Die Covid-19-Krise hat technologiegestütztem Lehren und Lernen an den Hochschulen zum Durchbruch verholfen. Nun stellt sich die Frage, was davon nach der Pandemie übrigbleiben wird.
Von Tanja Traxler
Begeben wir uns auf eine Reise in die Vergangenheit, in eine Zeit, als es in den höchsten Bildungsstätten üblich ist, dass Lehrende vor gefülltem Plenum ihre Vorträge halten. Studierende finden sich überwiegend in der passiven Rolle der lautlosen Zuhörenden wieder. Kommunikationstechnologien wie Smartphones gelten eher als Störenfriede denn als Hilfsmittel in diesem Setting. Wir schreiben das Jahr 2019. Doch dann betritt Sars-CoV-2 die Bildfläche und bringt auch den Prototyp der akademischen Lehre ins Wanken.
Obiges Bild ist freilich überzeichnet: Schon vor der Corona-Krise gab es zahlreiche Lehrende, die digitale Technologien engagiert in ihrem Unterricht einsetzten. Aber gerade im deutschsprachigen Raum wurden digitale Unterrichtselemente nur selten verwendet. Doch durch die zur Eindämmung der Pandemie erforderliche soziale Distanzierung war die digitale Lehre plötzlich die einzige Chance für die Hochschulen, das Sommersemester 2020 doch noch zu Ende zu bringen. Claudia von der Linden, Vorsitzende des Forums Digitalisierung der Österreichischen Universitätenkonferenz und Vizerektorin an der TU Graz, bezeichnet diese Situationen als „Zwangsdigitalisierung“. Noch im Vorjahr wäre so eine umfassende Transformation „undenkbar“ gewesen, sagt von der Linden. „Es war ein Sprung ins kalte Wasser.“
Wird die Welt nach der Pandemie eine andere sein als zuvor? Diese Frage stellt sich aktuell in vielen Bereichen des Lebens. Die Hochschulen sind davon nicht ausgenommen. Welche Erfahrungen werden hängenbleiben vom Corona-Semester? Werden die Lehrenden anders unterrichten als zuvor? Und welche Ansprüche werden die Post-Corona-Studierenden an die Universitäten stellen?
Technik und Didaktik
Wenn es darum geht, aus der Corona-Krise wieder herauszukommen, wird in vielen Bereichen auf Digitalisierung gesetzt. „Ich denke, das sollten wir an den Universitäten genauso machen“, sagt von der Linden. „Ich male mir gerne folgendes Bild: Es bläst ein Wind, der Wind of Change, da heißt es: Segel hissen!“ Wichtig sei dabei, den Nutzen für die Betroffenen im Fokus zu haben. „Digitalisierung um der Digitalisierung willen“ könne nicht das Ziel sein, sagt von der Linden. Doch im Gegensatz zu anderen Bereichen sind die Bedenken gegenüber digitalen Technologien im Bildungssektor äußerst stark ausgeprägt. Datenschutz-Überlegungen sind nicht selten das K.-o.-Argument, das gegen den Einsatz von an sich sinnvollen Digitalisierungsmaßnahmen an Schulen und Universitäten ins Treffen geführt wird.
Die Erschütterung durch die Pandemie im Bildungsbereich habe den Diskurs über Digitalisierung in der Bildung grundlegend gewandelt, sagt Michael Kerres vom Learning Lab an der Universität Duisburg-Essen, wo technologiegestützte Lernszenarien erprobt und erforscht werden. „Es geht heute nicht mehr um das Ausloten von Chancen und Risiken, sondern die Digitalisierung ist jetzt einfach da. Die Diskussion, ob das gut ist oder schlecht, ob wir das wollen oder nicht, erübrigt sich.“
Ein etwas anderes Fazit zieht Monika Gross über die vergangenen Wochen Corona-bedingter Fernlehre. „Wenn man mit der Technik noch nicht so versiert ist, kann einen die Vielzahl von Tools schon mal in den Wahnsinn treiben“, sagt die Professorin für Zell- und Molekularbiologie an der Beuth Hochschule für Technik Berlin, die in der deutschen Hochschulrektorenkonferenz als Vizepräsidentin für Digitalisierung und wissenschaftliche Weiterbildung zuständig ist. Die große Herausforderung für die Lehrenden beim Umstieg in die digitale Lehre besteht darin, dass es nicht mit der Aneignung neuer Technologien und Tools getan ist. In der digitalen Lehre sind vor allem auch andere didaktische Konzepte gefragt. „Einfach nur die Vorlesung vor dem Bildschirm halten, das ist zu wenig“, sagt Gross. Doch die Weiterbildung in Technik und Didaktik sei eine sehr zeitintensive Angelegenheit, wie sie aus eigener Erfahrung berichtet.
Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts
Dass sich dieser Aufwand lohnt, dafür sprechen die zahlreichen Chancen, die die Digitalisierung der Bildung birgt – und Notwendigkeiten, warum es ohne sie nicht geht. Dabei wäre zunächst einmal zu nennen, dass die digitale Transformation sämtliche Lebensbereiche betrifft und es kaum Arbeitsplätze gibt, die nicht von ihr berührt werden. „Die Digitalisierung zählt zu den Kulturtechniken des 21. Jahrhunderts und gehört heute zur Allgemeinbildung dazu“, sagt Iris Rauskala, die als Leiterin der Präsidialsektion im österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung für E-Learning zuständig ist. Ihr ist es wichtig, dass die Digitalisierung nicht nur didaktisch und technisch in der Bildung eingesetzt wird, sondern auch inhaltlich: Die Schülerinnen und Schüler sowie die Studierenden müssten in ihrer Ausbildung digitales Know-how entwickeln.
Der Einsatz von digitalen Technologien in der Hochschullehre bietet viele offensichtliche Vorteile für die Studierenden. Dazu zählt zunächst einmal die räumliche und zeitliche Flexibilisierung des Lehrens und Lernens. Das ermöglicht auch nicht-traditionellen Studierendengruppen oder jenen mit Betreuungspflichten eine akademische Ausbildung. Gleichzeitig bedeutet die Flexibilisierung Erleichterungen für Berufstätige, was die digitalisierten Unterrichtsformen zu einem wesentlichen Eckpfeiler für Weiterbildung und lebenslanges Lernen machen könnte.
Ein weiterer Vorteil sind individuellere Lernprozesse, wie Peter Parycek, Professor für E-Governance an der Donau-Universität Krems, betont. Unter dem Schlagwort Learning Analytics wurde in den vergangenen Jahren eine Entwicklung auf den Weg gebracht, wo Daten zu den Lernfortschritten von Schülerinnen und Schülern oder Studierenden gesammelt und analysiert werden. Werden diese Daten für einen Studiengang oder eine gesamte Hochschule ausgewertet, können beispielsweise curriculare Stärken und Schwächen identifiziert werden. Auf individueller Ebene erlaubt Learning Analytics maßgeschneiderte Empfehlungen für die nächsten Lernschritte. „Ein Hochschullehrender kann schwerlich auf die einzelnen Bedürfnisse, Vorkenntnisse und Lerngeschwindigkeiten eingehen. Ein Algorithmus kann das schon“, sagt Parycek. „So ist ein individuellerer Lernprozess möglich.“
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„Leider ist es immer noch so, dass die individuellen positiven Effekte von Lerndaten oft verwechselt werden mit Manipulation.“
Iris Rauskala
Warum die Nutzung von Lerndaten im deutschsprachigen Raum noch viel weniger weit fortgeschritten ist als etwa in angloamerikanischen Ländern, erklärt sich für Rauskala damit, dass es hierzulande „leider immer noch so ist, dass die individuellen positiven Effekte oft verwechselt werden mit Manipulation“. Natürlich würden sich bei solchen Anwendungen Fragen zum Datenschutz und Zugang zu den Daten stellen. „In unserer Tradition mit einem sehr starken Datenschutz sind solche Fragen viel schwieriger zu beantworten, als wenn es ein gewisses Grundvertrauen gibt, dass diese Daten den Betroffenen unterstützend zur Verfügung gestellt werden“, sagt Rauskala. Als erstrebenswertes Szenario nennt sie, wenn Studierende aufgrund ihrer individuellen Lerndaten vorgewarnt werden können, dass sie gefährdet sind, das Studium abzubrechen, und daher zu einem Beratungsgespräch eingeladen werden. „So etwas kann auf freiwilliger Basis beziehungsweise mit Zustimmung nicht verwerflich sein“, sagt Rauskala.
Tausche Service gegen Daten
Auch für Parycek ist die zentrale Frage bei Entwicklungen wie Learning Analytics, wer die Daten der Lehr- und Lerninhalte verwaltet. In vielen Bereichen haben sich Tauschgeschäfte von Online-Diensten gegen Daten etabliert. „Lernplattformen könnten einer der nächsten großen Bereiche sein, wo wir vermeintlich gratis Lerninhalte bekommen, aber unsere Lerndaten kapitalisiert werden“, sagt Parycek.
Ein weiteres Risiko, das die Digitalisierung der Hochschullehre mit sich bringen kann, besteht für Monika Gross darin, dass sich soziale Ungleichheiten verstärken können. „Nicht alle Studierenden haben eine eigenständige Organisationskompetenz. Das kann dazu führen, dass einige zurück bleiben.“ Für Gross bedarf es der sozialen Einbindung in eine Lerngruppe und der Empathie und Unterstützung durch die Lehrenden – beides sei im persönlichen Umgang stärker gegeben als in der digitalen Kommunikation. Besondere Aufmerksamkeit erfordert ihrer Meinung nach auch die Mitbestimmung von Studierenden. Gerade in Berlin sei diese traditionell sehr stark. Durch das Distance Learning im Corona-Semester sei sie aber stark zurückgegangen.
