Mit der Weiterbildungsreform ist ein Zugang zu universitären Abschlüssen auch für Menschen ohne formalen Hochschulzugang nicht nur möglich, sondern notwendig. „Inklusive Bildung“ heißt die Aufforderung. Sie wird Mensch und Gesellschaft zugutekommen.

Von Sabine Fisch

Was ist Bildung eigentlich? Wo fängt sie an und wo hört sie auf? Kann und darf sie überhaupt aufhören? Das Universitätsgesetz 2002 setzte bis zur Novelle 2021 stark auf formale Zugangskriterien. Bildung war zu einem großen Teil das, wofür ein formaler Abschluss in Form eines Zeugnisses vorlag, idealerweise aus postsekundären Einrichtungen wie einer Uni. Abschlüsse einer außerhochschulischen Bildungseinrichtung oder auch der Nachweis von ausreichend langer und qualitativer Berufserfahrung konnten vorrangig bei der Zulassung zu einem Studium im Rahmen einer gleichzuhaltenden Qualifikation geltend gemacht werden. Die Novelle 2021 des Universitätsgesetzes, kurz UG, sieht nun unter anderem eine einheitliche Anerkennung non-formal – etwa die Teilnahmebestätigung eines Seminaranbieters – und informell – zum Beispiel Berufserfahrung – erworbener Lernergebnisse an österreichischen Hochschulen vor. Das gilt für Weiterbildungsstudien genauso wie für klassische Regelstudien. Seit 1. Oktober 2022 können sich Menschen Leistungen für ihr Studium anerkennen lassen, die beispielsweise nach dem Lehrabschluss viele Jahre Berufserfahrung gesammelt haben oder aber zugewandert sind, über keine formal gültigen Abschlüsse verfügen, aber schulische oder gar akademische Lernerfahrungen vorweisen können. Warum dieser Wandel Richtung mehr Durchlässigkeit?

Monika Kil

„Wir möchten, dass die Menschen an Bildung teilhaben, wissenschaftsbasiert und lösungsorientiert die großen gesellschaftlichen Herausforderungen mitgestalten können.“

Monika Kil

Gesellschaftliche Veränderungen, wie etwa ein volatiler Arbeitsmarkt, die zunehmende Digitalisierung und neue Entwicklungen – Stichwort „Künstliche Intelligenz“ – bedingen heute ein fortgesetztes Lernen, nicht nur, damit jede und jeder möglichst gleichberechtigt Teil einer demokratischen Gesellschaft sein kann, sondern auch, um im Beruf auf dem Laufenden zu bleiben und Karriereperspektiven sehen und umsetzen zu können, wovon auch die Volkswirtschaft profitiert. „Und da sind wir schon bei der Frage des Zugangs für Alle“, hält die Bildungsforscherin Monika Kil, Koordinatorin des Zentrums für transdisziplinäre Weiterbildungsforschung der Universität für Weiterbildung fest. „Denn nicht jeder und jede hat die Möglichkeit, Bildungs- und Karrierewege zu gestalten und oder fortzusetzen .“ Elke Gruber, Inhaberin des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Universität Graz, stimmt zu: „Menschen aus einem bestimmten sozialen Milieu, Menschen mit besonderen Bedürfnissen, Menschen, die sich beim Erwerb der vorgegebenen schulischen Ausbildung schwertun, haben später natürlich auch Schwierigkeiten, ihren Weg an die Universität und/oder an Weiterbildungsuniversitäten zu finden.“ Denn wer über bestimmte Möglichkeiten der Weiterbildung nichts weiß oder keinen formalen Bildungsabschluss sein Eigen nennen kann, scheitert schon am Beginn jedweder Möglichkeit, sich – mit einer entsprechenden, Aus-, Fort- oder Weiterbildung auseinander setzen zu können, oder gar einen universitären Abschluss zu erzielen.

