Präzisionsmedizin ist längst mehr als Krebserkrankungen nach molekularen Mustern zu untergliedern. Sie hat in alle medizinischen Teilgebiete Einzug gehalten und profitiert vom Fortschritt der Künstlichen Intelligenz.
Von Georg Sachs
Frau K. hat eine äußerst unerfreuliche Diagnose erhalten: Die Knötchen in ihrer linken Brust sind bösartige Gewebeveränderungen, sie hat Brustkrebs. Routinegemäß wird das entnommene Gewebe auf den sogenannten Rezeptorstatus untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass Frau K. Glück im Unglück hat: Die Zellen des Tumors prägen an ihrer Oberfläche in erhöhtem Maße den Rezeptor HER2 aus. Noch vor 20 Jahren war das eine schlechte Nachricht: An HER2 binden Wachstumsfaktoren, die die Vermehrung der Krebszellen fördern und diese noch aggressiver machen, als sie ohnehin schon sind. Doch im Jahr 2000 wurde in Europa der Wirkstoff Trastuzumab zugelassen – ein Antikörper, der sich speziell gegen die molekulare Struktur von HER2 an der Zelloberfläche richtet. Eine Behandlung mit diesem Arzneimittel verbessert diverse klinische Parameter wie Ansprechrate, progressionsfreies Zeitintervall und Gesamtüberlebensrate signifikant.
Die Verabreichung von Trastuzumab, dann und nur dann, wenn der Rezeptor HER2 in erhöhtem Maße ausgeprägt ist (medizinisch ausgedrückt überexprimiert), ist ein klassisch gewordenes Beispiel für die Vorgehensweise, traditionelle Krankheitsbilder in Untergruppen zu untergliedern. Patienten aus verschiedenen solchen Gruppen zeigen zwar ähnliche Symptome, ihre Erkrankungen unterscheiden sich aber in den Details der mit dem Krankheitsbild korrespondierenden molekularen Mechanismen. Daher ist es sinnvoll, ihnen unterschiedliche, auf diese Details abgestimmte Therapien zukommen zu lassen. Die Krebsmedizin war Vorreiter auf diesem Weg, heute wird er längst auch von vielen anderen Fachrichtungen beschritten. Vielleicht waren die Erwartungen zunächst überzogen, als man begann, in diesem Zusammenhang von „Personalisierter Medizin“ zu sprechen: „Man hatte die Vision, eine auf jeden Patienten individuell zugeschnittene Behandlung zu finden. Ich denke, das ist heute und auch mittelfristig noch nicht möglich“, führt Emanuele Gatti auf den Boden der Tatsachen zurück. Meist wird heute daher der Ausdruck „Präzisionsmedizin“ bevorzugt, der den Kern der Sache treffender benennt, auch von der „Stratifizierung“ einer Patientenkohorte ist immer wieder die Rede. Gatti hat die Entwicklung als Vorstand von Fresenius Medical Care über viele Jahre verfolgt. „Wir haben schon um das Jahr 2000 damit begonnen, systematisch physiologische Parameter der Patienten zu erheben, um eine Spezialisierung der Dialyse-Behandlung vornehmen zu können“, erinnert er sich. Um und Auf einer solchen Spezialisierung war auch hier also eine Verfeinerung der Diagnostik. So wie in der Krebsmedizin eine präzisere Behandlung durch das Erheben zusätzlicher Parameter (zum Beispiel des Rezeptorstatus) möglich wurde, so geht es auch in anderen medizinischen Fachbereichen darum, die Diagnose zu verbessern. Gatti weist auf zwei Parameter hin, auf die es dabei ankommt: „Wir müssen die Genauigkeit und die Pünktlichkeit der Diagnose verbessern.“
