für das Wohl der Patient_innen müssen Wissen, Ersatzteile und Betreuung mehrere Jahre länger gewährleistet sein, als Therapieprodukte angeboten werden.

Unregulierte Regularien

Regularien sind für den Schutz der Patient_innen unumgänglich, sollten aber einheitlich sein. „In der Europäischen Union (EU) gibt es 27 Staaten und über 40 Behörden, die das Ganze sehr komplex gestalten“, erklärt Salma Michor von Michor Consulting in Wien. So sind etwa die Vorschriften für Gewebekultur (Tissue Engineering) Ansätze in Österreich anders als in Deutschland, ebenso für die Forschung und Anwendung von Stammzellen. Hierzulande ist es etwa verboten, embryonale Stammzellen zu gewinnen, während dies in anderen Ländern erlaubt ist. „Adulte“ Stammzellen (von erwachsenen Menschen) sind ethisch unproblematischer und können zum Beispiel aus dem Fettgewebe entnommen und umprogrammiert werden, um Knorpel zu regenerieren, sagt Moser. Weil die Regularien so divers sind, bedeutet die Zulassung in einem europäischen Land noch lange nicht, dass eine Anwendung auch in anderen Staaten erlaubt wäre. „Es ist sehr schwierig, wenn man europaweit ein Produkt oder eine Therapie auf den Markt bringen will“, so Michor. Auch die Rückerstattung durch die Gesundheitskassen ist uneinheitlich. „Kassenrückerstattung ist ein wichtiges Kriterium, dass ein zugelassenes Arzneimittel lukrativ auf den Markt gebracht werden kann“, berichtet sie. Das Regularien-Wirrwarr verkompliziert und verteuert den europäischen Markt für kleine und große Firmen. Patient_innen kommen dadurch teils später oder gar nicht an potenziell lebensverbessernde und -erhaltende Therapien.

Mühsal Medizinprodukteverordnung

Zusätzlich beschert die 2017 in Kraft getretene EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) den Forschenden und Entwickler_innen erhöhten bürokratischen Aufwand, berichtet Moser: Sie führte sogar zu Engpässen in den Zertifizierungsstellen. „In den EU Ländern wie Österreich ist dadurch alles noch viel komplizierter und aufwendiger für die Unternehmen geworden“, sagt er: „Europa droht deshalb als Forschungs- und Produktionsstandort hinter die USA zurückzufallen“. Unternehmen würden sich vermehrt überlegen, ob sie die aufwendigen Verfahren in Europa abwickeln sollen, wo sie doch in Übersee viel einfacher laufen. „In der Schweiz, die bekanntlich nicht zur EU gehört, diskutiert man aktuell, ob man den Markt auch für in Amerika durch die Arzneimittelbehörde FDA zugelassenen Produkte öffnen soll“, so der Mediziner: „Es ist ein schmaler Grat: Regulationen sind wichtig, um Patient_innen zu schützen, andererseits hemmen sie oft die Entwicklung von Therapien für die Menschen“. Manchmal fördern sie aber Innovationen, sagt Gerald Steiner von der Fakultät für Wirtschaft und Globalisierung der Universität für Weiterbildung Krems: „Einschränkungen können dazu führen, dass Innovationskräfte geschürt werden, denn wo es wehtut, ist man in der Regel stark motiviert, Taten zu setzen.“ Propere Antworten kann man heutzutage auch nicht „von ‚Daniel Düsentrieben‘ und mithilfe einzelner Innovationsgeheimnisse erwarten“, sagt Steiner: „Das ist eine fehlleitende Illusion“. Dazu müsste man das ganze Netzwerk von Betroffenen sowie potenziellen Barrieren erkennen und durchdringen. Außerdem brauche es die Orchestrierung aller Beteiligter und innovationsfördernde Umweltbedingungen.

