Neurologische und orthopädische Erkrankungen hängen eng miteinander zusammen. Viele Schädigungen des Bewegungsapparates wären vermeidbar und Operationen erfolgreicher, würde man sie frühzeitig gezielt therapieren.
Von Cathren Landsgesell
Der als Homo Verminoso – in etwa Schädling – geschmähte Arzt Nicolas Andry, der sich hauptsächlich mit Parasiten beschäftigt hatte, hinterließ der Medizin den Begriff der Orthopädie: Sein Buch „Orthopädie, oder die Kunst, bey den Kindern die Ungestaltheit des Leibes zu verhüten und zu verbessern“, erschien 1741 in Paris. Andry war überzeugt, dass Phänomene seiner Zeit, etwa Buckel, Krummbeinigkeit oder Hinken, durch frühzeitiges Schienen verhindert hätten werden können, „ebenso wie man es bei einem jungen Baum macht“.
„Das Interessante an Andry ist, dass durch sein Buch die Orthopädie damit das erste medizinische Fach wurde, das sich als ein vorbeugendes Fach verstand“ sagt Walter Strobl vom Zentrum für Gesundheitswissenschaften und Medizin der Universität für Weiterbildung Krems fast 300 Jahre später. Strobl leitet in Krems den Lehrgang für Neuroorthopädie – den einzigen, den es im deutschsprachigen Raum gibt. Der Gedanke der Prävention spielt in der Neuroorthopädie eine besonders wichtige Rolle: Viele Schädigungen des Bewegungsapparates gehen auf neurologische Erkrankungen zurück und verfestigen sich ohne orthopädische Physiotherapie, Orthetik oder Operationen. „Es gibt viele gesetzmäßige Wechselwirkungen zwischen dem Gehirn, den Nerven und dem gesamten Bewegungssystem von Muskeln, Knochen, Gelenken und Gewebe“, so Strobl.
Gesamthafte Wirkung
Alle Nervenerkrankungen wirken sich auf die gesamte Biomechanik des Körpers aus, das gilt für sich langsam entwickelnde Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson ebenso wie für Entwicklungsstörungen des Gehirns im frühen Kindesalter. „Das liegt vor allem daran, dass jede neuronale Erkrankung einen Effekt auf die Muskeln hat”, sagt Kaveh Asadi, Neurochirurg am Paley Institute in den USA. „Die neuronale Schädigung führt zu einer Imbalance, die dann dauerhafte orthopädische Schäden nach sich zieht, etwa Skoliose, weil die Muskeln unterschiedlich stark belastet werden.“ Von der orthopädischen Chirurgie und Rehabilitation kommend, setzt das Paley Institute heute einen Schwerpunkt im Bereich Neurologie. „Der Zusammenhang zwischen neurologischen und orthopädischen Erkrankungen ist so stark, dass beides nur gemeinsam interdisziplinär behandelt werden kann“, so Asadi.
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„Der Plan des motorischen Ablaufs jeder willkürlichen Bewegung wird im Netzwerk des Gehirns konzipiert.“
Michaela M. Pinter
Die Nervenfasern, die Gehirn und Muskeln verbinden, gehören, sehr grob gesprochen, zu zwei Kategorien: Motorische Nervenfasern regen die Muskeln zu Kontraktion und Relaxation an und ermöglichen Bewegung; sensible Nervenfasern leiten sensorische Informationen von einer unendlichen Vielzahl von Rezeptoren über das Rückenmark an das Gehirn. Nur so ist es möglich, Bewegungen angemessen und präzise auszuführen, also ein Ei nicht zu zerbrechen, sondern den Griff rechtzeitig zu lockern. Beide Fasertypen kommen in allen Nerven vor.