Genaue und pünktliche Diagnose
Ein gutes Beispiel dafür ist die Sepsis. Ein typisches Szenario: Bei einem Patienten, der mit einer Verletzung ins Krankenhaus eingeliefert wurde, sind Bakterien über die verletzte Stelle in den Körper eingedrungen und haben eine Entzündungsreaktion ausgelöst, die sich in kurzer Zeit über den gesamten Körper ausbreitet. Der Gesundheitszustand verschlechtert sich rasant: Der Patient bekommt Fieber, das Herz beginnt zu rasen, er schnappt nach Luft. Ein Multi-Organ-Versagen droht. „Sepsis ist ein klinisches Syndrom“, sagt dazu Viktoria Weber, Leiterin des Departments für Biomedizinische Forschung an der Donau-Universität Krems. Sie hat sich gemeinsam mit ihrem Forschungsteam im Rahmen eines Christian-Doppler- Labors (kurz CD-Labor) ausgiebig mit diesem Ausnahmezustand des Organismus beschäftigt (siehe Interview auf Seite 15). „Wir finden bei Sepsis ein hohes Maß an Heterogenität zwischen unterschiedlichen Patienten. Es dringen unterschiedliche Erreger an unterschiedlichen Stellen des Körpers ein, es werden verschiedene Entzündungsmediatoren in unterschiedlichen Konzentrationen und mit unterschiedlichen Zeitverläufen ausgeschüttet. Entsprechend unterschiedlich reagieren Patienten auch auf bestimmte Therapien“, erklärt Weber. So hat man zum Beispiel die Erfahrung gemacht, dass die Behandlung mit Antikörpern, die sich gezielt gegen bei Sepsis häufig ausgeschüttete Zytokine richten, keine Abnahme der Sterblichkeit bewirkte. „Retrospektiv betrachtet, zeigte sich, dass viele der Patienten zum Zeitpunkt der Verabreichung gar keinen erhöhten Zytokinspiegel hatten“, analysiert Weber. „Zeitpunkt“ ist hier das entscheidende Stichwort: Das molekulare Geschehen bei Sepsis ist in hohem Grade dynamisch. Präzise zu behandeln bedeutet dementsprechend auch, den richtigen Augenblick für eine Intervention zu finden.
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„Die Kombination von hochaufgelöstem Imaging mit chirurgischen Robotersystemen wird in Zukunft Operationen im Mikro- und sogar Nanometerbereich zulassen.“
Emanuele Gatti
Das Genom und die Resistenz
Eine der Zielrichtungen im CD-Labor war daher, eine genauere und schnellere Diagnose zu ermöglichen – vor allem, was die Art der bakteriellen Erreger betrifft. Auf diesem Gebiet arbeitet Weber unter anderem mit der Firma Ares Genetics zusammen, die dafür einen neuartigen Ansatz verfolgt. Denn die Art, wie Gesundheitssysteme mit bakteriellen Infektionen umgehen, ist der zeit alles andere als zufriedenstellend. Andreas Posch, Geschäftsführer von Ares Genetics, präsentierte dazu im Rahmen der Abschlusstagung des CD-Labors am 13. Februar aussagekräftiges Zahlenmaterial: Eine US-amerikanische Studie zum Antibiotika-Einsatz zeigte, dass von 499 Patienten 22 Prozent unterbehandelt, 63 Prozent aber überbehandelt wurden und folglich nur 15 Prozent eine adäquate Therapie erhielten. Fast zwei Dritteln der Betroffenen wurde demnach ein Antibiotikum verabreicht, obwohl gar kein Erreger vorlag, gegen den dieses gewirkt hätte. Und beinahe ein Viertel hätte bei richtiger Diagnose mit einem wirksamen Präparat behandelt werden können, was aber unterblieben ist. Präzisionsmedizin sieht anders aus.
