Heidrun Bohnet und Albert Kraler forschen zum Thema Flucht. Ihr Fokus liegt unter anderem auf protracted displacement. Der Begriff steht für lang andauernde Situationen von Vertreibung und Flucht ohne echtes Ankommen und konkrete Perspektiven.
Von Astrid Kuffner
Flucht und Migration, ob über Grenzen oder innerhalb eines Landes, haben meist mehr als einen Grund, sind also multikausal. Es gibt schleichende und plötzliche Ereignisse, die Menschen zum Aufbruch motivieren. Auch das Ankommen an einem als sicher eingeschätzten Ort kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden: der des Geflüchteten, der Aufnahmegesellschaft, der bereits länger verwurzelten Diaspora-Community, der Daheimgebliebenen, völker- und menschenrechtlicher Verpflichtungen oder nationaler Politiken. Heidrun Bohnet und Albert Kraler vom Department für Migration und Globalisierung forschen dazu.
Heidrun Bohnet interessierte sich schon als Kind für andere Kulturen und reiste mit ihren Eltern viel. Sie lebte einige Jahre in Kanada, maturierte dort, studierte zunächst Spanisch, Englisch und (Lateinamerikanische) Geschichte in Hamburg und verbrachte zwei Semester in Mexiko-Stadt. Es folgte ein Master in Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Konstanz inklusive Auslandssemester am Institut d’études politiques de Paris und Forschung an der ETH Zürich. Zuletzt promovierte sie an der Universität Genf in Politikwissenschaft und International Relations. Sie studierte Sprachen und Geschichte als Schlüssel, um sich in der Welt zu verständigen und sie besser zu verstehen. Das Interesse an ihrem Arbeitsgebiet erwuchs aus der Erfahrung, immer wieder fremd an einem Ort zu sein, und aus der Beobachtung von mixed couples und deren Schwierigkeiten im Alltag. Es folgten Praktika als Advisor für das Office of the Permanent Observer of the International Organization for Migration (IOM) to the United Nations in New York und als Resettlement Officer für das UN-Flüchtlingshochkommissariat. Später war sie am Bonn International Center for Conflict Studies und Visiting Scholar am Institute for the Study of International Migration in Washington, D.C. Rückblickend sagt sie: „Ich befasste mich schon mit dem Thema Flucht, lange bevor es 2015 in Europa zum Trendthema wurde.“ Heidrun Bohnet betrieb auch Feldforschung in Äthiopien, im Südsudan, in Uganda, in der Türkei und in Jordanien. Die Karriereentscheidung für die Forschung fiel, „da ich gerne mit wissenschaftlicher Methodik, Sorgfalt und Tiefe und im fachlichen internationalen Austausch arbeite“.
An die Universität für Weiterbildung Krems kam sie über eine Stellenausschreibung mit Qualifizierungsvereinbarung. Ihr gefällt, dass „das Department gut vernetzt und in Projekten international ausgelegt ist“. Sie bringt neben der Expertise zu Flucht auch Konfliktforschung als Spezialgebiet mit und beleuchtet Beziehungen von Geflüchteten und lokaler Bevölkerung. Warum kommt es zu Konflikten im Empfängerland? Weshalb kann es zu Spannungen bis zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen? „Es gibt die verbreitete Annahme, dass man Flüchtlinge einzäunen und in großen Flüchtlingsunterkünften unterbringen sollte. Mit meiner Forschung zeige ich das Gegenteil auf: Abschottung und Konzentration erhöhen das Risiko für Konflikte.“ Sie setzt bei der Arbeit auf einen Methodenmix sowie die genaue Prüfung und Kombination von Daten.
Aktuell erforscht sie, wie unterschiedliche Migrationsströme (Asyl, Familiennachzug, Arbeits- und Bildungsmigration) und zugehörige Politiken untereinander kategorial und räumlich verbunden sind. Wenn ein Land den Zugang erschwert, hat das Auswirkungen auf Nachbarländer, die Balance von Restriktion und Offenheit führt zu Verschiebungen und wirkt auf andere Ströme, die man vielleicht fördern möchte.
Was ist ein Basic der Fluchtforschung, das man verstehen muss?
Fluchtgeschehen ist dynamisch. Wenn wir uns Zahlen und Kategorien wie refugee, returnee oder displaced person ansehen, sind das Momentaufnahmen. Pendelbewegungen werden so nicht sichtbar.
In Österreich ist die Rückführung von Geflüchteten eine gerne propagierte Maßnahme. Wie beurteilen Sie diese?
Rückführung allein ist keine Lösung. Bei der Integration hat sich herumgesprochen, dass der Prozess Zeit braucht. Auch Reintegration braucht Zeit. Es kann Konflikte zwischen Gebliebenen und Zurückgekehrten geben, es ist nicht unbedingt ein „Nach-Hause-Kommen“, der Mensch und seine Umgebung haben sich verändert. Mit einem Rückflug und einem „Taschengeld“ ist es nicht getan. Es bräuchte viel längere Unterstützung und nachhaltige Reintegrationsmaßnahmen.
