Sie sind klein, unscheinbar und galten bis vor wenigen Jahren lediglich als „Müllfahrzeuge“ der Zellen. Extrazelluläre Vesikel sind aber viel mehr – erste Entwicklungen deuten auf vielfältige medizinische Anwendungsmöglichkeiten.
Von Sabine Fisch
Extrazelluläre Vesikel, im medizinischen Fachjargon kurz EV genannt, wurden in den 1960er-Jahren erstmals beschrieben. Zwanzig Jahre später dann meinte man, ihre Funktion erforscht zu haben. Sie wurden für „Müllentsorger“ der Zellen gehalten. In Wirklichkeit allerdings – und das ist derzeit Gegenstand vieler Forschungsarbeiten – können die kleinen Partikel, die von fast jeder menschlichen, tierischen und pflanzlichen Zelle abgesondert werden, viel mehr. „Erst durch die Etablierung und Weiterentwicklung analytischer Methoden wurde eine genaue Untersuchung der EVs möglich“, sagt René Weiss vom Zentrum für Biomedizinische Technologie. „Dazu zählen etwa die Durchflusszytometrie, die dynamische Lichtstreuung, die Elektronenmikroskopie oder die hochauflösende konfokale Mikroskopie.“
EVs sind nicht nur für den Transport von Substanzen aus einer Zelle in eine andere verantwortlich. Sie könnten in Zukunft auch eine wesentliche Rolle in der Therapie verschiedener Erkrankungen spielen. EVs können nämlich – wie winzige Transportfahrzeuge – Substanzen genau an die Stelle bringen, an der sie wirken sollen. „EVs können als Drug-Delivery-Systeme verwendet werden“, sagt Ass.-Prof. Mag. Dr. Andrea De Luna vom Zentrum für Regenerative Medizin an der Donau-Universität Krems. „Theoretisch können wir sie mit bestimmten Substanzen beladen und dann zum Beispiel an eine verletzte Stelle im Körper senden, um neues Gewebe aufzubauen.“
An der Donau-Universität Krems sind extrazelluläre Vesikel seit einiger Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Denn diese winzigen, Membran-umschlossenen Vesikel weisen immunmodulierende Wirkungen auf, regen zellintern Reparaturen an und können – neben ihren therapeutischen Möglichkeiten – auch in der Diagnostik von Erkrankungen als Biomarker eine wichtige Rolle spielen.
Hoffnung bei Kniegelenksarthrose
Dies gilt etwa insbesondere bei degenerativen Erkrankungen, wie etwa der Kniegelenksarthrose. Bislang wurden zur Stimulation des Knorpelaufbaus im Kniegelenk häufig körpereigene Knorpelzellen oder Stammzellen verwendet. Letztere können entweder vom Patienten selbst oder von einem Spender stammen. Durch den Einsatz von EVs könnte auf die Stammzelltransplantation verzichtet werden. Und das hat viele Vorteile.
„Aus Stammzellen isolierte EVs haben theoretisch die gleichen biologischen Funktionen wie Stammzellen, bieten aber Vorteile in Bezug auf ihre geringere Größe und geringere Immunogenität“, berichtet De Luna. „Außerdem können Probleme, die im Zusammenhang mit direkten Zelltransplantationen stehen, wie zum Beispiel geringes Überleben oder unvorhersehbares Langzeitverhalten, von Zellen umgangen werden“, weiß De Luna.
In ihrem Projekt The Role of Microvesicles from Blood Derived Products in Ostheoarthritis untersucht De Luna mit ihrem Team das therapeutische Potenzial von EVs, die von sogenannten mesenchymalen Stammzellen des Hoffa-Fettkörpers isoliert werden. Der Hoffa-Fettkörper ist im Kniegelenk, zwischen Schienbeinkopf, Kniescheibenband und Kniescheibe situiert.
”
„EVs sind keine Wundermittel, aber sie erkaufen dem Organismus die Zeit, die er braucht, um verletztes Gewebe bestmöglich zu regenerieren.“
Mario Gimona
Einsatz als Biomarker
„Wir entnehmen Stammzellen aus dem Hoffa-Fettkörper, isolieren daraus die EVs und beobachten dann, wie sich diese auf osteoarthritische Knorpelzellen auswirken“, erklärt De Luna. „EVs können lokal in das erkrankte Gewebe eingebracht werden“, so De Luna weiter. „Sie können jedoch auch leicht durch den Körper wandern, ohne vom Immunsystem erkannt zu werden.“ Dies zeigt einen weiteren Vorteil von EVs. Da die Partikel Veränderungen ihrer Umgebung speichern, können sie nicht nur zur Therapie, sondern auch zur Diagnostik dienen – als Biomarker bei bestimmten Erkrankungen zum Beispiel.