Irische Erfahrung

Das zeigt auch der Blick von außen. Prof. PhD Seamus O`Tuama, Director des Centre for Adult Continuing Education (ACE) am University College Cork in Irland meint etwa: „Hier in Irland sehen wir eine große Gruppe von Menschen, für die eine Universitätsausbildung immer noch sehr schwierig ist. Das sind zum Beispiel die ‚irish travellers‘, eine indigene Bevölkerungsgruppe, die im irischen Bildungssystem stark unterrepräsentiert ist.“ Er will die Einbindung aller Gruppen in ein starkes Bildungssystem umgesetzt sehen, denn „Diversität bedeutet, offen für alle Menschen zu sein, egal, ob es um Menschen mit Behinderungen, anderer Hautfarben oder unterschiedlicher Gender-Identitäten geht.“ Und er ist der Ansicht, dass Diversität an Schulen, Universitäten und anderen postgradualen Ausbildungsstätten der Schlüssel für eine offene Gesellschaft ist, die für Menschenrechte, Gleichheit und Demokratie steht. Dazu setzt der irische Bildungsforscher auf zwei Säulen: „Wir müssen mehr in die Community Education, die Bildungs- und Gemeinwesenarbeit zusammenführt setzen und Bildungswege kreieren, die nicht-formales und informelles Lernen in formales Lernen umwandeln.“

Das österreichische Universitätsgesetz will mit der Novelle 2021 genau solche Bildungswege etablieren, wie O`Tuama sie beschreibt. „Wir hatten bislang ein sehr rigides Zugangssystem zu öffentlichen Universitäten“, erläutert Dr. Nikolai Neumayer, stellvertretender Leiter des Departments für Wissens- und Kommunikationsmanagement an der Universität für Weiterbildung Krems. „Mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses insgesamt, speziell aber mit der Novelle des Universitätsgesetzes können wir viele dieser Zugangsvoraussetzungen offener gestalten.“ Dies gelte insbesondere für jene Personen, die keinen formalen Bildungsabschluss nachweisen können, aber auch für Menschen mit Lehrabschluss ohne Matura, mit unterschiedlichen, aber bislang nicht von Universitäten anerkannten Weiterbildungsformaten. „Das Ziel der Umsetzung dieses Teils des Bologna-Prozesses war es, eine Weiterbildungsuniversität zu schaffen, die ganz unterschiedliche Zugänge für viele verschiedene berufliche Wege eröffnet.“

Weiterbildungsbachelor bringt neue Chancen

Für die Universität für Weiterbildung stellte die Umsetzung der letzten Novelle des Universitätsgesetzes eine interessante Herausforderung dar. Die Möglichkeit, sich Vorkenntnisse anerkennen zu lassen, die abseits formaler Bildungsabschlüsse vorhanden sind, von der Lehre, über bestimmte Weiterbildungsseminare bis hin zum abgebrochenen Universitätsstudium ist erstmals gesetzlich festgeschrieben und baut damit auf die Erfahrungen der Universität für Weiterbildung auf. Die nun auch möglichen neuen Weiterbildungsbachelor zusammen mit Masterabschlüssen konsekutiv anzubieten, erfordert eine neue interfakultäre Zusammenarbeit der unterschiedlichen Departments, der Verwaltung und der verschiedenen Leitungspositionen an der Universität Krems. Für eine reibungslose Umsetzung der Weiterbildungsreform wurde ein eigenes Projekt aufgesetzt, das alle Schlüsselpositionen vereinte. „Wir haben in vielen unterschiedlichen Arbeitsgruppen die Umsetzung erarbeitet“, so Nikolai Neumayer. „Welche Prozesse müssen verändert oder neu aufgestellt werden? Welche Unterstützungsmaßnahmen braucht es dazu aus der Verwaltung? Es blieb kaum ein Stein auf dem anderen“, schmunzelt Neumayer. „Das hat uns aber auch enorm weitergebracht, die Kommunikation untereinander verbessert und letztlich Bachelorstudien hervorgebracht, die nicht nur den Anforderungen des UG entsprechen, sondern auch vielfältige Möglichkeiten der Weiterbildung auf Universitätsebene bieten, die nun sehr vielen Menschen offen stehen.“

