Das wundersame, menschliche Desinteresse für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Anstrengungen, die die Weltgesundheitsorganisation dagegen unternimmt.
Von Karin Pollack
Das digitale Zeitalter zeigt die Widersprüchlichkeit der menschlichen Psyche mitunter recht eindrücklich. Wie steht es um die Einschätzung von Gefahren für Leib und Leben? Das wollten Wissenschafter der University of California in San Diego wissen und holten sich für die Beantwortung dieser Frage Daten der Suchmaschine Google zu gesundheitsrelevanten Fragestellungen ihrer User. Zum anderen wertete man die Inhalte von US-Online-Medien-Portalen zwischen 1999 und 2016 aus. Als Kontrapunkt dazu stellten sie die Todesstatistiken des Centers for Disease Control and Prevention (CDC) gegenüber, die feststellen, an welchen Krankheiten die US-Bürger tatsächlich sterben.
Das Ergebnis: Die am meisten gesuchten Begriffe auf Google waren „Angst vor Mord“ und „Angst vor Terrorismus“. Statistisch betrachtet ist die Zahl der Menschen, die dar-an sterben, aber extrem gering. Was für die Menschen im 21. Jahrhundert jedoch wirklich lebensgefährlich ist, sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. Wenn es also um tatsächlich reale Gefahren wie Herzinfarkt oder Schlaganfälle geht, scheint die menschliche Psyche diesen Risikofaktoren gegenüber unbeeindruckt, zumindest scheint das Interesse dafür gering.
Und genau das ist ein Problem, mit dem sich die Verantwortlichen in den unterschiedlichen Bereichen der Gesundheit zunehmend konfrontiert sehen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind gefährliche Killer, es sind Erkrankungen, die viel Leid und Einschränkungen der Lebensqualität verursachen. Viel wichtiger ist dabei jedoch die Tatsache, dass sie zu einem Teil tatsächlich vermeidbar wären. Es ist unter anderem auch der ungesunde Lebensstil, der massiv zu den steigenden Krankenzahlen beiträgt. „Lifestyle-Erkrankungen“ werden sie deshalb auch genannt. Ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Rauchen und Alkohol sind die stillen Killer im 21. Jahrhundert. „Es gibt hunderte weitere Risikofaktoren, die sich gegenseitig beeinflussen und potenzieren“, sagt Thomas Dorner vom Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien und betont, dass zunehmend auch soziale Faktoren in den Mittelpunkt der Public-Health-Forschung gelangen. Bildung, Einsamkeit oder die Arbeitsplatzsituation seien, das zeigen Daten,
ins Risiko-Kalkül miteinzuberechnen.
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„Der Schlaganfall wird immer mehr zu einer Erkrankung von Menschen, die noch im Arbeitsprozess stehen.“
Valery Feigin
Knapp ein Drittel aller Todesursachen
2016 starben weltweit 17,9 Millionen Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, das sind 31 Prozent aller Todesursachen. Diese Situation und die Tatsache, dass eine Veränderung des Lebensstils diese Zahl massiv nach unten drücken könnte, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf den Plan gerufen. Bereits 2013 überlegten sich die Verantwortlichen Maßnahmen, um für dieses Problem öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen. Die Situation gestaltet sich als überaus schwierig. Viele Organsysteme im menschlichen Körper greifen ineinander.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben unterschiedliche Ursachen. Zu hoher Blutdruck oder zu hohe Cholesterinwerte zum Beispiel oder Arteriosklerose spielen eine Rolle. Doch es sind auch viele andere moderne Leiden, die das Herz-Kreislauf-System belasten. Diabetes zum Beispiel oder Atemwegserkrankungen wie COPD, die sich auf das Gesamtsystem auswirken. „Auch die Einkommenssituation eines Haushalts spielt eine Rolle“, betont Public-Health-Experte Dorner noch einmal. Vor allem die steigenden Zahlen der Adipositas-Kranken machen den Verantwortlichen große Sorgen, weil sich das Übermaß an Fettzellen im Körper besonders negativ auf das Herz-Kreislauf-System auswirkt, sogar schon bei Kindern.
Neue Bezeichnung NCDs
Jedenfalls fand die WHO es unumgänglich, für diese Gruppe an unterschiedlichen Erkrankungen eine neue Bezeichnung zu finden. Sie nannte sie noncommunicable diseases (NCDs), also nicht übertragbare Erkrankungen. Es sind, im Gegensatz zu Infekten, Erkrankungen, die nicht von Mensch zu Mensch direkt weitergegeben werden. Obwohl gerade die Ansteckungsgefahr die Menschen vielleicht alarmieren würde, ist dies bei den NCDs nicht der Fall. Es sind in ihrer Symptomatik oft unspektakuläre und langsam verlaufende Erkrankungen, deren Schädigung und letztendlich Vernichtung des Organismus schleichend passiert, aber von der Mehrheit der Menschen als unumgänglich akzeptiert wird.