Lukas Moser

„Es ist ein schmaler Grat: Regulationen sind wichtig, um Patient_innen zu schützen, andererseits hemmen sie oft die Entwicklung von Therapien für die Menschen.“

Lukas Moser

Technologien verstehen

„Auf keinen Fall sollte man Technologien verbieten, wie dies aktuell bei Automotoren durchgepeitscht wird“, meint Gatti. Ähnliches habe er bei Therapieprodukten für die Dialyse erlebt. „Damit verhindert man effektiv jegliche Weiterentwicklung“. Er plädiert für positive Zielvorgaben anstatt methodischer Einschränkungen. Die Abneigung gegen gewisse Techniken komme nicht selten von Unwissenheit: „Natürlich ist alles, was die Forschung neu entwickelt, für die Prüfer neu und unbekannt“, erklärt er. Deshalb brauche es zusätzliche Ausbildungen für die Regulator_innen. „Sie müssen keine Techniker_innen werden, aber sie müssen die Techniken verstehen“, so Gatti. Dies gälte freilich auch für das Gesundheitspersonal. Die besten Therapiemöglichkeiten brächten nicht viel, wenn nicht genügend geschulte Anwender_innen zur Verfügung stehen. „Teils liegt es auch am fehlenden Verständnis der Bedürfnisse potenzieller Nutzer, dass Technologien nicht erfolgreich sind“, ergänzt Steiner. „Weiterbildung wie sie an der Universität für Weiterbildung Krems praktiziert wird, ist deshalb kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit zum Schutz der Patient_innen“, meint Gatti.

Impulse aus der Praxis

Von wem kommen dann die Innovationen in diesem Markt angesichts seiner Herausforderungen und Unwägbarkeiten? Von großen multinationalen Konzernen bis zu jungen Kleinunternehmen leisteten unterschiedliche Akteure einen Beitrag zu den Innovationen, erklärt Moser. Spinoff (Ableger) und kleine Startup Unternehmen entwickeln oft Ideen und erste Ergebnisse der akademischen Grundlagenforschung weiter, so Moser. Weil sie jedoch nicht über die finanzielle und administrative Ausstattung für klinische Studien verfügen, zielten sie oft darauf ab, von „Big Playern“ gekauft zu werden. So erreichen sie, dass ihre Produkte schließlich auf den Markt und zu den Patient_innen kommen. Der Impuls kommt dabei aus der Praxis, die Forschung sei sehr an der klinischen Anwendung orientiert. Nicht wie oft behauptet, würden zufällig entdeckte Konzepte von der Laborbank später im Krankenzimmer genutzt – Prinzip „bench to bedside“ – , sondern umgekehrt: „Die Fragestellungen kommen zuallermeist aus der Klinik“.


EMANUELE GATTI

Dr. Emanuele Gatti studierte Bioengineering an der TU Mailand, arbeitete als Forscher und in der Medizinindustrie unter anderem als Regional CEO von Fresenius Medical Care. Er ist Gastprofessor für "Biotech, Pharma & MedTech Management” an der Universität für Weiterbildung Krems.

SALMA MICHOR

Dr.in Salma Michor studierte an der BOKU Wien und der Universität London Biotechnologie und hält einen Master of Business Administration der britischen Open University Business School. Sie ist Managing Director von QbD Austria und Lehrende an der Universität für Weiterbildung Krems.

GERALD STEINER

Univ.-Prof. Dr. Gerald Steiner ist System- und Komplexitätswissenschafter an der Universität für Weiterbildung Krems. Sein Forschungsfokus sind Multilevel-Innovationssysteme sowie Kommunikations- und Kollaborationsprozesse für nachhaltige Transition komplexer, gekoppelter Mensch-Umwelt-Systeme.

LUKAS MOSER

Dr. Lukas Moser, PhD studierte Humanmedizin an der Meduni Wien und absolvierte das PhD-Studium Regenerative Medizin an der Universität für Weiterbildung Krems. Er ist Arzt an der Abteilung für Orthopädie und Traumatologie am Uniklinikum Krems mit Forschungsschwerpunkten Knorpelregeneration und translationale Medizin.

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