Flugzeuge, eine Produktionsstraße oder die Verkehrssteuerung: All das kann einen Digitalen Zwilling bekommen. In der Praxis ist die Technologie trotzdem noch selten. Denn es gibt rechtliche, sicherheitstechnische und organisatorische Hürden.
Von Alexandra Rotter
Santiago de Chile, Juli 1971. Getrieben von der Idee, eine ganze Volkswirtschaft in Echtzeit abzubilden und zu steuern, beauftragte die chilenische Wirtschaftsförderungsbehörde CORFO den britischen Kybernetiker Stafford Beer mit der Entwicklung eines daten- und computergestützten Modells. Von einer futuristisch aussehenden Kommandozentrale aus sollte Cybersyn, so der Name des Systems, Daten der gesamten Wirtschaft zusammentragen und analysierbar machen. Doch schon 1973, im Zuge des Militärputschs, wurde das Kontrollzentrum von Cybersyn zerstört. Was blieb, war der Traum, die Welt und ihre Prozesse im digitalen Raum abzubilden und steuern zu können.
Auch vom Digitalen Zwilling, einer Technologie, die vom US-Marktforschungsunternehmen Gartner seit Jahren unter die Top-10-Technologietrends gereiht wird, erhofft sich die Forschung – darunter jene am Department für Integrierte Sensorsysteme –, den Traum vom Abbild der physischen Welt zu realisieren. Und mehr als das, denn heute kommen ausgefeilte Sensorsysteme und künstliche Intelligenz zum Einsatz. Genau genommen unterscheidet die Wissenschaft zwischen digitalen Modellen, Schatten und Zwillingen. Roman Kern vom Know Center in Graz, einem Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz und Data Science, erklärt: „Das digitale Modell versucht, die Realität abzubilden. Der digitale Schatten sorgt für Synchronisation von der echten in die digitale Welt. Beim digitalen Zwilling geht die Kommunikation in beide Richtungen.“
Das Know Center unterstützt vor allem industrielle Anwendungsfälle Digitaler Zwillinge, um die Produktion zu optimieren. Für Digitale Zwillinge braucht es laut Kern genug Daten, eine ausreichende Datenqualität, einen Datenfluss, denn Daten müssen nicht nur einmal, sondern regelmäßig abgerufen werden, und einen Use Case, also ein Ziel, das mit dem DZ erreicht werden soll. Nicht immer sei der DZ das Non-plusultra: „Auch ein digitales Modell hat einen Nutzen, vor allem für Wenn-dann-Aussagen, zum Beispiel bei der Frage, wie sich der Verkehrsfluss ändert, wenn ich eine Spur für Radfahrer mache.“ Ähnlich wie Künstliche Intelligenz lassen sich Digitale Zwillinge unterschiedlich definieren: „Auch eine KI kann dumm sein. Aber wenn eine dumme KI ein komplexes Problem löst, kann das trotzdem die beste Lösung sein.“
Erste Anwendungsbeispiele
Im großen Stil wurden Digitale Zwillinge zwar noch nicht realisiert, aber es gibt schon erste beeindruckende Anwendungsbeispiele. Ein solches ist das Forschungsflugzeug ISTAR, das zu Forschungszwecken vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt betrieben wird: Es wurde mit einem Digitalen Zwilling (DZ) ausgestattet, welcher über den ganzen Lebenszyklus des Flugzeugs mit Sensordaten gefüttert wird.
Konkret bietet der DZ durch die Daten von Sensoren und Messtechnik wie Lasern, Spezialkameras oder Mikrofonen einen Erkenntnisgewinn über Aerodynamik, Aeroelastik, Antrieb oder Schwingungseigenschaften. Er spiegelt nicht nur jeden Flug in Computerprogrammen, sondern hilft auch, Flugzeuge exakter, leichter, energieeffizienter und mittels Predictive Maintenance besser wartbar zu machen.
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„Digitale Zwillinge sind in der Verkehrsbranche erst am Anfang. Das liegt nicht an der Technologie, sondern an der Sorge vor möglichem Sicherheitsverlust.“
Klaus Pollhammer
Thomas Bigler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Verteilte Systeme und Sensornetzwerke an der Universität für Weiterbildung Krems, forscht zu Digitalen Zwillingen. Er kennt den Begriff seit etwa fünf Jahren, aber die dahinterliegende Technologie gebe es bereits seit mehr als 20 Jahren: „Neu ist, dass jetzt Cloudtechnologien zum Einsatz kommen können und es um bidirektionale Kommunikation geht, also Gegenstand und Software kommunizieren können.“ In einem aktuellen Projekt lässt Bigler einen DZ den Zeitpunkt simulieren, zu dem ein E-Auto tanken sollte. Der Zwilling muss dazu Daten vom Auto, von E-Tankstellen und der Verkehrssituation sammeln und etwa Staus, die verbliebene Energie im Autoakku oder besetzte Stromzapfsäulen einplanen.