Noncommunicable diseases (einschließlich Krebs) sind in Europa sogar für 86 Prozent der Todesfälle verantwortlich und für 77 Prozent aller Krankheiten die Ursache. In Österreich führen sie die Statistik der Erkrankungen sogar an. Sie sind auch die Ursache für frühzeitigen Tod, das heißt unter 70 Jahren. Meist sind es dann Herzinfarkte oder Schlaganfälle als Folge der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die die Menschen plötzlich aus dem Leben reißen. 2015 zählte die Statistik rund 17 Millionen solcher frühzeitigen Todesfälle weltweit. „Der Schlaganfall wird immer mehr zu einer Erkrankung von Menschen, die noch im Arbeitsprozess stehen“, sagt Valery Feigin, Berater der WHO aus Neuseeland. Angesichts dieser Fakten hat die Weltgesundheitsbehörde 2013 den „Global Action Plan for the Prevention and Control of NCDs 2013 bis 2020“ (Resolution WHA66.10) verabschiedet, es ist eine Roadmap mit Maßnahmen, die eine Orientierungshilfe für die politisch Verantwortlichen sein soll. Das Ziel: Die Zahl der frühzeitigen Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis ins Jahr 2025 um 25 Prozent zu reduzieren. Krankheitsprävention muss immer auf zwei Säulen stehen, ist Dorner überzeugt. Zum einen geht es um die Förderung der Gesundheitskompetenz auf individueller Ebene, Health Literacy ist der Fachbegriff dafür. Das bedeutet: regelmäßige Checkups, selbstverantwortliche Lebensführung und ein freiwillig gewählter gesunder Lebensstil, weil man vom unmittelbaren Nutzen für die eigene Person überzeugt ist.
Zum anderen müsse, so Dorner, aber auch die Gesellschaft gesundheitsfördernde Weichen stellen und Dinge, die erwiesenermaßen schaden, zurückdrängen. Als aktuelles Beispiel nennt er Rauchverbote. „Diese beiden Säulen dürfen keinesfalls gegeneinander ausgespielt werden“, betont Dorner, mit beiden gemeinsam werden die besten Effekte erzielt.
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„Niemand denkt bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen über die Rolle der Konsumgüterindustrie auf dem globalen Finanzmarkt nach.“
Ilona Kickbusch
Die Spuren der Industrialisierung
Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind kein individuelles Schicksal, das den einen oder anderen Menschen auf dieser Erde trifft. Im Gegenteil: Die massive Zunahme der Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist die Summe von vielen unterschiedlichen Ursachen in verschiedenen Lebensbereichen, die sich nach 120 Jahren Industrialisierung bei einer Vielzahl von Menschen als Krankheit manifestiert. „Herz-Kreislauf-Erkrankungen können keineswegs als selbst verschuldet betrachtet werden, sie sind eine Folge der Industrialisierung“, sagt Ilona Kickbusch, die für die WHO in der Kommission für nicht übertragbare Erkrankungen arbeitet. Es sei eben auch die Industrie, die die Menschen krankmacht, sagt sie. Zum Beispiel die Nahrungsmittelindustrie, mit deren Produkten Konsumenten und Konsumentinnen tagtäglich unbewusst im Supermarkt konfrontiert sind. Wo der Zusammenhang ist? Essbares, das im Supermarkt verkauft wird, muss haltbar gemacht werden. Zucker und Salz sind beliebte Mittel dafür. Deshalb schaden auch Fertiggerichte dem Herz-Kreislauf-System. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in diesem Verständnis führend bei den „industrial epidemics“, also Erkrankungen, die durch die veränderten Lebensgewohnheiten der Menschen entstehen.
Westlicher Lebensstil und seine Folgen
Die WHO hat über die letzten Jahre auch beobachtet, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen immer dann massiv zunehmen, wenn der sogenannte „westliche Lebensstil“ in einem Land Einzug hält. Vor vier Jahren hat die WHO deshalb den Terminus „commercial determinants for health“ als neuen Fachbegriff eingeführt. Das große Problem sei, so Kickbusch, dass gegen die massiven Werbekampagnen der großen Nahrungsmittelkonzerne mit rationalen Argumenten einfach nicht anzukommen ist. „Mit emotionalen Botschaften werden Lügen verbreitet“, sagt sie.
„Industrial epidemics sind von Profitgedanken verursachte Erkrankungen“, formuliert die WHO in einem richtungsweisenden Aufsatz in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“. Ein Beweis für diese These ist auch die erstmals sinkende Lebenserwartung im am stärksten industrialisierten Land der Welt. Im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte die WHO einen Bericht, demzufolge erstmals seit vielen Jahrzehnten die Lebenserwartung der Amerikaner zurückgegangen ist. Männer in den USA werden heute im Durchschnitt nur mehr 76 Jahre, 2014 waren es noch 79 Jahre. „Fettleibigkeit ist eine der Ursachen dafür“, sagt die WHO-Datenspezialistin Samira Asma.