Nerven und Bewegung
Bei einem Gehirntrauma werden die Informationsflüsse gestört bzw. etablieren sich erst gar nicht in einer funktional richtigen Weise. Muskeln kontrahieren unwillkürlich wie es etwa bei Spastiken der Fall ist oder sind permanent verkrampft. Wenn von den Nervenfasern keine Impulse zur Relaxation ausgehen, kann die Muskelspannung so stark sein, dass Knochen deformiert werden: „Ein sehr verspannter Muskel kann auch ein so starkes Gelenk wie die Hüfte aushebeln“, sagt die Orthopädin und Physiotherapeutin Fran Guardo, die die Rehabilitation am Paley Institute leitet.
Etwas Ähnliches geschieht häufig in Folge einer Zerebralparese, eine frühkindliche Gehirnschädigung, die eine Wahrnehmungsstörung bedingt. In Folge wird die Haltemuskulatur geschwächt, was die Bewegungsmuskulatur versucht, auszugleichen. Die Überaktivität führt dann dazu, dass Gelenke sich nicht richtig bilden können, etwa bei Hüftluxationen, bei denen der Gelenkkopf nicht mehr in der Hüftpfanne liegt. Weil verschiedene Muskelgruppen durch die Hirnschädigung nicht gleichmäßig angesteuert werden, entstehen – ohne Therapie – dauerhafte Fehlstellungen der Füße und Beine. Viele Kinder mit Zerebralparese können nicht richtig gehen, stehen oder sitzen, erlernen dies aber bei entsprechender früher Intervention.
Neujustierung
Zerebralparesen und ihre Folgen können operativ behandelt werden: „In einigen Fällen – nicht in allen – lohnt es sich zu prüfen, ob eine Operation der sensiblen Nervenfasern sinnvoll ist“, sagt Asadi. Bei dieser Operation, selektive dorsale Rhizotomie (SDR) genannt, werden einige dieser Nervenfasern dort gekürzt, wo sie das Rückenmark verlassen. So sollen die falschen Signale, die an das Gehirn zurückgemeldet werden, unterbunden werden, um so die Ursache von Spastiken zu lösen. Ob diese Neurochirurgie sinnvoll ist oder nicht, wird am Paley Institute jeweils individuell beurteilt: „Es hängt vom jeweiligen konkreten Gesamtbild ab, vom Zustand der Gelenke, der Bänder, vom Muskeltonus usw.“, erklärt Guardo. Die Operation führt dazu, dass sich das Zusammenspiel von Gehirn, Nerven und Muskeln neu justiert: „Der Feedback-Mechanismus baut sich, vereinfacht gesagt, wieder auf. Damit das Ergebnis dann tatsächlich ein Erfolg wird, ist eine anschließende Physiotherapie unabdingbar“, so Asadi.
Am Institut in den USA wird innerhalb von wenigen Tagen nach der Operation mit der Physiotherapie begonnen, die in der Regel sechs Monate in Anspruch nimmt. Die angewandten Techniken reichen von Dehn- und Kräftigungsübungen bis zu Orthesen und Elektrostimulation. „Es ist sehr intensiv und individuell angepasst“, so Guardo.
Nerven trainieren
„Der Plan des motorischen Ablaufs jeder willkürlichen Bewegung wird im Netzwerk des Gehirns konzipiert“, erklärt die Neurologin Michaela M. Pinter von der Universität für Weiterbildung Krems. „Bei der Motorik spielen vernetzte Hirnregionen eine besondere Rolle, wie unter anderem das Frontalhirn, die Basalganglien und das Kleinhirn. Diese stehen in Verbindung mit den absteigenden Bahnen des Rückenmarks und den peripheren Nerven, welche die einzelnen Muskeln innervieren. Stimuliert man einen peripheren Nerv, aktiviert man über das Rückenmark auch die entsprechende Region im Gehirn.“ In ihrer Forschung konnte Pinter bereits mehrmals zeigen, dass die sogenannte funktionelle elektrische Stimulation des Nervus peronaeus in der Lage ist, die Mobilität zu verbessern. Um eine Schwäche der Vorfußhebung – eine neurologisch bedingte motorische Störung, die oft nach Schlaganfall auftritt – zu therapieren, werden Elektroden oberflächlich über dem Wadenbeinköpfchen am Nervus peronaeus und den Muskel zur Vorfußhebung angebracht. Bei Einleiten der Schwungphase unterstützt die funktionelle elektrische Stimulation die Vorfußhebung. „Nach sechs Monaten kontinuierlicher funktioneller elektrischer Stimulation können wir einen Trainingseffekt feststellen und nachweisen, dass es zu einer quasi Stärkung der zum Gehirn aufsteigenden Nervenbahnen kommt“, fasst Pinter zusammen.
