Der menschliche Organismus besteht aus 10 bis 100 Billionen Zellen. Diese Zellen sind aber keine starren Gebilde. Ihre Bewegungsfähigkeit untersucht die Mechanobiologie. Sie möchte sich Zelleigenschaften für die Therapie von Erkrankungen zunutze machen.
Von Sabine Fisch
Jeden Tag bilden sich in unserem Organismus Billionen neuer Zellen. Um das Gleichgewicht im Organismus aufrechtzuerhalten, sterben – bei aufrechter Gesundheit – täglich ebenso viele Zellen ab. Dies wird als Homöostase oder Gleichgewicht bezeichnet. Jedes Haar, jede Hautzelle, sämtliche Organe, unser Blut, die Nerven, Bänder, Knorpel, Sehnen und Knochen setzen sich aus einzelnen Zellen zusammen, die permanent einem Umbau unterliegen. In komplexen Organismen wie dem Menschen sind Zellen stark ausdifferenziert und übernehmen verschiedene Funktionen. Die Kommunikation in Form verschiedener Signalübertragungsarten zwischen den Zelltypen ist daher wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des Organismus. Mechanobiologische Aspekte sind dabei bislang wenig beachtet worden. Die Lehre von der Mechanobiologie untersucht die Bewegungsfähigkeit menschlicher Zellen auf mechanische Impulse dort, wo Kräfte in biochemische Signale umgesetzt werden.
Denn Zellen sind keine starren Gebilde. Sie interagieren mit den Kräften, die ständig auf sie einwirken. Jede Kraft, die auf eine Zelle im Organismus einwirkt, wird in ein bestimmtes Signal umgewandelt. Ein Beispiel: „Das menschliche Blut fließt durch unsere Blutgefäße, die mit dem Endothel ausgekleidet sind“, erklärt Michael Bernhard Fischer, Professor für Gewebe und Organersatz an der Donau-Universität Krems. „Dabei entstehen Scherkräfte auf die Zellen.“ Normalerweise passiert dies unauffällig. Anders sieht die Sache aus, wenn ein Mensch etwa unter Bluthochdruck (Hypertonie) leidet. Dann fließt das Blut mit deutlich stärkerer Amplitude durch die Blutgefäße und kann die Endothelzellen aufgrund dieser ständigen Krafteinwirkung schädigen. Dies kann langfristig zu schweren Herzerkrankungen führen.
Aber auch Sportlerinnen und Sportler setzen ihre Körperzellen vielen Belastungen aus. So müssen etwa Knorpelzellen, wie sie in den Gelenken zu finden sind, beim Laufen eine sehr starke Krafteinwirkung aushalten. Langfristig kann dies zu Schädigungen am Knorpel bis hin zu Knorpelverlust führen.
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„Stammzellen sind ein ergiebiges Forschungsgebiet in der Mechanobiologie.“
Michael Bernhard Fischer
Die fühlende Zelle
Die Mechanobiologie untersucht all jene Kräfte, die auf menschliche Körperzellen einwirken, und versucht Wege zu finden, um Regenerationsmöglichkeiten für belastete Körperstrukturen über die Widerstandsfähigkeit von Körperzellen zu eruieren. Giancarlo Forte untersucht beispielsweise am St. Anne’s University Hospital in Brünn jene Kräfte, die auf die Herzmuskelzellen einwirken. Er macht sich dabei das „Gefühl“ der Zelle zunutze. „Körperzellen ‚fühlen‘ die Bewegungen und Kräfte, die auf sie einwirken und die normale Funktion des Herzmuskels gewährleisten“, berichtet Forte. „Bei Herzerkrankungen verlieren manche Zellen dieses ‚Gefühl‘, und damit verschlechtert sich die Herzfunktion, wie das etwa bei einer Herzinsuffizienz der Fall ist.“ Fortes Forschungsarbeiten sollen dazu beitragen, beschädigte Zellen im Herzen zu reparieren und ihre Funktion wiederherzustellen.
Auch in der Krebsforschung spielt die Mechanobiologie eine zunehmend wichtigere Rolle, weil Zellen sich, je nach den Kräften, denen sie ausgesetzt sind, verändern. Das gilt natürlich auch für Krebszellen. Dieser mechanobiologische Mechanismus ist ebenfalls Teil der Forschungstätigkeit des Teams um Giancarlo Forte.