„Wichtig ist, Studierende nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Produzenten und als Verbreiter von Wissen und medialen Produkten ernst zu nehmen und auf diese Rolle vorzubereiten“, sagt Thomas Pfeffer von der Donau-Universität Krems, der über die Digitalisierung von Universitäten dissertiert hat. Für Pfeffer verändert sich daher auch der Bedarf an Quellenkritik: „Früher hat man Schülerinnen und Schüler gelehrt, wie man eine Qualitätszeitung von einer Boulevard-Zeitung unterscheidet. Heute führt die Digitalisierung zu exorbitant mehr medialen Angeboten als im analogen Bereich. Der kritische Umgang mit Quellen wird umso wichtiger.“
Umgedrehter Unterricht
Eine Unterrichtsmethode, die anschaulich macht, wie sich die Rolle von Lehrenden und Lernenden in der digitalen Lehre verändert, heißt Flipped Classroom. Die Idee dabei ist, dass Lehrende vorab Material zur Vermittlung der Unterrichtsinhalte zur Verfügung stellen, etwa Videos. Die Studierenden eignen sich die Inhalte selbstständig an. Im Präsenzunterricht mit den Lehrenden werden praktische Anwendungen erarbeitet oder die Lerninhalte ausführlich diskutiert. „Dabei kommen wir weg von der zentralen Wissensvermittlung durch den Lehrenden und erreichen ein selbstbestimmtes Lernen, wo die Lehrenden eher als Lern-Coaches dienen“, sagt Rauskala.
Das deutsche Hochschulforum Digitalisierung bildet eine Plattform, wo sich Lehrende und Studierende über die Chancen der Digitalisierung in der Hochschullehre austauschen. „Je mehr Menschen sich aus unterschiedlichen Ländern beteiligen, desto mehr profitieren wir alle davon“, sagt Gross. Auch von der Linden betont, dass Zusammenarbeit das Um und Auf einer gelingenden Digitalisierung ist: „Eine Hochschule allein kann die digitale Universität nicht effizient schaffen. Denn das Feld, das man bearbeiten muss, ist sehr groß und Zusammenarbeit wichtig.“ Auch die Österreichische Universitätenkonferenz hat daher eine Austausch- und Kooperationsmöglichkeit geschaffen: das Forum Digitalisierung.
Insgesamt spricht vieles dafür und manches dagegen, digitale Lehr- und Lernmethoden auch nach der Pandemie weiter zu forcieren. „Ich denke nicht, dass wir das Rad zurückdrehen können auf die Zeit vor Corona“, sagt Parycek. „Es ist jetzt bewiesen worden, dass digitale Lehre funktioniert, die Studierenden werden sie einfordern.“ Durch die Dominanz des Staates sei das Bildungssystem im deutschsprachigen Raum „sehr konservativ“, so Parycek. „Um Veränderungen anzustoßen, braucht es da oft disruptive Situationen – genau das ist durch Corona der Fall.“ Im besten Fall könne die jetzige Krise dazu dienen, die negativen Effekte möglichst bald hinter uns zu lassen und die positiven Aspekte stärker zu forcieren. Parycek blickt jedenfalls optimistisch in die Zukunft: „Wenn wir einmal auf Corona zurückblicken, werden wir vielleicht sagen: Das ist ein Innovationsbeschleuniger gewesen.“
Tanja Traxler ist Wissenschaftsredakteurin der Tageszeitung „Der Standard“ und gestaltet die Beilage „Forschung spezial“.
CLAUDIA VON DER LINDEN
Dipl. Wirtschaftsing. (FH) Claudia von der Linden, MBA (IMD) ist Vizerektorin für Digitalisierung und Change Management der TU Graz und Vorsitzende des Forums Digitalisierung der Österreichischen Universitätenkonferenz.
MONIKA GROSS
Prof. Dr. Monika Gross, Professorin für Zell- und Molekularbiologie an der Beuth Hochschule für Technik Berlin, ist in der deutschen Hochschulrektorenkonferenz als Vizepräsidentin für Digitalisierung und wissenschaftliche Weiterbildung zuständig.
PETER PARYCEK
Univ.-Prof. Dr. Peter Parycek ist Chief Digital Officer der Donau-Universität Krems. Er leitet das Department für E-Governance in Wirtschaft und Verwaltung sowie in Berlin das Kompetenzzentrum Öffentliche IT am Fraunhofer Fokus Institut. Er ist Mitglied im Digitalrat der Deutschen Bundesregierung.
MICHAEL KERRES
Prof. Dr. Michael Kerres ist Professor für Mediendidaktik und Wissensmanagement an der Universität Duisburg- Essen. Dort baute er das Learning Lab auf, eine Referenzumgebung für Forschung und Entwicklung zum mediengestützten Lehren und Lernen. Kerres gehört zu den Pionieren des E-Learning im deutschsprachigen Raum.
IRIS RAUSKALA
Mag. Dr. Iris Rauskala ist Leiterin der Präsidialsektion im österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung und für E-Learning zuständig. Davor war sie Bundesministerin für Bildung, Wissenschaft und Forschung.
THOMAS PFEFFER
Mag. Dr. Thomas Pfeffer forscht am Department für Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien an der Donau-Universität Krems. Er widmete seine Dissertation der Virtualisierung von Universitäten.
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