Derzeit leben in Österreich rund 130.000 Menschen mit einer Demenz. Die Prognosen zeigen, dass sich die Zahl der Betroffenen alle 20 Jahre verdoppeln wird. Ist unsere Gesellschaft darauf vorbereitet?
Von Michaela Endemann
Demenz bezeichnet laut der International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation WHO ein Syndrom, das als Folge einer meist chronisch fortschreitenden Erkrankung des Gehirns vielfältige Störungen auslöst: Denken, Gedächtnis, die Orientierung, die Sprache und das Urteilsvermögen eines Menschen können beeinträchtigt sein. Die häufigste Form einer Demenz ist die Alzheimer-Krankheit, die etwa 60 bis 80 Prozent der Erkrankten betrifft, gefolgt von der vaskulären Demenz mit einem Anteil von ca. 15 bis 20 Prozent. Bekannt sind zahlreiche weitere Demenzformen, die jedoch wesentlich seltener diagnostiziert werden.
Die WHO spricht schon lange von einer wachsenden Bedrohung, Kostenexplosion infolge rasant steigender Behandlungs- und Pflegekosten inklusive. Prävention, Behandlung und ein aktiverer Umgang mit Betroffenen solle in der Gesellschaft oberste Priorität erhalten. Viele Länder haben sich mit diesem Thema auseinandergesetzt, zumindest eine Demenzstrategie erstellt, und versuchen laufend, die Versorgung demenzkranker Personen zu verbessern. So auch Österreich. Denn Experten sind sich da einig: Unsere Gesellschaft und vor allem unser Gesundheitssystem sind derzeit für die prognostizierte Zunahme an Erkrankten nicht optimal vorbereitet.
„Gut leben mit Demenz“
Auf der Grundlage des Österreichischen Demenzberichtes 2014 basiert die 2015 erarbeitete Demenzstrategie „Gut leben mit Demenz“ von Gesundheits- und Sozialministerium. Die Handlungsempfehlungen und Wirkungsziele umfassen unter anderem die Punkte Teilhabe und Selbstbestimmung, Informationen aufbereiten, Wissen und Kompetenz stärken bis hin zu Versorgungsbedingungen sicherstellen und Forschung. 228 Praxisbeispiele und 86 Maßnahmen aus ganz Österreich sind auf der Website www.demenzstrategie.at zu finden.
Dennoch ist die Umsetzung ein schwieriges Terrain, denn das Gesundheitssystem ist österreichweit nicht einheitlich, der Pflegesektor vom Gesundheitssektor organisatorisch und monetär getrennt. Christoph Gisinger, Donau-Universität Krems und Haus der Barmherzigkeit, sieht vor allem auch ein personelles Problem: „Es muss neben geeigneten Maßnahmen auch eine Beschäftigungsoffensive geben, mit der Chance, auch später in den Beruf einzusteigen, um dem jetzt schon absehbaren Pflegepersonalnotstand entgegenzuwirken.“
Stefanie Auer, Demenzforscherin an der Donau-Universität Krems, sieht in der Demenzstrategie einen guten Anfang, sich mit diesem Thema österreichweit auseinanderzusetzen: „Entscheidungsträger sind zögerlich, wenn es um flächendeckende Umsetzungen von konkreten evidenzbasierten Praxismodellen geht. Diese Praxismodelle sollen Hilfestellungen schnell und effizient zu den betroffenen Personen und ihren Familien bringen.“
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„Wir haben in Österreich eine Demenz-Erkennungsrate von ca. 20 bis 30 Prozent, es gibt Länder, die liegen bei 70 Prozent.“
Stefanie Auer
Grundlagendaten für die Langzeitpflege
Am Zentrum für Demenzstudien an der Donau-Universität Krems wurden unter der Leitung von Stefanie Auer in Kooperation mit dem oberösterreichischen Verein MAS Alzheimerhilfe und der Karls-Universität in Prag im Projekt DEMDATA erstmalig vielschichtige Daten in der Langzeitpflege erhoben. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die Erfassung des kognitiven Status der Pflegeheimbewohner sowie zahlreicher weiterer medizinischer und sozialer Parameter. Auch die Betreuungsteams, deren Belastungen und Probleme der Angehörigen wurden untersucht. Die Ergebnisse bieten eine Basis zur Erarbeitung evidenzbasierter Konzepte.
Anzahl der Demenzkranken unterschätzt
Die umfassende Datenerhebung brachte auch unerwartete Ergebnisse: Der Anteil von Bewohnern in Alten- und Pflegeheimen, die mit Demenz leben, ist deutlich höher, als die Angaben in den Krankenakten vermuten lassen. Dazu Auer: „Statt der in den Krankenakten verzeichneten Diagnosen von etwa 65 Prozent beträgt der Anteil der tatsächlich Betroffenen 85 Prozent, das ist beunruhigend und eine Herausforderung für die Pflegeteams.“ Multidisziplinäre Teams, wie bereits in den Niederlanden etabliert, Aus- und Weiterbildung zur zeitgerechten Diagnose könnten helfen, mahnt Auer ein.