In eine Forschungskarriere gerutscht
Der gebürtige Tiroler Albert Kraler interessierte sich bereits als junger Erwachsener für Politik und Gesellschaft. Wühlkisten waren sein Revier, um sich vor der Matura Klassiker der Sozialphilosophie und Gesellschaftstheorie von Marx über Weber bis Elias und Machiavelli anzulesen. Er inskribierte an der Universität Wien Politikwissenschaft mit Zweitfach Afrikanistik, um von der Intimität einer Fachrichtung zu profitieren als Kontrast zum Massenstudium. Über ein Praktikum am International Centre for Migration Policy Developmen (ICMPD) und die anschließende langjährige wissenschaftliche Mitarbeit rutschte er in die Forscherkarriere: „Ich habe viel und bald im Team gearbeitet, bin also kein Soloforscher, sondern betreibe Forschung in der Regel kollaborativ.“ Sein zentrales Forschungsthema ist der rechtliche Status von Migrant_innen und damit die Auswirkungen von Migrationspolitik auf die davon primär Betroffenen, ob im Kontext des Familiennachzugs oder von Migrant_innen ohne Aufenthaltsrecht.
Mit einer kumulativen Arbeit erwarb er 2017 das Doktorat. 2019 kam er an die Universität für Weiterbildung Krems. Hier sieht er mehr Freiheit als in der projektfinanzierten Forschung, für die Publikationen letztlich nachts, wochenends und im Urlaub geschrieben werden müssen. Lehre ist hier eng mit Forschung verknüpft, intensives Arbeiten, Diskussion und Unterricht gehen ineinander über.
Mit dem Department ist er auch Teil der europäischen Migrationsforschung mit dem International Migration Research Network (IMISCOE). Dort beschäftigen ihn (inter)nationale Flüchtlingspolitiken, also welche Logiken und Wechselbeziehungen zwischen Akteuren Spannungen in dem Politikfeld erzeugen und schutzwürdige und abzuweisende Menschen unterscheiden: „Sehr oft geht es in Asylverfahren nicht darum, ob jemand in Österreich schutzwürdig wäre, sondern ob er oder sie woanders schutzwürdig gewesen wäre. Menschen lange Zeit in Warteposition und mit einem unklaren rechtlichen Status zu belassen, ist ein häufiges Ergebnis dieser Politik.“ Die Genfer Flüchtlingskonvention hält jedoch fest, dass man Menschen Perspektiven geben muss. Wie die Gestaltung von Migrationspolitik Menschen irregularisiert, ist Thema zweier laufender Einreichungen. Der 47-Jährige sieht sich als Generalist, der mit unterschiedlichen Fällen ein Phänomen belegt. Er kümmert sich um die Synthese der Perspektiven, die Disziplinen von Demographie bis Ökonomie aufwerfen. Er interessiert sich dafür, wie Indikatoren definiert und Phänomene erfasst werden und was das für die Konzeption von Wirklichkeit heißt: „Ich arbeite mit Interviews und Fokusgruppen sowie Daten und Aggregatsstatistiken, um zu sehen, welche Phänomene gemessen werden und warum sich unterschiedliche Entwicklungen zeigen.“ Die Verdichtung von Daten auf einer höheren Ebene hilft ihm, die nötige Distanz zum belastenden Forschungsthema herzustellen.
Was ist ein Basic der Fluchtforschung, das man verstehen muss?
Den Unterschied zwischen Fluchtursachen und individuellen Motiven einerseits und rechtlich-politischen Regulierungen anderseits. Mein Ansatz ist: Da gibt es eine Spannung und die lässt sich nicht auflösen. Das Spannungsfeld muss man produktiv bearbeiten und reflektieren – eine Wunderlösung gibt es nicht.
Ist die unterschiedliche Behandlung von Verfolgten und Wirtschaftsflüchtlingen gerechtfertigt?
Menschen treffen Fluchtentscheidungen aus unterschiedlichen Motiven, sei es wegen Verfolgung mit physischer Bedrohung, sei es aus wirtschaftlichen Überlegungen. Zudem sind wirtschaftliche Auswirkungen die ersten, die auch politische Flüchtlinge oder unterdrückte Minderheiten spüren. Man muss anerkennen, dass die Triebkräfte für Migration komplexer sind als die politischen Regularien.
Ass.-Prof.in Dr.in Heidrun Bohnet arbeitet am Department für Migration und Globalisierung der Universität für Weiterbildung Krems zu Flucht, Konfliktdynamiken und Migrationspolitiken. Zudem wirkt sie an der Planung des PhD-Programms „Migration Studies“ mit und unterrichtet qualitative und quantitative Methoden. Sie promovierte an der Universität Genf in Politikwissenschaft und Internationalen Beziehungen.
Ass.-Prof. Mag. Dr. Albert Kraler promovierte an der Universität Wien in Politikwissenschaft. An der Universität für Weiterbildung Krems ist er am Department für Migration und Globalisierung seit Herbst 2018 tätig. Er forscht zu internationaler und nationaler Flüchtlingspolitik, Integrationsthemen sowie zu irregulärer Migration und damit zusammenhängenden Politiken.
Weitere Artikel dieser Ausgabe
Tags