Die Hürden der Praxis
Was in einer Fabrikhalle relativ unproblematisch funktioniert, wird bei vielen anderen Einsätzen des Digital Twin zur Herausforderung. Die Hürden sind vielfältig, zum Beispiel bei Sicherheit und Datenschutz. Das zeigt sich im Verkehrsbereich, der an sich für den DZ-Einsatz prädestiniert wäre. Klaus Pollhammer, Innovationsmanager bei Swarco Futurit, einem Hersteller LED-basierter Verkehrssignale wie Ampeln oder Wechselverkehrszeichen: „Digitale Zwillinge sind in der Verkehrsbranche erst am Anfang. Das liegt nicht an der Technologie, sondern daran, dass die Verkehrssicherheits-Branche sehr vorsichtig bei der Adaption neuer Technologien ist, denn sie muss dafür sorgen, dass kein Verkehrsteilnehmer einen Sicherheitsverlust erleidet.“ Pollhammer nennt ein Beispiel, bei dem der Datenschutz im Weg steht: „Der Privacy-Aspekt kann problematisch sein, beispielsweise bei einer Verkehrszählung durch Kameras: Dabei müsste sichergestellt werden, dass keine Personen erkennbar sind.“
Und es gäbe weitere spannende Ideen. So forschten Swarco Futurit und die Universität für Weiterbildung Krems gemeinsam an einem DZ. In dem Projekt ging es um elektronische Horizonte in Verkehrsinfrastrukturen, durch die zum Beispiel ein automatisiertes Fahrzeug durch den Abruf von Sensordaten „um die Ecke schauen kann“, also Informationen über den Querverkehr erhält. Die Entwicklung wurde letztlich nicht umgesetzt.
Das Problem mit den Daten
Eine realistische künftige Anwendung sieht Pollhammer in der Predictive Maintenance. „Ein DZ könnte auf Basis der Information, wie eine Ampel oder ein Wechselkennzeichen geschaltet worden ist, die Ausfallwahrscheinlichkeit gewisser Komponenten abschätzen.“ Das wäre ein Mehrwert, weil Arbeiten an Wechselkennzeichen über der Autobahn oder Ampeln an Kreuzungen eine Sperre des Verkehrs erfordern. Wüsste man, dass eine Komponente demnächst kaputt geht, könnte man eine Reparatur in einer verkehrsberuhigten Zeit durchführen.
Hemmschuh Software-Standards
Eine weitere Hürde für den Durchbruch digitaler Zwillinge liegt im Organisatorischen. Bemerkbar macht sich diese Herausforderung zum Beispiel im Gebäudebetrieb. Harald Kleiß, Geschäftsführer von plan-quadrat, einem Unternehmen in Wels, das digitale Pläne und Modelle bestehender Gebäude für computergestützte Planung und Facility Management anfertigt, sieht das Thema derzeit noch kritisch: „Der Begriff Digitaler Zwilling weckt vor allem bei Nicht-Fachleuten Erwartungshaltungen an eine komplette dreidimensionale Abbildung der Realität.“ Auch viele Expert_innen würden nur an 3D-Modelle denken. Davon könne aber noch keine Rede sein. Zweidimensionale Modelle funktionierten im Übrigen sehr gut, so Kleiß. Um einen DZ eines Gebäudes zu erstellen, müssten Architekt_innen, Fachplaner_innen, Bauphysiker_innen, Statiker_innen, also viele Player an einem identen Modell arbeiten.
Das funktioniert aber nur mit derselben Software, was aber die langfristige Bindung an einen Softwareanbieter bedeuten würde, so der Geschäftsführer. Im öffentlichen Bereich könne zudem bei Ausschreibungen nicht verlangt werden, dass Anbieter eine bestimmte Software nutzen. Fragwürdig sei auch, ob die Kosten für einen dreidimensionalen DZ derzeit überhaupt Einsparungen in der Errichtungs- und Betriebsphase bringen würden: „Software-Unterstützung sollte uns das Leben vereinfachen. Derzeit treibt man uns aber in eine Komplexität, die alles verteuert und von der nur die Softwareindustrie und Berater profitieren.“
Kleiß wünscht sich, dass Universitäten und Hochschulen koordiniert daran forschen, wie Datenmanagement etwa über Weiterbildungen so einfach vermittelt werden kann, dass es nicht nur hochqualifizierte Expert_innen, sondern beispielsweise auch Bau- und Haustechniker_innen anwenden können. Erst dies würde dem Digitalen Zwilling den Weg in die Praxis ebnen. Ob der Digitale Zwilling dabei jemals umfangreiche komplexe Systeme wie eine ganze Volkswirtschaft abzubilden und deren Steuerung zu erleichtern vermag, wie dies einst Chile versuchte, bleibt auch mehr als 50 Jahre später noch spannend.
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„Software-Unterstützung sollte uns das Leben vereinfachen. Derzeit treibt man uns aber in eine Komplexität, die alles verteuert.“
Harald Kleiß
THOMAS BIGLER
DI Thomas Bigler hat Computertechnik an der TU Wien studiert und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Verteilte Systeme und Sensornetzwerke am Department für Integrierte Sensorsysteme an der Universität für Weiterbildung Krems.
ROMAN KERN
Ass.-Prof. DI Dr. Roman Kern ist Chief Scientific Officer (CSO) am Know Center in Graz, einem Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz und Data Science, und Assistenzprofessor am Institute of Interactive Systems & Data Science an der TU Graz. Er forscht über Trustworthy AI.
KLAUS POLLHAMMER
Dr. Klaus Pollhammer ist Research Project Manager im Bereich R&D – Innovation & Safety bei Swarco Futurit in Perchtoldsdorf. Er studierte Elektrotechnik an der TU Wien, führte Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im universitären und industriellen Umfeld durch und ist seit zehn Jahren im Verkehrsbereich tätig.
HARALD KLEIß
Bmst. Ing. Harald Kleiß MSc ist gewerberechtlicher Geschäftsführer von plan-quadrat, einem Unternehmen in Wels, das digitale Pläne und Modelle von Gebäuden anfertigt. Er hat 2003-2005 an der Universität für Weiterbildung Krems Facility Management studiert und beschäftigt sich seit 25 Jahren mit Datenverwendung in der Planung und im Facility Management.
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