Der „American Lifestyle“ ist aber auch insgesamt toxisch für die Gesundheit. In kaum einem anderen Land sind die Menschen stärker auf ihr Auto als Fortbewegungsmittel angewiesen, Bewegungsarmut ist die Folge, eine Determinante für NCDs, so wie auch die Luftverschmutzung: „Je größer die Feinstaubkonzentration in der Atemluft, desto wahrscheinlicher sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, sagt Thomas Meinertz, Chefkardiologe bei der deutschen Herzstiftung. Feinstaub gelangt beim Einatmen in das Lungenepithel und dadurch ins Blut. Als Fremdkörper löst er im Gefäßsystem eine Immunreaktion in Form einer chronischen Entzündung aus und diese wiederum triggert Arteriosklerose – ein Verursacher von Herzinfarkt und Schlaganfall. Deshalb, so Meinertz, ist eine nachhaltige Verkehrswende oder der Ausstieg aus der Energiegewinnung durch Kohle eine gesunde Maßnahme im Sinne der Eindämmung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
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„Es gibt neben ungesunder Ernährung, Rauchen und Alkohol hunderte weitere Risikofaktoren, die sich gegenseitig beeinflussen und potenzieren.“
Thomas Dorner
Rolle der Konsumgüterindustrie
Ilona Kickbusch sieht die Zusammenhänge allerdings in einem noch weiteren Rahmen. „Niemand denkt über die Rolle der Konsumgüterindustrie
auf dem globalen Finanzmarkt nach“, sagt sie, schon gar nicht die Politiker. Viele große Konzerne notieren an den internationalen Börsen. Dass Profitmaximierungsstrategien krankmachen, ist eine Verflechtung, derer sich die wenigsten bewusst sind. Diskutiert werden Steuern, zum Beispiel auf Zucker oder Fleisch, als mögliche Maßnahme, um den Markt in gesündere Bahnen zu lenken – politisch meist wenig populäre und damit auch wenig erfolgversprechende Maßnahmen.
Apropos Politik. „Wir haben Hinweise, dass auch die Tabakindustrie am globalen Finanzmarkt viel Geld mit High-Return-Aktien verdient“, sagt sie, und interessanterweise seien es in erster Linie rechte Parteien, die von der Tabakindustrie unterstützt werden und deshalb Nichtraucher-Gesetze blockieren.
NCDs schwächen Volkswirtschaft
Gesamtwirtschaftlich gesehen schwächen die nicht übertragbaren Erkrankungen auf lange Sicht nämlich die Volkswirtschaften. Carry Adams, Vorsitzender der NCD Alliance, rechnet vor, dass „es zu jährlichen Einbußen im Bruttoinlandsprodukt der Länder von bis zu vier Prozent führen könnte“. NCDs verursachen hohe Kosten, sodass Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Übergewicht oder Diabetes meist über viele Jahre versorgt werden müssen. WHO-Berater Valery Feigin unterstreicht deshalb die Wichtigkeit von globalen Awareness-Kampagnen wie jene der World Stroke Organization, die am 28. Oktober die „Stroke Riskometer App“ in 15 Sprachen vorstellen wird (siehe auch Interview mit Michael Brainin). Sie berechnet die individuelle Wahrscheinlichkeit, in den nächsten fünf bis zehn Jahren einen Schlaganfall zu erleiden, mahnt zu Check-ups zu Blutdruck und Cholesterin und gibt Lifestyle-Tipps, um das Risiko zu reduzieren. „Wir gehen davon aus, damit die Zahl der Schlaganfälle signifikant reduzieren zu können“, so Feigin.
Die größte Hürde wird aber wohl bleiben, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen vor einem Schlaganfall oder Herzinfarkt keine Schmerzen verursachen und sich deshalb der menschlichen Aufmerksamkeit immer entziehen werden. Es wäre eine Aufgabe der politisch Verantwortlichen, aus der Vogelperspektive gesundheitsfördernde Maßnahmen zu setzen und Gesetze in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen auf ihre Gesundheitstauglichkeit abzuklopfen und gegebenenfalls gegenzusteuern. Das wäre ein wirklich ambitioniertes Ziel.
Karin Pollack leitet das Ressort Gesundheit in der Tageszeitung „Der Standard“
VALERY FEIGIN
Dr. Valery Feigin ist Professor für Epidemiologie und Neurologie. Er fungiert als Direktor des National Institute for Stroke and Applied Neurosciences in Neuseeland. Feigin ist weiters Berater der Weltgesundheitsorganisation WHO im Bereich Schlaganfall und arbeitete dazu an der WHO-Klassifikation der Krankheiten ICD-11.
ILONA KICKBUSCH
Dr. Ilona Kickbusch studierte Politikwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie ist derzeit ao. Professorin am Graduate Institute of International and Development Studies in Genf, Schweiz. Kickbusch leitete für die WHO deren Global-Health-Promotion-Programme.
THOMAS MEINERTZ
Der Kardiologie und Pharmakologe Prof. Dr. Thomas Meinertz ist Chefkardiologe bei der deutschen Herzstiftung, als deren Vorsitzender er früher fungierte. Er studierte Humanmedizin an den Universitäten Mainz und Innsbruck. Er leitet die kardiologische Abteilung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.
THOMAS DORNER
Assoc. Prof. PD Dr. Thomas E. Dorner, MPH, ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Public Health und stellvertretender Leiter der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin des Zentrums für Public Health der Medizinischen Universität Wien.
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