Wer heute in der Versicherungsbranche als Jurist_in reüssieren möchte, kommt ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse nicht mehr aus. Victoria Michler ist mitverantwortlich für die spezialisierte wissenschaftliche Weiterbildung und die Vermittlung praxisrelevanter Kenntnisse in diesem Bereich.
Von Ilse Königstetter
Im Spannungsfeld zwischen unionsweiter Harmonisierung, dem Auseinanderdriften nationaler Normen und differenzierter OGH-Judikatur präsentiert sich das Versicherungsvertragsrecht heute als zunehmend komplexe Rechtsmaterie. Während des Studiums vertiefen Studierende nicht nur ihre fachspezifischen Kenntnisse, vor allem in den Schlüsselbereichen der Sach-, Haftpflicht- und Personenversicherung, sondern erwerben auch internationale Kompetenzen. Mit 1. Juli 2023 hat Victoria Michler die Leitung des Fachbereichs Versicherungsrecht an der Universität für Weiterbildung Krems übernommen. Sie folgt damit der in die Schweiz zurückgekehrten Arlinda Berisha, die diesen Bereich über 16 Jahre lang aufgebaut und als Fachbereichs- und Lehrgangsleiterin betreut hat. Victoria Michler: „Ich möchte mich ganz herzlich bei meiner Vorgängerin bedanken. Sie hat neben der Tätigkeit in Lehre und Forschung durch ihr Geschick den Fachbereich Versicherungsrecht etabliert und zusätzlich sowohl das Kremser Versicherungsform als auch Women in Insurance Austria mitbegründet.“
Großer Aktionsradius
Viele dieser Aufgabenbereiche hat die junge Wissenschaftlerin übernommen. „Meine Tätigkeiten an der Universität Krems umfassen das Dreieck aus Lehre, Forschung und Organisation“, skizziert Victoria Michler. Der Schwerpunkt des Fachbereichs liegt auf der Fortbildung von Jurist_innen bzw. Praktiker_innen aus der Versicherungswirtschaft. Für sie werden verschiedene berufsbegleitende Weiterbildungsprogramme angeboten – Master of Laws, LL.M. „Versicherungsrecht“, Akademische_r Expert_in „Risikomanagement und Versicherungsrecht“ sowie Certificate Program „Risikomanagement und Versicherung“. Von ihrer Vorgängerin übernommen hat sie die Mitorganisation von „Women in Insurance Austria“, einem Netzwerk, in dem die Sichtbarmachung und die Präsenz von Frauen in der Versicherungsbranche im Vordergrund steht. Mit wachsendem Erfolg, denn „das Netzwerk wächst und wächst“. Victoria Michler erwähnt auch das Kremser Versicherungsforum, das heuer im Herbst bereits zum 10. Mal an der Universität für Weiterbildung Krems stattfindet und bei dem sich Expert_innen aus Lehre und Praxis aktuellen Spezialthemen im Versicherungsbereich widmen.
Forschungsschwerpunkt „Open Insurance“
Victoria Michlers aktueller Forschungsschwerpunkt ist das Thema „Open Insurance“, das sie gerade in ihrer Dissertation bearbeitet. „Es handelt sich dabei um ein neuartiges Phänomen mit Disruptionspotenzial in der digitalisierten Versicherungswirtschaft“, so die Wissenschaftlerin. Ein bereits bekanntes und vergleichbares Konzept ist „Open Banking“, also die Öffnung von Bankdaten für Drittanbieter, zum Beispiel über Online-Banking-Plattformen, die das klassische E-Banking ermöglichen. Ziel von Open Insurance ist, den Versicherungsmarkt transparenter, zugänglicher und agiler zu gestalten und gleichzeitig den Versicherungsnehmer_innen Kontrolle über ihre Daten zu ermöglichen. Kund_innen sollen in Echtzeit Zugang zu sämtlichen sie betreffenden Daten, von Finanzdienstleistern erhalten (Daten zu Vertrag, Beratung, Schäden, etc.) und zwar über eine digitale Plattform, die als offene, standardisierte und kundenzentrierte Schnittstelle dient.
Zeitrahmen und Perspektiven
2023 gab es von der EU-Kommission einen Vorschlag zur Financial Data Access Verordnung („FiDA-VO“). Geplant ist, dass diese 2025 vom Europäischen Parlament und dem Rat beschlossen wird. Da es sich dabei um eine unionsrechtliche Verordnung handelt und keine Richtlinie, die erst der nationalen Umsetzung bedarf, könnte diese dann recht schnell unmittelbare Wirkung entfalten. Nicht alle Versicherungssparten werden betroffen sein, voraussichtlich wird es sich um Schaden-, Unfall- und Teile der Lebensversicherung handeln. Diese sind verpflichtet, den Versicherungsnehmer_innen den Zugang zu ihren Daten über die Bereitstellung von APIs (Application Programming Interface, also Programmierschnittstellen) zu ermöglichen. Victoria Michler nennt ein Beispiel: Eine Kundin A will von einem Makler B eine Versicherungsberatung erhalten. B fordert von A über eine Plattform Datenzugriff an. A erteilt die Erlaubnis. Dadurch weiß der Versicherer C, dass B Zugriff auf das „Dashboard“ von A erhalten soll. Die Daten werden in Echtzeit freigeben und B kann für A eine optimale Beratung in deren „best interest“ sicherstellen. A hat immer die Kontrolle darüber, welche Daten B freigegeben werden sollen. Ähnlich wie bei der elektronischen Gesundheitsakte ELGA kann A einsehen, wer auf welche Daten zugreift.
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„‚Open Insurance‘ ist ein neuartiges Phänomen mit Disruptionspotenzial in der digitalisierten Versicherungswirtschaft.“
Victoria Michler
Hoher Innovationsgrad
Die Vorteile von „Open Insurance“ aus Kund_innenperspektive sieht Victoria Michler im leichteren Wechseln zwischen Anbietern, mehr Transparenz, mehr Kontrolle und mehr Vertrauen im Umgang mit Daten. Für die Versicherer bedeutet es mehr Innovation, ein größeres Angebot und höhere Einnahmen. Natürlich birgt es auch ein gewisses Risiko, einen neuen Zugang zu Geschäftsgeheimnissen zu eröffnen, wenn Daten übermittelt werden. Für die Zukunft sieht die Wissenschaftlerin ein Überwiegen der Vorteile, weil der/die Einzelne einen besseren Überblick über die Finanzleistungen erhält. „Gerade für langfristige Angelegenheiten wie die spätere Pension wäre es sinnvoll, beispielsweise die Höhe der staatlichen, betrieblichen und privaten Pension auf einer Plattform gleichzeitig einsehen zu können, wenn automatisch berechnet wird, wie der aktuelle Anspruch aussieht, um das eigene Verhalten durch verstärktes Sparen oder Investieren anzupassen“, argumentiert die Forscherin. Die vielfältigen Möglichkeiten und der hohe Innovationsgrad begeistern sie an „Open Insurance“ besonders.
VICTORIA MICHLER
Mag.a Victoria Michler studierte Rechtswissenschaften am Juridicum an der Universität Wien. Nach dem Gerichtsjahr war sie bei einem Berater in Versicherungsangelegenheiten beschäftigt. 2021 wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Rechtswissenschaften und Internationale Beziehungen an der Universität für Weiterbildung Krems und seit 1. Juli 2023 ist sie Fachbereichsleiterin für Versicherungsrecht.
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