Schon viel früher ansetzen

Doch genügt der Baustein Weiterbildungsreform für eine inklusive Bildung aller? „Bildung für alle beginnt viel früher als in der Schule und dort gehören bereits die Lernvoraussetzungen sichergestellt und dann entlang der Lebensspanne gepflegt“, sagt Bildungsforscherin Monika Kil. Ihre Forderung: Die Bedeutung von Hirngesundheit für alle als Voraussetzung, persönliche Potenziale und damit jene der Bildung voll auszuschöpfen. Ihr Forschungszugang schließt sich der Weltgesundheitsorganisation (WHO 2022) an: Dort wird Hirngesundheit definiert als der Zustand von Hirnfunktionen in allen kognitiven, sensorischen, sozial-emotionalen, verhaltensbezogenen und motorischen Bereichen, der es einer Person ermöglicht, ihr Potenzial im Laufe ihres Lebens voll auszuschöpfen, unabhängig davon, ob Störungen vorliegen oder nicht. Kil: „Schon im Kindergarten sollte sichergestellt werden, dass die Lernvoraussetzungen zur Bildung für alle Kinder, ob mit einer oder mehrerer sprachlicher Herkünfte, gefördert werden.“ Elke Gruber ergänzt: „Aus anthropologischer Sicht können wir nicht durchs Leben gehen, ohne zu lernen“. Auch die Aneignung bestimmter Fähigkeiten, wie etwa Lesen, Schreiben, der Erwerb von Wissen und die Fähigkeit, zu wissen, wo bestimmte Inhalte zu finden sind, gehörten ganz essenziell zur Bildung und zum lebenslangen Lernen, so Gruber.

Werkzeuge für große Aufgaben

Monika Kil von der Universität Krems sieht damit das Weiterbildungssystem in der Veränderung. Es gehe bei Bildung und Weiterbildung heute nicht mehr nur um ein individuelles Schneller, Höher, Weiter. „Wir möchten, dass die Menschen an Bildung teilhaben, wissenschaftsbasiert und lösungsorientiert die großen gesellschaftlichen Herausforderungen mitgestalten können. Neben der Verbesserung der Lebensqualität kann der Ansatz inklusiver Bildung dazu beitragen, Menschen mit den notwendigen Werkzeugen auszustatten, um innovative Lösungen für die größten Herausforderungen der Gegenwart zu finden.“


MONIKA KIL
Univ.-Prof. Dr. phil. habil Monika Kil, Koordinatorin des Zentrums für transdisziplinäre Weiterbildungsforschung im Department Weiterbildungsforschung und Bildungstechnologien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind „Teilhabe an Weiterbildung“ und „soziale Inklusion“, „Bildungsmanagement und digitale Bildungsdiagnostik“ sowie „Benefits of Lifelong Learning“.

ELKE GRUBER
Univ. Prof. Dr. Elke Gruber ist Inhaberin des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Universität Graz. Sie kam von der Pflege, machte das Abitur am zweiten Bildungsweg und studierte schließlich Medizin-Pädagogik an der Humboldt Universität zu Berlin. Seit 2019 leitet sie das Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Universität Graz.

SEAMUS O´TUAMA
Dr. Seamus O’Tuama ist Direktor von ACE (Adult Continuing Education) am University College Cork, Irlands ältestem universitären Zentrum für Erwachsenenbildung und Weiterbildung. Zuvor leitete er das Zentrum für Europäische Sozialforschung in Irland.

NIKOLAI NEUMAYER
Dr. Nikolai Neumayer ist stellvertretender Leiter des Departments für Wissens- und Kommunikationsmanagement an der Universität für Weiterbildung Krems. Seine Forschungsschwerpunkte sind „Lean Management“, „Process Management“, „Quality Management“ und „Information Management“.

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