Zwangsarbeit und Zwangslager gehörten während des Zweiten Weltkrieges zur Normalität des Kriegsalltages. Zivile Zwangsarbeiter:innen, Kriegsgefangene, KZ- und Justizhäftlinge aus ganz Europa sowie andere Ausgegrenzte wurden systematisch zur Zwangsarbeit überall in der Wirtschaft eingesetzt – sei es in der Industrie, in Gewerbebetrieben oder auch in privaten Haushalten. Behandlung und Unterbringung waren sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reichte von KZ-Außenlagern oder Lagern mit KZ-ähnlichen Zuständen bis hin zu kleinen Sammelunterkünften mit relativ guter Behandlung und Unterbringung. Die Sammelunterkünfte befanden sich direkt am Ort ihres Arbeitseinsatzes – in leerstehenden Gebäuden, Gasthaussälen oder in eigens errichteten Baracken auf dem Firmengelände. Lager gab es während der Kriegszeit in beinahe jedem Ort. Der Zwangscharakter dieser Unterbringungen war unübersehbar: Kriegsgefangene wurden bewacht, und auch sogenannte „Ostarbeiter“ unterlagen strengen Vorgaben sowie eingeschränkter Bewegungsfreiheit. Bei Zuwiderhandlung war mit strengen Strafen zu rechnen. Teilweise wohnten die Zwangsarbeiter:innen auch bei ihren ‚Arbeitgeber:innen‘.
Heute sind diese ehemaligen Orte der Zwangsunterbringung nur selten als solche erkennbar oder erkennbar gemacht. Die Bestandsgebäude befinden sich mitten im Alltagsraum und haben ganz andere Funktionen. Ehemalige Baracken wurden abgerissen.
Die Arbeit der Citizen Scientists im Bezirk Krems:
Noch immer gibt es große Forschungslücken zu diesem Thema, nur ein Bruchteil der Zwangslager, die der Unterbringung dieser Verschleppten in der damaligen „Ostmark“ dienten, ist heute bekannt. Citizen Scientists, die sich am Forschungsprojekt „NS-‚Volksgemeinschaft‘ und Lager im Zentralraum Niederösterreich“ (2022-2024, durchgeführt vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs und der Universität für Weiterbildung Krems, Forschung und Leitung Citizen Science im Bezirk Krems: Edith Blaschitz) beteiligten, haben zu dieser oft verdrängten Geschichte geforscht.
Die Ergebnisse der Kremser Citizen Scientists werden in der Ausstellung „Heute befinden sich hier Wohnungen, eine Arztpraxis und ein Kaffeehaus.“ NS-Zwangslager im Bezirk Krems – eine Spurensuche“ (Rathaus Krems) und im Buch „NS-Zwangsarbeit und Lager. Citizen Scientists suchen nach Spuren“ präsentiert.
Weiters stellten Citizen Scientists ihre Forschungen in der internationalen Abschlusstagung „Mitten im Ort. Lager im Nationalsozialismus“ (4.-6.11.2024) an der Universität für Weiterbildung vor.
Um Spuren von NS-Zwangslagern im Bezirk Krems zu finden, haben sich die ehrenamtlich Mitarbeitenden auf sehr unterschiedliche Weise in das Forschungsprojekt eingebracht. So wurden letzte Zeitzeug:innen, die sich noch an Zwangsarbeiter:innen in den familieneigenen Betrieben und Landwirtschaften erinnern können, befragt. Außerdem wurde nach Dokumenten in Archiven, Topotheken und anderen Sammlungen recherchiert. Anhand der vorliegenden Informationen hat sich ein Team von Fotograf:innen auf die Suche nach ehemaligen Lagerorten gemacht und diese Orte, auf deren frühere Funktion heute meist nichts mehr verweist, fotografisch dokumentiert. Die lokale Gruppe in Krems, an der sich etwa 15 Personen kontinuierlich beteiligten, wurde von internationalen Nachkommen ehemaliger Internierter verstärkt. Diese stellten dem Projekt Dokumente und Fotos zur Verfügung, die auf die Zeit der Gefangenschaft und/oder Zwangsarbeit verweisen.
Beteiligte Citizen Scientists / Nachkommen:
Christine Aigner I Giovanni Alfarano I Günther Bohrn I Erich Broidl I Maxime Cano-Lizan I Kurt De Bruyne I Dorli Demal I Dagmar Engel I Eva Forstinger I Dagmar Hoffmann I Odile Gavel Minart I Franz Hainzl I Dagmar Hofmann I Dragan Jović I Franz Karl I Edith Krisch I Christian M. Legner I Jan Luyssaert I Markus Mraz I Thomas Müller I Lucas Nunzer I Gilbert Pandelaers I Karl Reder I Karl Simlinger I Herbert Slatner I Viktoria Strom I Antonia Wasserbauer-Redl I Arkadiusz Ziółkowski
Das Buch:
Das Buch versammelt 29 Beiträge: Dorli Demal, Karl Reder, Lucas Nunzer und Erich Broidl haben wissenschaftliche Beiträge zur Zwangsarbeit und Lagern in Langenlois, Mautern, Spitz an der Donau und Straß verfasst. Edith Krisch hat das Schicksal der ungarisch-jüdischen Familie Pick erforscht.