„Das Problem ist meist: Ärzte müssen bei Infektionen oft schnell reagieren, mit den gängigen kulturbasierten Methoden dauert es aber zumeist zwischen einem und drei Tagen, bis man weiß, um welchen Keim es sich handelt“, schildert Posch die gegenwärtige Situation. Besonders drängend wird dieses Problem aufgrund der immer häufiger auftretenden Resistenzen bakterieller Keime gegenüber einzelnen Antibiotika-Klassen. Resistenzen sind durch Genmutationen verursacht, mit denen die Bakterien dem Selektionsdruck entweichen, den der Antibiotika-Einsatz für sie bedeutet. Ares verfolgt daher einen diagnostischen Ansatz, der auf der Sequenzierung des bakteriellen Genoms beruht, anstatt den infektiösen Stamm aufgrund einiger Biomarker zu bestimmen. Das Unternehmen propagiert einen Pathogen-Assay, der aus drei Elementen besteht, wie Posch erläutert: „Wir haben ein Laborverfahren für die Sequenzierung der Erreger-DNA entwickelt. Die auf diese Weise erhobenen Daten werden mit einer Referenzdatenbank verknüpft, die vollständige DNA-Sequenzen pathogener Bakterien-Stämme aus mehr als 200 Kliniken auf der ganzen Welt enthält.“ Die Datenbank korreliert für mehr als 100 Antibiotika Genotypus mit Phänotypus, zeigt also auf, welche Mutationen zu Empfindlichkeit oder Resistenz gegenüber den gängigen Antibiotika-Klassen beitragen. Drittes Element ist ein Cloud-basiertes „Decision Support System“, das auf Basis von intelligenten Algorithmen helfen soll, in der klinischen Praxis Schlüsse aus dem Datenvergleich zu ziehen. Posch berichtet von beachtlichen Ergebnissen: „In verblindeten Evaluierungsstudien erreichen wir bei der Detektion von Antibiotika-Resistenzen bereits eine Genauigkeit von bis zu 99 Prozent“ (siehe auch Artikel „Die Kombination macht’s“).
Diagnose durch Maschinen
An diesem Beispiel zeigt sich eine wichtige Quelle der Präzision: Bei der Beurteilung eines konkreten Falls wird auf das Wissen zurückgegriffen, das in unzähligen vergleichbaren Fällen erworben wurde. Und weil die Datenmengen, die man dabei handhaben muss, immens sind, bedient man sich Werkzeugen aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz. Michaela Fritz, Vizerektorin der Medizinischen Universität Wien, schreibt insbesondere den Entwicklungen, die in diesem Zusammenhang von medizinischen Bildgebungsverfahren ausgehen, ein enormes Entwicklungspotenzial zu. „Durch die Verbindung von Imaging-Daten mit Verfahren der Big-Data-Analyse auf der Basis des maschinellen Lernens werden derzeit ganz neue diagnostische Möglichkeiten erschlossen“, sagt Fritz. Maschinelles Lernen bedeutet hier, dass Algorithmen anhand von Datensätzen trainiert werden – entweder indem man eine große Zahl von Diagnosen, auf die Expertinnen und Experten aus Bilddaten geschlossen haben, zur Verfügung stellt („überwachtes Lernen“) oder indem man sie selbst – unüberwacht – nach Strukturen in den Bildern suchen lässt. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig. Zum einen können dem in der Praxis stehenden Arzt Vorschläge unterbreitet werden, die sich auf eine Vielzahl von evidenten Fällen gründen und nicht nur auf die eigene Erfahrung. Zum anderen eröffnet sich die Möglichkeit, dass neue Muster, die dem menschlichen Auge bisher entgangen sind, gefunden und mit dem klinischen Befund der betreffenden Patienten verknüpft werden. Emanuele Gatti weist noch auf einen weiteren Einsatz der Bildgebung hin: „Die Kombination von hochaufgelöstem Imaging mit chirurgischen Robotersystemen wird in Zukunft Operationen im Mikro- und sogar Nanometerbereich zulassen.“ Auch das ist eine Form von Präzision, die bisher nicht erreicht wurde.
