Was haben Baukultur und Klimawandel miteinander zu tun? Sehr viel, sagen die Expert_innen. Denn zahlreiche Initiativen machen deutlich, welches Innovationspotenzial der Bewahrung von Kultur innewohnt.
Von Maik Novotny
Als im März verlautbart wurde, der renommierte Pritzker-Preis 2022 werde an den Architekten Diébédo Francis Kéré gehen, war dies nicht nur ein Zeichen, dass es der globale Süden endlich auf den Radar der Architekturwelt geschafft hatte. Die Auswahl machte auch deutlich, wie eng Baukultur und Klima zusammenhängen. Denn Kéré, der in den 1980er-Jahren nach Berlin gezogen war, hat sich vor allem einen Namen durch die Projekte in seiner Heimat Burkina Faso gemacht, insbesondere durch seine Schulbauten aus Lehm. Das Problem, sagt er, sei nur, dass diese traditionelle und bestens ans subsaharische Klima angepasste Bautechnik dort heute als ärmlich gilt. Viel lieber würde man wie die Vorbilder im Westen, also in Stahl und Glas, bauen, obwohl dies energetisch wie ästhetisch völlig fehl am Platz ist.
Hier die Kunstgeschichte, dort die Ingenieurwissenschaften: Kulturerbe und Klima haben sich auch fachlich immer weiter voneinander entfernt. Dabei wurde das, was wir an baulichem Kulturgut schätzen und schützen, nicht aus reiner Lust an der Schönheit gebaut, sondern auf lokale Rahmenbedingungen hin optimiert: Besonnung, Durchlüftung und Materialien, die langlebig und leicht zu reparieren sind und nicht um den halben Globus transportiert werden müssen.
In Zeiten der drohenden Klimakatastrophe hat auch die Bauindustrie, die für rund 40 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich ist, die Warnsignale gehört. Der Wechsel vom Abriss-Neubau-Zyklus hin zu einer Umbaukultur macht sich auf EU-Ebene bemerkbar. Laut der 2020 als Teil des Green Deal gestarteten „Renovation Wave“ der Europäischen Kommission soll die jährliche Sanierungsrate des Gebäudebestands bis 2030 mindestens verdoppelt werden. Eine lobenswerte Entwicklung, die den Klimaschutz bisher jedoch vor allem anhand von Emissionswerten kalkuliert.
Kulturerbe und Klimaschutz verknüpfen
Um dies zu korrigieren und auch das baukulturelle Erbe ins Spiel zu bringen, wurde im Arbeitsplan des Rates für Kultur 2019 –2022 die Expert_innengruppe Stärkung (und Nutzung) der Resilienz des Kulturerbes für den Klimawandel eingerichtet. Im April 2022 fand das neunte und letzte Arbeitstreffen der Expert Group auf Einladung von Prof. Christian Hanus an der Universität für Weiterbildung Krems statt, jetzt wird am Schlussbericht gearbeitet. Mehr als 50 Expert_innen aus 25 Mitgliedsstaaten sind Teil der Gruppe, ihre Arbeit bestand vor allem darin, mittels Best-Practice-Beispielen die enge Verknüpfung von Kultur und Nachhaltigkeit deutlich zu machen, um daraus verständliche und umsetzbare Empfehlungen abzuleiten. Insgesamt 83 Fallstudien wurden dafür gesammelt.