Die vielseitige Stammzelle
Michael Bernhard Fischer und sein Team vom Zentrum für Biomedizinische Forschung an der Donau-Universität Krems widmen sich in ihrer Forschungsarbeit den Stammzellen im menschlichen Organismus unter anderem aus mechanobiologischer Betrachtung. „Wir untersuchen Stammzellen des Bindegewebes“, berichtet Fischer. Stammzellen sind deshalb ein ergiebiges Untersuchungsmaterial, weil sie ein hohes regeneratives Potenzial aufweisen. „Mit unserer Forschung wollen wir Konditionen schaffen, um diese Zellen außerhalb des Körpers zu vermehren, ohne wesentlich ihren Charakter zu verändern“, erzählt Fischer. „Anschließend sollen die in ihrer Stammzellfunktion erhaltenen Zellen wieder in den Organismus eingebracht werden, um regenerative Prozesse anzustoßen.“ Dies könnte etwa bei verletzten Sehnen und Bändern funktionieren, die derzeit noch – auch wenn sie lege artis behandelt werden – nur unter Bildung von Narbengewebe verheilen und damit häufig die Funktion der betroffenen Struktur einschränken. Ähnliches gilt auch für Herzgewebe nach einem Herzinfarkt.
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„Stoßwellen können bei verletzten Nerven zu einer schnelleren Regeneration führen.“
Heinz Redl
Zellen und Stoßwellen
Welche Auswirkungen Stoßwellen auf Körperzellen haben, untersucht Prof. Dr. Heinz Redl, früherer Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Experimentelle und Klinische Traumatologie, mit seinem Team. „Wir hatten festgestellt, dass die Stoßwellentherapie, die bei schlecht heilenden Knochen angewendet wird, darüber liegende Wunden zu einer schnelleren Heilung anregt“, sagt Redl.
Ähnliches wird nun seit einiger Zeit für die Regeneration von Nerven untersucht. „Werden bei verletzten Nerven Stoßwellen auf die betroffene Region gerichtet, so führt dies, das konnten wir in mehreren experimentellen Untersuchungen zeigen, zu einer wesentlich schnelleren Regeneration.“ Demnächst soll eine Studie zu frisch rückenmarksverletzten Patientinnen und Patienten starten, die diese Effekte der Stoßwellentherapie genauer untersuchen wird. Neben den unterschiedlichen Möglichkeiten der Stoßwellentherapie auf Grundlagen, die sich die Mechanobiologie zunutze macht, werden in der Forschungsgruppe Herzerkrankungen ebenso wie die Regeneration von Knochen und anderen Gewebeschäden sowie mögliche Anwendungsgebiete im Rahmen der Nervenregeneration und der Onkologie erforscht.
Ressourcen bündeln
Die Mechanobiologie ist immer noch ein relativ neues Forschungsgebiet mit einer Vielzahl von möglichen Untersuchungsgebieten. „Um unsere Energien zu bündeln“, so Redl, „haben wir deshalb vor einiger Zeit eine ‚Plattform MechanoBiologie‘ im Rahmen eines Interreg-Projektes ins Leben gerufen, das von der Donau-Universität Krems koordiniert wird. Dieses Kompetenzzentrum MechanoBiologie schließt Forschungsgruppen in Österreich und Tschechien ein, die ein breites Spektrum von mechanobiologischen Grundlagen und möglichen Therapien untersuchen. Ziel des Kompetenzzentrums ist es, interdisziplinäre Ansätze aus Medizin und Technik zu kombinieren und damit den Einfluss mechanischer Stimuli auf die Regeneration von menschlichem Gewebe zu untersuchen.
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„Körperzellen ‚fühlen‘ die Bewegungen und Kräfte, die auf sie einwirken.“
Giancarlo Forte
Zusammen mit dem Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie werden Forschungsprojekte durchgeführt, um Schlüsselfaktoren der Mechanotransduktion zu identifizieren und neue Methoden zur Analyse des Regenerationsprozesses über bildgebende Verfahren zu entwickeln. Weitere Partner sind die Technische Universität Wien, die tschechische Akademie der Wissenschaften, das St. Anne’s University Hospital in Brünn und die Südböhmische Universität in Ceské Budêjovice.
MICHAEL BERNHARD FISCHER
Univ.-Prof. Dr. Michael Bernhard Fischer ist stellvertretender Leiter des Departments für Biomedizinische Forschung der Donau-Universität Krems. Zu den Forschungsschwerpunkten des Immunologen und Transfusionsmediziners gehört die Mechanobiologie ebenso wie Untersuchungen zu Organ- und Gewebeersatz.
HEINZ REDL
Dr. Heinz Redl leitete bis Mitte 2019 das Ludwig Boltzmann Institut für Experimentelle und Klinische Traumatologie in Wien. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Verbesserung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten für Unfallpatienten. 2006 rief er den österreichischen Cluster für Geweberegeneration ins Leben.
GIANCARLO FORTE
Giancarlo Forte, PhD ist Group Leader des Center for Translational Medicine am International Clinical Research Center des St. Anne’s University Hospital in Brno/Tschechien. Der Molekular- und Zellbiologe erforscht die mechanobiologischen Zusammenhänge in Bezug auf Herz- und Tumorerkrankungen.
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