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„Es gibt eigentlich kein medizinisches Anwendungsgebiet, wo Präzisionsmedizin nicht zum Tragen käme.“
Michaela Fritz
Präzises Wissen zu chronischen Erkrankungen
An der Medizinischen Universität Wien sieht man in der Präzisionsmedizin einen breiten, integrativen Ansatz: „Es gibt eigentlich kein medizinisches Anwendungsgebiet, wo das nicht zum Tragen käme“, so Fritz. Auf dem Campus am Wiener AKH soll ab 2022 ein eigenes Zentrum für Präzisionsmedizin errichtet werden, die Kosten dafür werden auf 60 Millionen Euro geschätzt. Einer der Bannerträger dieses Vorhabens ist Christoph Binder vom Klinischen Institut für Labormedizin. „Bei seltenen Erkrankungen kommt Präzisionsmedizin schon heute zum Einsatz. Wir versuchen aber auch immer mehr zu verstehen, ob wir Präzisionsmedizin auch für häufige chronische Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems verwenden können“, sagt Binder. So könne man zum Beispiel mittels eines besseren Verständnisses der genetischen Prädisposition abschätzen, ob eine bestimmte Therapie oder eine bestimmte Präventionsmaßnahme bei einem Patienten besser wirksam ist als bei einem anderen.
Auch in der Kardiologie ist diese Vision nur dann umsetzbar, wenn man die Mechanismen der Krankheitsentstehung präzise erforscht, wie Binder beim Abschlusssymposium des CD-Labors für Sepsis-Forschung berichtete. Sein engeres Arbeitsgebiet ist die Rolle des Immunsystems bei der Entstehung von Atherosklerose – einem chronisch-entzündlichen Prozess, der als eine der Hauptursachen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in fortgeschrittenem Alter gilt. Binders Team hat herausgefunden, dass IgM-Antikörper des angeborenen Immunsystems eine wichtige Schutzfunktion gegenüber der Entstehung von Atherosklerose haben. Mit dem Team von Viktoria Weber verbindet den Forscher das Interesse an Mikrovesikeln – kleinen, membranumschlossenen Partikeln, die sich von zahlreichen Zellen des Körpers abschnüren und dabei biologische Information mit sich tragen – welche, ist noch größtenteils Gegenstand aktueller Forschungsarbeiten. „Auch in kardiovaskuläre Erkrankungen sind vielfältige Formen von Mikrovesikeln involviert, die von verschiedenen Arten von Zellen abgegeben werden“, so Binder. Sie zu erforschen, ist ein weiterer kleiner Baustein zur Kenntnis des vielfältigen molekularen Geschehens, ohne die die Vision einer präzise zugeschnittenen Medizin nicht realisiert werden kann.
Georg Sachs ist Chefredakteur der Zeitschrift „Chemiereport/Austria Life Sciences“
EMANUELE GATTI
Univ.-Prof. dott. ing. Emanuele Gatti war im Vorstand von Fresenius Medical Care, einem führenden Anbieter von Dialyse-Produkten, für die Regionen Europa, Naher Osten, Afrika und Lateinamerika sowie für weltweite Strategieentwicklung verantwortlich. Er ist Gastprofessor an der Donau-Universität Krems.
VIKTORIA WEBER
Univ.-Prof. Dr. Viktoria Weber ist Leiterin des Departments für Biomedizinische Forschung sowie Vizerektorin für Forschung der Donau-Universität Krems. Seit 2013 leitete sie das CD-Labor für Innovative Therapieansätze in der Sepsis.
ANDREAS POSCH
Dr. Andreas Posch war im Gründungsteam des Unternehmens Ares Genetics und fungiert nun als dessen Managing Director und CEO.
CHRISTOPH BINDER
Univ.-Prof. DDr. Christoph Binder forscht am Klinischen Institut für Labormedizin der Medizinischen Universität Wien sowie am Research Center for Molecular Medicine (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
MICHAELA FRITZ
Dipl.-Ing. Dr. Michaela Fritz ist Vizerektorin für Forschung und Innovation der Medizinischen Universität Wien.
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