Indirekte Steuerung
An der Medizinischen Universität Wien arbeitet der Chirurg Oskar Aszmann an bionischen Prothesen – mit einer revolutionären Methode: Ein Titanimplantat wird direkt im Knochen verankert und über dieses Impulse an die Nervenfasern des Patienten weitergeleitet. Die darauf aufsetzende Prothese kann dann mittels Gedanken von den Träger_innen gesteuert werden. Gut ein Jahr nach der Operation sind die Patient_innen in der Lage, die Prothese in etwa so zu nutzen wie ihre eigenen Gliedmaßen. Damit dies gelingt, arbeitet das Team um Aszmann ebenfalls mit diversen physiotherapeutischen Methoden, zunächst unterstützt durch einen Computer. Das wichtigste Ziel ist das Training der Gedankensteuerung: „Der Physiotherapeut oder Therapeutin muss mit den Patienten detailliert die Funktionsebenen wie etwa Hand öffnen oder schließen durchgehen und erklären, woran der Patient denken muss. Die Gedankensteuerung muss man üben, es ist eine kognitive Leistung wie Klavierspielen oder Fahrradfahren“, erklärt Aszmann.
Die Kontrolle der Bewegung beruht bei den bionischen Prothesen auf indirekten Informationen wie etwa die Vibrationen des Elektromotors beim Greifen, eine sogenannte sekundäre Afferenz: „Die Sensitivität der Prothese ist indirekt, da wir ja an der Prothese selbst keine Rezeptoren haben und der Patient an der Prothese nichts spürt“, sagt Aszmann. „Die Patienten entwickeln mit der Zeit ein ganz ein feines Sensorium dafür, in welchem Bewegungszustand die Prothese ist. Das ist so, wie man anhand des Motorengeräuschs im Auto weiß, dass man einen Gang hoch oder runter schalten muss.“
Andry waren diese Zusammenhänge 1741 noch gänzlich unbekannt. Hätte er aber nicht mit dem Begriff Orthopädie auch die Idee der Vorbeugung in die Welt gesetzt, wäre diese Verbindung vielleicht erst viel später relevant geworden.
KAVEH ASADI
Kaveh Asadi, MD, PhD, FAANS ist Neurochirurg am Paley Orthopedic and Spine Institute in Palm Beach, Florida und auf pädiatrische Neurochirurgie spezialisiert.
OSKAR ASZMANN
Univ.-Prof. Dr. Oskar C. Aszmann ist Professor für Bionische Rekonstruktion an der Medizinischen Universität Wien, wo er das klinische Labor für Wiederherstellung von Extremitätenfunktionen leitet. Im Frühjahr 2020 gelang dort die Entwicklung der weltweit ersten voll integrierten bionischen Arm-Prothese.
FRAN GUARDO
Dr.in Fran Guardo ist Sportwissenschaftlerin und Physiotherapeutin. Sie leitet die Rehabilitationsabteilung des Paley Orthopedic and Spine Institute in Palm Beach, Florida und bildet Therapeut_innen und Chirurg_innen in Rehabilitationstechniken aus.
MICHAELA M. PINTER
Univ.-Prof.in Dr.in Michaela M. Pinter, MAS ist Professorin für Neurologie und Psychiatrie an der Universität für Weiterbildung Krems und leitet dort das Department für Klinische Neurowissenschaften und Präventionsmedizin.
WALTER MICHAEL STROBL
Dr. Walter Michael Strobl, MBA leitet den Lehrgang für Neuroorthopädie am Zentrum für Gesundheitswissenschaften und Medizin der Universität für Weiterbildung Krems.
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