Diese Eigenschaft extrazellulärer Vesikel macht sich etwa René Weiss in seinen Forschungsprojekten zunutze. „Zum einen sehen wir bei Sepsis-Patientinnen und -Patienten eine verstärkte Generierung von EVs, die zu einer proinflammatorischen Reaktion beitragen können“, erklärt Weiss. „Wir untersuchen vor allem extrakorporale Verfahren, mit denen unerwünschte Substanzen aus dem Blut entfernt werden können.“
Ein solches Verfahren, wie es etwa auch die Dialyse darstellt, ist eine unterstützende Maßnahme bei Sepsis. „Wir wollen erforschen, inwieweit EVs in diesem extrakorporalen Verfahren eine Rolle spielen.“ In Kooperation mit der Sepsis Unit am Universitätsklinikum St. Pölten wird derzeit untersucht, wie das C-reaktive Protein (CRP) mit den EVs zusammenspielt. „Damit wollen wir herausfinden, ob und wie wir CRP-assoziierte EVs mit Hilfe bestimmter Absorbermaterialien verringern können.“
Bei Sepsis scheinen EVs also tendenziell eine negative Rolle zu spielen. Allerdings könnte die Charakterisierung dieser EVs für diagnostische Zwecke herangezogen werden. „Wir untersuchen, ob EVs, die bei einer Sepsis ausgeschüttet werden, auch als Biomarker dienen können, um den Verlauf der Erkrankung besser prognostizieren zu können“, erklärt Weiss.
Mit EVs in der Geweberegeneration beschäftigt sich Mario Gimona. Der Biologe hat vor zwei Jahren, gemeinsam mit der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg (PMU), ein Start-up gegründet, das sich vor allem mit der Regeneration von Sehnen-Knochen-Ansatzstellen befasst. Das Unternehmen, das den Namen Celericon Therapeutics trägt, fokussiert sich vor allem auf zwei Forschungsgebiete: „Wir untersuchen, inwieweit EVs bei Sehnenverletzungen einen positiven Einfluss auf den Heilungsverlauf nehmen können, und schauen uns an, welche Rolle sie bei der Verbesserung der Funktion von Cochlea-Implantaten spielen können.“
„Wenn eine Sehne reißt, etwa in der Schulter, so wird diese operativ wieder am Knochen befestigt“, erklärt Gimona. „Allerdings bildet sich an den operierten Stellen rasch Narbengewebe, das die vollständige Regeneration behindert und damit die Funktionsfähigkeit der Schulter einschränkt.“
Und genau hier sollen die EVs eingesetzt werden. Werden diese nämlich während des chirurgischen Eingriffs an den Ort der Verletzung gebracht, können sie die Narbenbildung verhindern und so eine verbesserte Heilung der betroffenen Stellen ermöglichen. „EVs sind keine Wundermittel, aber sie erkaufen dem Organismus die Zeit, die er braucht, um verletztes Gewebe bestmöglich zu regenerieren“, hält Gimona fest.
Besser hören mit EVs?
Ein weiteres vielversprechendes Projekt, in dem EVs in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen könnten, ist das Thema „Gehörverlust“. In Zusammenarbeit mit Kollegen an der Medizinischen Hochschule Hannover erprobt Gimona derzeit den Einsatz von EVs vor der Implantation der Elektrode eines Cochlea-Implantats. „Bei rund 15 Prozent der Patientinnen und Patienten, die ein solches Cochlea-Implantat benötigen und mit dem Menschen nach Gehörverlust wieder hören können, bildet sich Narbengewebe um die Elektrode im Innenohr“, erläutert Gimona. „Dieses Narbengewebe wirkt wie eine Isolationsschicht und verhindert so, dass die elektrischen Impulse von der Elektrode zu den Hörnerven gelangen und von diesen aufgenommen werden können.“ Werden vor der Implantation der Elektrode die EVs in das Innenohr eingebracht, so verhindern sie die Bildung von Narbengewebe, damit das Implantat tadellos funktionieren kann.
Noch wird an den Grundlagen gearbeitet. Für 2020 peilt Gimona den nächsten Schritt an: „Wir wollen mit EVs bei Sehnenverletzungen und bei Cochlea-Implantaten in die klinische Anwendung gelangen.“ Dann können EVs ihre Vielseitigkeit in der Praxis zeigen.
ANDREA DE LUNA
Ass.-Prof. Mag. Dr. Andrea De Luna ist Assistenzprofessorin für Tissue Engineering and Regenerative Medicine an der Donau-Universität Krems. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Isolierung, Kultivierung und Charakterisierung von Stammzellen und anderen Säugetierzellen, z. B. Chondrozyten, Krebszellen, sowie die Charakterisierung extrazellulärer Vesikel zur Knorpelregeneration.
RENÉ WEISS
Mag. Dr. René Weiss forscht am Zentrum für Biomedizinische Technologie an der Donau-Universität Krems. Weiss ist Molekularbiologe und arbeitet seit 2013 als Forscher am Christian-Doppler-Labor Innovative Therapy Approaches in Sepsis. Sein Interesse gilt vor allem dem Einsatz von EVs in Diagnostik und Therapie der Sepsis.
MARIO GIMONA
Univ.-Doz. Dr. Mario Gimona ist Biologe und Herstellungsleiter im GMP-Labor der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU). Seit 2012 beschäftigte er sich an der PMU mit der Entwicklung neuer, zellbasierter Arzneimittel und der Herstellung therapeutischer Zellen. 2018 war er an der Gründung der Celericon Therapeutics GmbH, gemeinsam mit der PMU, beteiligt, deren Schwerpunkt auf der Charakterisierung und therapeutischen Anwendung extrazellulärer Vesikel liegt.
weitere artikel dieser ausgabe
Tags