Thomas Müller, Günther Bohrn, Dagmar Engel und Karl Simlinger haben Infos und Dokumente gefunden, Kontakte zu Zeitzeug:innen hergestellt oder diese selbst interviewt.
Eva Forstinger, Viktoria Strom, Herbert Slatner, Dagmar Hofmann, Franz Hainzl, Christine Aigner und Antonia Wasserbauer-Redl haben in den eigenen Familien nach der Involvierung in Zwangsarbeit und Gefangenenlager gefragt.
Das Fototeam – bestehend aus Franz Karl, Eva Forstinger, Dagmar Engel und Christian M. Legner – hat, geleitet von Karin Böhm, Spuren an den (mutmaßlichen) Lagerorten gesucht, den gegenwärtigen Zustand mit historischen Quellen verglichen und dokumentiert. Für das Buch haben sie aus über 500 Fotos eine Auswahl getroffen. Alle Fotos werden dem Stadtarchiv Krems übergeben.
Einleitend gibt Edith Blaschitz einen Überblick über NS-Zwangsarbeit und Lager im Bezirk Krems und danach zudem Einblick in das von ihr entwickelte Umsetzungskonzept von Citizen Science in historischen Projekten.
Giovanni Alfarano, Maxime Cano-Lizan, Kurt De Bruyne, Odile Gavel Minart, Dragan Jović, Jan Luyssaert, Markus Mraz, Gilbert Pandelaers und Arkadiusz Ziółkowski – sie stammen aus Belgien, Frankreich, Italien, Österreich, Serbien und Polen und sind Nachkommen von Kriegsgefangenen, die im Stalag XVII B Krems-Gneixendorf interniert waren – berichten in kurzen Beiträgen über die Zeit der Kriegsgefangenschaft ihrer Väter und Großväter sowie über die Auswirkungen der Gefangenschaft auf ihre Familien.
Die Ausstellung:
In der Ausstellung, kuratiert von der künstlerischen Fotografin und Kulturvermittlerin Karin Böhm, werden die Ergebnisse der Spurensuchen der lokalen Citizen Scientists präsentiert.
Zu sehen sind gegenwärtige Aufnahmen ehemaliger Lagerorte, die historischen Aufnahmen und Objekten aus dem „Lageralltag“ gegenübergestellt werden. Objekte aus der Zeit des Krieges dokumentieren Zwangsarbeit und „Lageralltag“.
Außerdem werden Menschen vorgestellt, die auf unterschiedliche Weise in das System von NS-Lagern und Zwangsarbeit involviert waren. Gezeigt wird auch, wie Nachkommen von Internierten heute noch nach Hinweisen zum Schicksal ihrer Vorfahren suchen. Bei der Ausstellung anwesend war Kurt De Bruyne aus Belgien,der nicht nur zu seinem Großvater, der als Kriegsgefangener im Lager Stalag XVII B interniert war, recherchierte, sondern darüber hinaus für das Forschungsprojekt zahllose Dokumente zur Verfügung stellte.
Das Video:
Die Topothek Krems war Kooperationspartner im Forschungsprojekt. In einem Video, initiiert und umgesetzt vom Leiter der Kremser Topothek, Thomas Müller, berichten die Kremser Citizen Scientists über ihre Motivation zur Teilnahme am Projekt. (zu sehen in der Ausstellung und unter https://krems.topothek.at).
Infos:
Ausstellung: „Heute befinden sich hier Wohnungen, eine Arztpraxis und ein Kaffeehaus.“ – NS-Zwangslager im Bezirk Krems – eine Spurensuche, kuratiert von Karin Böhm.
Foyer des Kremser Rathauses, Obere Landstraße 4, 3500 Krems
5.-29.11.2024, Mo-Do 8-16 Uhr, Fr 8-12 Uhr, Eintritt frei
Buch: NS-Lager und Zwangsarbeit im Bezirk Krems (1939-1945). Citizen Scientists suchen nach Spuren. Hrsg. von Edith Blaschitz, Karin Böhm, Carl Philipp Hoffmann, University of Krems Press 2024 (Lektorat: Eva Forstinger, Buchproduktionsmanagement: Carl Philipp Hoffmann).
Infos & Online-Ausgabe: https://door.donau-uni.ac.at/detail/o:5018
Forschungsprojekt: NS-‚Volksgemeinschaft‘ und Lager im Zentralraum Niederösterreich. Geschichte – Transformation – Erinnerung (2022-2024)
Durchgeführt vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs in Kooperation mit der Universität für Weiterbildung Krems; Leitung: Martha Keil, Durchführung wissenschaftliche Forschung, wissenschaftliche Forschung und Citizen Science in den Bezirken Krems, Lilienfeld, Melk, Tulln, St. Pölten: Edith Blaschitz, Merle Bieber, Karin Böhm, Janina Koroschitz-Böck, Christoph Lind, Philipp Mettauer.
Info: ns-lager-niederösterreich.at
Abschlusstagung: Mitten im Ort, 4.-6.11.2024, Universität für Weiterbildung Krems