„Diese Fallstudien sind wirklich eine Art Revolution, denn eine solche länderübergreifende Sammlung von Informationen gab es bisher nicht“, sagt Johanna Leissner, Koordinatorin der Forschungsallianz Kulturerbe bei der Fraunhofer-Gesellschaft und Vorsitzende der Expert Group. „Diese Informationen waren bisher auch nirgends zu finden, weil die beiden Bereiche Kulturerbe und Klimaschutz sehr fragmentiert sind und es unterschiedliche Verantwortungsbereiche gibt. Es war zu Beginn eine große Herausforderung, überhaupt herauszufinden, an wen man sich wendet und wer über welche Informationen verfügt. Das war regelrechte Detektivarbeit.“
Schnell fand die Expert_innengruppe heraus, dass hier Grundlagenarbeit zu leisten war. „Das kulturelle Erbe wird oft nur erwähnt, etwa in den Plänen zur Klimaanpassung, aber es wird nicht erklärt, was man damit meint und was zu tun ist“, so Leissner. „Das kulturelle Erbe im Allgemeinen und das baukulturelle Erbe im Spezifischen ist im Green Deal überhaupt nicht erwähnt. Es gibt zu wenig Personen in der Verwaltung, die sich damit auskennen, und es wird auch zu wenig Lobbyarbeit betrieben, um das zu ändern. Ein EU-Parlamentsmitglied sagte mir einmal: Jeden Tag klopfen fünf Vertreter_innen der Pharmaindustrie an meine Tür, aber euch habe ich noch nie gesehen!“
Lebenszyklusbetrachtung fehlt
Wie Christina Krafczyk, Präsidentin des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege, erklärt, wurden zu Beginn der Arbeit in der Expert Group zwei Kernbereiche identifiziert. „Zum einen die Auswirkungen des Klimawandels auf das Kulturerbe. Zum anderen die Frage, was der konkrete Beitrag des Kulturerbes zur Abschwächung und Bekämpfung des Klimawandels sein kann.“ Das strukturelle Problem: Viele Energieeffizienz-Richtlinien fokussieren ausschließlich auf Emissionen im Gebäudebetrieb. Ein ganzheitlicher Ansatz, der den Lebenszyklus bilanziert, fehlt bisher.Eine weitere wichtige Erkenntnis aus der bisherigen Arbeit war, dass die meisten der 83 Best-Practice-Beispiele auf Forschungsprojekten basieren, da sich vor allem die Denkmalpflege bereits seit Längerem mit dem Klimawandel beschäftigt. Ein Paradebeispiel dafür ist das in Partnerschaft mit dem Bundesdenkmalamt und dem Land Niederösterreich durchgeführte Projekt monumentum ad usum an der Universität für Weiterbildung Krems. Mit Blick auf gemeinnützige Bauträger widmet es sich der Frage, wie denkmalgeschützte Bauten für Wohnnutzung adaptierbar sind und durch diese Nutzung revitalisiert werden können. Dabei zeigte sich: Die Klima- und Energiebilanz für die Schaffung und Nutzung von Wohnraum im Altbestand ist deutlich besser als bislang angenommen. Sie verbrauchen bei steigenden Temperaturen im Rahmen des Klimawandels tendenziell weniger Energie als Neubauten und haben geringere Folgekosten.
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„Das kulturelle Erbe und das baukulturelle Erbe im Spezifischen ist im Green Deal überhaupt nicht erwähnt. Zu wenige in der Verwaltung kennen sich damit aus, und es wird auch zu wenig Lobbyarbeit betrieben.“
Johanna Leissner
Insgesamt wurden im Projekt neun Bauten an sechs Standorten untersucht, drei davon umfassen einen Alt- und einen Neubau. Bis auf ein Objekt wurden alle in den letzten 10 bis 15 Jahren saniert oder neu errichtet. „Wir untersuchen immer das Gesamtobjekt im Hinblick auf ökologische und ökonomische Komponenten: Energieverbrauch, Energiekennzahlen, Lebenszykluskosten, Ökobilanzierungen, Förderungen“, erklärt Manfred Sonnleithner, Projektverantwortlicher und Leiter am Zentrum für Baukulturelles Erbe. „Das Ergebnis war beim Vergleich der statischen Berechnung des Energieausweises mit dem tatsächlichen Verbrauch des Bestandsgebäudes eine Reduktion um 41 Prozent, während der Verbrauch beim Neubau um 9 Prozent höher ist.“ Auch bei den CO2-Emissionen und bei der Grauen Energie, die für Herstellung und den Transport der Baumaterialien benötigt wird, sind die Altbauten in den Berechnungen deutlich im Vorteil.
„Dazu kommt, dass Neubauten eine begrenzte Lebenserwartung haben, während denkmalgeschützte Bauten quasi für immer Bestand haben“, so Sonnleithner. „Ebenso die Tatsache, dass das Bundesdenkmalamt bei der Sanierung ganz konkrete Vorgaben macht bezüglich zu verwendender Materialien, die ökologisch optimal und in der Regel besser sind als jene, die teilweise im Neubau Anwendung finden: Kalkanstriche, Lehmputz, Holzkastenfenster, geringer Einsatz von Metallen und Bauchemikalien.“ Auch wenn nur rund ein Prozent der Gebäude in Österreich denkmalgeschützt sind, lassen sich diese Erkenntnisse auf das baukulturelle Erbe im weiteren Sinne übertragen.