„Wir haben heute eine Erkennungsrate von ca. 20 bis 30 Prozent, es gibt Länder, die liegen bei 70 Prozent.“ Wichtig ist Auer, den Unterschied zwischen Früherkennung und zeitgerechter Diagnose klarzustellen und dementsprechende Angebote bereitzustellen: „Man sollte den Menschen Mut machen, sie motivieren und unterstützen, sich frühzeitig dem Defizit zu stellen und die Chancen einer zeitgerechten Diagnose zu nutzen.“
Modell Demenzservicestelle
„Die Evaluierung der Demenzservicestellen hat ergeben, dass sich die Lebensqualität der Personen mit Demenz und der Angehörigen verbessert hat und sich Krankheitsverläufe zugunsten der früheren Demenzstadien verändert haben“, resümiert Auer. Das Land Oberösterreich setzt dieses Modell nun flächendeckend um. „Das ist das erste evidenzbasierte Früherkennungs- und Betreuungsprogramm für Personen mit Demenz und deren Angehörige in Österreich“, freut sich Auer. In den Demenzservicestellen werden niederschwellige Angebote für
Personen mit Demenz und deren Familien gemacht, darunter Früherkennung, Beratung, klinisch-psychologische Testung und stadiengerechtes Training für Betroffene sowie Schulungen für Angehörige.
Demenzfreundliche Polizei
Im Zuge der Arbeit in den Demenzservicestellen war auch schnell klar: Polizisten sind als Berufsgruppe im öffentlichen Raum stark gefordert, da sie oft erste Ansprechpartner in Krisensituationen sind. Um Polizisten optimal für ihre Aufgabe zu rüsten, wurde das E-Learning-Projekt „Einsatz Demenz“ in Kooperation mit der Sicherheitsakademie (SIAK) Wien initiiert. Finanziert wurde das Projekt vom Fonds Gesundes Österreich sowie von der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter (BVA). „Wir haben bisher 9.100 Polizisten geschult, die jetzt deutlich mehr Handlungssicherheit im Umgang mit Menschen mit Demenz haben, und 148 demenzfreundliche Polizeidienststellen ausgezeichnet“, freut sich Auer über den Erfolg. Dieses Projekt wurde unter anderem mit der Sozialmarie 2018, dem eAward 2019 sowie dem österreichischen Verwaltungspreis 2019 ausgezeichnet. Eine Erweiterung des Programmes auf andere Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes ist in Arbeit.
Ursachenforschung
Woher kommt eigentlich Demenz? Die Medizin kennt neben dem individuell unterschiedlich verlaufenden natürlichen Alterungsprozess Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthochdruck, Depression und Diabetes bzw. Übergewicht. Yvonne Teuschl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Neurowissenschaften, erforscht im EU-Projekt E-PREDICE, inwieweit schon Prädiabetes, also noch nicht manifester Diabetes, einen Einfluss auf die Gehirnleistung hat und einen Vorboten von Demenz darstellen könnte und ob dies durch Diabetesmedikation und einen gesunden Lebensstil verhindert werden kann. „Erste Tests zeigten, dass auch das Gehirn bereits betroffen ist und die kognitive Leistung im Vergleich zu gesunden Probanden geringer ist.“ Zudem würde es Hinweise geben, dass ein gut eingestellter Diabetes ohne große Zuckerschwankungen sich weniger schädigend auf die Gefäße, auch im Gehirn, auswirke als hohe Schwankungen. „Es wäre in Zukunft wichtig, dass Diabetologen die kognitiven Leistungen ebenfalls überprüfen, auch wenn die Ergebnisse erst der Anfang sind“, so Teuschl.
Ein Ansatzpunkt weltweiter Forschungen ist, den biologischen Alterungsprozess besser zu verstehen. „Denkbar wäre, nicht die Demenz zu behandeln, sondern den Alterungsprozess an sich beeinflussen zu können“, so Gisinger. Diesen Effekt erreicht man durch Reduktion der Kalorienzufuhr bei ausreichender Gabe von Vitaminen und Spurenelementen („kalorische Restriktion“) und mit verschiedenen chemischen Substanzen, wie dem Antidiabetikum Metformin, die den gleichen Mechanismus in Gang zu setzen imstande zu sein scheinen. Inwieweit dieser Effekt bei Menschen anwendbar wäre, sei allerdings noch nicht geklärt, so Gisinger.
Einig sind sich alle Expertinnen und Experten darin, dass neben einer frühzeitigen Diagnose die Prävention durch Senkung von Risikofaktoren bzw. eine Steigerung von schützenden Faktoren wesentlich sind. Denn ein Heilmittel für Demenz gibt es derzeit noch nicht.
Erste Kremser Demenzkonferenz
5. - 7. November 2019
www.demenzstrategie.at
STEFANIE AUER
Univ.-Prof. Dr. Stefanie Auer ist Leiterin des Zentrums für Demenzstudien am Department für Klinische Neurowissenschaften und Präventionsmedizin an der Donau-Universität Krems. Sie studierte Psychologie an der Karl-Franzens-Universität in Graz und war vor ihrer Berufung an die Donau-Universität Krems Research Assistant Professor an der New York University
CHRISTOPH GISINGER
Univ.-Prof. Dr. Christoph Gisinger ist Leiter des Zentrums für Geriatrische Medizin und Geriatrische Pflege am Department für Gesundheitswissenschaften, Medizin und Forschung der Donau-Universität Krems sowie Leiter der Akademie für Altersforschung am Haus der Barmherzigkeit.
YVONNE TEUSCHL
Ass.-Prof. Dr. Yvonne Teuschl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Neurowissenschaften der Donau-Universität Krems. Sie studierte Biologie an der Universität Wien und promovierte an der Universität Zürich, wo sie als Universitätsassistentin am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften arbeitete.
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