Viele Wege zur Baukultur
Wie lassen sich diese Erkenntnisse nun umsetzen? Wie kann Baukultur auch in Politik und Verwaltung mit dem Klimaschutz verknüpft werden? Initiativen dazu gibt es, mit unterschiedlicher strategischer Vorgangsweise, in Deutschland, der Schweiz und Österreich. In Deutschland wurde aktiv Lobbyarbeit betrieben, hier adressierte die Vereinigung der Landesdenkmalpfleger (VDL) mit der Kampagne „Denkmalschutz ist aktiver Klimaschutz“ im Oktober 2021 die Koalitionsparteien der neuen Bundesregierung mit plakativen Slogans wie „Denkmalpflege als Avantgarde einer Reparaturgesellschaft“ oder „Denkmalwissen ist Klimawissen“. Auch hier war Christina Krafczyk beteiligt. „Dazu haben wir uns mit Stellungnahmen zu neuen Richtlinien positioniert, mit dem Tenor: Diese greifen zu kurz. In den EU-Richtlinien, die 2019 – 21 entwickelt wurden, war Kulturerbe gar kein Thema, jetzt ist zumindest etwas in Bewegung geraten und die Berücksichtigung des Kulturerbes kann in der Umsetzung der Länder verankert werden.“
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„Wir müssen begreifen, dass baukulturelles Erbe auch ein immaterieller Wert ist und die Gesundheit einer Gesellschaft beeinflusst.“
Manfred Sonnleithner
Auch in der Schweiz ist die Einsicht angekommen, dass Abriss und Neubau in einer Gesamtenergiebilanz in der Regel schlechter abschneiden als eine Instandsetzung des Bestandes. Ein breiter Kreis von Fachorganisationen hat sich in der Klimaoffensive Netto Null mit hoher Baukultur zusammengeschlossen. „Wir sind der Meinung, dass wir hier nicht auf dem Ausnahmestatus beharren müssen, denn auch das Kulturerbe kann und muss das Netto-Null-Ziel anstreben“, so Oliver Martin, Leiter der Sektion Baukultur des eidgenössischen Bundesamts für Kultur. „Die technischen Methoden und der richtige Umgang bei der energetischen Instandsetzung von schützenswertem Bestand sind bekannt. Was nicht funktioniert, ist die nicht weiter reflektierte Anwendung der immer gleichen Standardmaßnahmen, unabhängig vom Objekt.“
Allerdings halte sich, so Martin, in der Öffentlichkeit immer noch das Bild vom Denkmalschutz als Verhinderer, mit der simplen Haltung: entweder Klimaschutz und Energiesanierung oder Kulturerbe-Erhaltung. „Wenn wir als Gesellschaft keine bessere Antwort auf diese große Transformation als einen Verzicht auf Kultur und Erbe finden, scheint mir das sehr bedenklich.“ Eine viel diskutierte Bewertungsmethode wurde 2021 eingerichtet: Das Davos-Qualitätssystem versucht, die Beurteilung von Baukultur mittels acht präziser Kriterien zu objektivieren, darunter auch Klima und Ökologie.
In Österreich ist das Thema Baukultur seit über zehn Jahren auf dem Marsch durch die Institutionen. 2011 wurden das Österreichische Raumentwicklungskonzept (ÖREK 2011) und der erste Baukulturreport veröffentlicht, 2017 wurden die baukulturellen Leitlinien des Bundes beschlossen, im Herbst 2022 folgten das ÖREK 2030 und der vierte Baukulturreport. Beide Schienen sind Teil derselben Strategie, die vor allem die elementare Rolle von Baukultur auf regionaler Ebene betrachtet. Österreich gilt als Europameister im Bodenversiegeln, daher besteht hier dringender Handlungsbedarf. Schon 2011 wurde das Ziel formuliert, die Ortskerne zu stärken. Der Denkmalschutz diene hier als anschauliches Modell, erklärt Elsa Brunner, Leiterin der Abteilung Denkmalschutz, Baukultur und Kunstrückgabeangelegenheiten im Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport. „Baukultur ist alles, und der Denkmalschutz und das Weltkulturerbe sind Teile davon.“ In dieser Querschnittsmaterie gelte es, sektorenübergreifend zu agieren. „Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Raumordnung. Denn es geht um die Frage, ob, und wenn ja, wo man überhaupt bauen sollte.“
Raum und Boden entscheiden
Im Herbst 2021 wurden zwei Umsetzungspakte beschlossen, „Bodenstrategie für Österreich“ und „Raum für Baukultur“. Die nächsten Doppelschritte bauen darauf auf: Einerseits die Einrichtung einer Agentur für Baukultur, die auf Bundes- und Landesebene die Umsetzung der Ziele ermöglicht, und andererseits die Etablierung einer Baukulturförderung für Städte und Gemeinden, wie sie in Deutschland schon seit 50 Jahren erfolgreich praktiziert wird – diese soll neue Best-Practice-Beispiele entstehen lassen, die als Vorbild zur Nachahmung dienen. Beides soll Ende 2022 beschlussreif sein. „Wenn man das Ziel einer lebenswerten Kulturlandschaft ernst nimmt, spielt die Baukultur eine ganz wesentliche Rolle“, betont Elsa Brunner. „Auch das New European Bauhaus und der Green Deal sind Kulturprojekte.
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„Baukultur ist alles, und der Denkmalschutz und das
Weltkulturerbe sind Teile davon. Eine Schlüsselrolle
spielt dabei die Raumordnung.“
Elsa Brunner
“Baukultur, das machen all diese Initiativen mehr als deutlich, ist mehr als eine sanierte Barockfassade. Sie ist Lebensgrundlage „Baukultur ist auch die Kultur des Umgangs miteinander“, betont Manfred Sonnleithner. „Wir müssen begreifen, dass das baukulturelle Erbe auch ein immaterieller Wert ist und die Gesundheit einer Gesellschaft beeinflusst. Wir wissen und verstehen, was gute Baukultur ausmacht. Man muss dieses Wissen nur umsetzen.“ Der Schlüssel, da sind sich alle Expert_innen einig, liegt in der Vermittlungs- und Überzeugungsarbeit. Damit jeder und jedem klar wird, dass der Erhalt von kulturellem Erbe nichts Museales ist, sondern sehr viel mit Innovation zu tun hat.
JOHANNA LEISSNER
Dr.in Johanna Leissner ist Koordinatorin der Forschungsallianz Kulturerbe bei der Fraunhofer-Gesellschaft, Scientific Representative der Fraunhofer-Institute IAP, IBP, ICT, IGB, IMW und ISCm und Vorsitzende der EU-Arbeitsgruppe „Strengthening Cultural Heritage Resilience for Climate Change“.
CHRISTINA KRAFCZYK
Dr.-Ing.in Christina Krafczyk ist Präsidentin des Niedersächsischen Landesamts für Denkmalpflege (NLD) sowie Gründungs- und Vorstandsmitglied u. a. der Gesellschaft für Bautechnikgeschichte, Mitglied der Denkmalkommission Niedersachsen und bei ICOMOS.
MANFRED SONNLEITHNER
Dipl.-Ing. Manfred Sonnleithner, MSc leitet das Zentrum für Baukulturelles Erbe am Department für Bauen und Umwelt der Universität für Weiterbildung Krems. Sonnleithner verantwortet das Projekt „monumentum ad usum“ zur Erforschung der Nutzungspotenziale von Denkmälern.
OLIVER MARTIN
Dr. Oliver Martin, promovierter Architekt (ETH Zürich), ist Leiter der Sektion Baukultur des Bundesamtes für Kultur (BAK) der Schweizerischen Eidgenossenschaft und war 2017 – 21 Präsident des Rats des Internationalen Forschungszentrums für Denkmalpflege und Restaurierung von Kulturgütern (ICCROM).
ELSA BRUNNER
MinRätin Dr.in Elsa Brunner ist Leiterin der Abteilung Denkmalschutz, Baukultur und Kunstrückgabeangelegenheiten sowie der Geschäftsstelle des Beirats für Baukultur im Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS).
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