An der Universität für Weiterbildung Krems sind die evidenzbasierten Informationszentren EbM für Ärzt_innen und EbN für Pflegeberufe angesiedelt. Tausende Studien werden hier durchforstet, um spezifische Fragen aus der Praxis der NÖ Krankenhäuser zu recherchieren. Ist das bewährte Modell auch Vorbild für den niedergelassenen Sektor?

Von Alois Pumhösel

Die COVID-Epidemie lässt vergessen, dass es auch noch andere Virenerkrankungen gibt. Humane Papillomaviren (HPV) zum Beispiel können zu unkontrolliertem Zellwachstum, Genitalwarzen oder Gebärmutterhalskrebs führen. Exponiertes Fachpersonal sollte deshalb geimpft werden. Betrifft das aber nun auch das chirurgische Personal, das HPV-Patient_innen operiert? Ist die chirurgische Maske bereits ein wirksamer Schutz gegen eine Übertragung? Oder wäre es besser, eine FFP2-Maske als Schutz gegen HPV zu verwenden?

Diese sehr spezifischen Fragen sind auch von den beteiligten Ärzt_innen nicht ohne Weiteres zu beantworten. Eine bestmögliche Entscheidungsfindung, die Veränderungen gewohnter Praktiken oder Reglements zur Folge hat, erfordert eine eingehende Literaturrecherche. Dafür fehlen in den Krankenhäusern aber oft die personellen Ressourcen. In Niederösterreich wurde deshalb das „Evidenzbasierte Medizin (EbM) Ärzteinformationszentrum“ zum Ansprechpartner, das auch von der Pharmaindustrie unabhängige Ergebnisse produziert. Die seit 2008 bestehende Servicestelle ist eine Kooperation des Departments für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Universität für Weiterbildung Krems und des globalen Wissenschaftsnetzwerks für Gesundheitswissen, Cochrane. Finanziert wird die Einrichtung von der NÖ Landesgesundheitsagentur.

Zentrumsleiterin Anna Glechner ist als praktische Ärztin selbst fest in der medizinischen Praxis verwurzelt. Mit ihrem derzeit sechsköpfigen Team arbeitet sie jährlich etwa 25 Anfragen ab, die von ärztlichen Führungskräften oder – wie im Fall der HPV-Anfrage – von der Landesgesundheitsagentur selbst kommen. „Im Spitalsalltag gibt es kaum Zeit für Recherche. Zudem sind viele Ärzt_innen nicht darin geübt, Statistiken schnell zu beurteilen“, sagt die Ärztin, die das Zentrum seit 2016 leitet.

Manchmal müssen für eine Anfrage an die tausend Studien durchforstet werden, manchmal sei dagegen kaum Literatur zu finden. Besonders wichtig ist es Glechner in jedem Fall, die Ergebnisse leicht verständlich aufzubereiten.

Anna Glechner

„Im Spitalsalltag gibt es kaum Zeit für Recherche. Zudem sind viele Ärzt_innen nicht darin geübt, Statistiken schnell zu beurteilen.“

Anna Glechner

Die Untersuchung zum besten Maskenschutz bei HPV-Operationen war eindeutig: Sie ergab, dass in Bezug auf die Übertragung des Virus die chirurgischen Masken keine relevante Wirkung haben – hier ist also ein Risiko vorhanden. Dagegen gab es in der Literatur keinen belegten Fall einer Ansteckung, wenn die zu FFP2 äquivalenten N95-Masken getragen wurden. Zuletzt widmeten sich Glechner und Team unter anderem den Fragen, ob bei einem Kreuzbandriss eine konservative Behandlung oder eine Operation sinnvoller ist oder ob bei bestimmten Wirbelsäulenoperationen entgegen gängiger Praxis Aspirin verabreicht werden soll, um Gefäßverschlüssen vorzubeugen.

Bedarf an evidenzbasiertem Wissen gibt es nicht nur in der Ärzt_innenschaft, sondern auch im Pflegebereich. Hier entstand in den vergangenen Jahrzehnten international ein großes Forschungsfeld, dessen Erkenntnisse nicht immer schnell genug in die Praxis vordringen. Um dem Bedarf zu entsprechen, wurde 2019 das Evidenzbasierte Informationszentrum für Pflegende (Evidence-based Nursing EbN) ins Leben gerufen. Die Kooperation der Universität für Weiterbildung Krems und von Cochrane Österreich wird vom NÖ Gesundheits- und Sozialfonds (NÖGUS) finanziert. Martin Fangmeyer, der das Zentrum leitet, arbeitet mit mindestens drei Mitarbeiter_innen jährlich rund 15 Anfragen ab, die aus der klinischen Gesundheits- und Krankenpflege in Niederösterreich kommen.

Niederschwellige Aufbereitung

„Wie alle Gesundheitsberufe hat auch das Pflegepersonal den gesetzlichen Auftrag, evidenzbasiert zu arbeiten“, sagt der Pflegeexperte. „Für die Praktiker_innen ist es aber nicht immer möglich, diesem Auftrag nachzukommen. Es fehlt an Zeit, Erfahrung und Know-how für die Recherche. Unsere Aufgabe ist es, die Praktiker_innen in diesem Bereich zu entlasten.“ Eine niederschwellige Aufbereitung der Erkenntnisse steht auch hier im Fokus: Unter anderem werden ausgewählte Recherchen journalistisch aufbereitet und mit Praxis-Kommentaren versehen in Fachzeitschriften veröffentlicht.

Die Anfragen hier betreffen etwa die Behandlung chronischer Wunden, Maßnahmen gegen eine COVID-Übertragung oder den Umgang mit Verwirrtheitszuständen von Patient_innen in Kliniken. Großen Einfluss hatte etwa eine Erkenntnis zur Frage, ob Sauerstoff, der über Masken verabreicht wird, befeuchtet werden soll, um einer Austrocknung von Schleimhäuten vorzubeugen. Leitlinien dazu sind international betrachtet oft widersprüchlich. „Bei gering dosiertem Sauerstoff mit weniger als fünf Liter Durchfluss pro Minute zeigten die Studien, dass die Befeuchtung keinen Unterschied macht“, berichtet Fangmeyer. „Für die Kliniken bedeutet diese Erkenntnis unter anderem auch ein großes Sparpotenzial.“

Die Dienste beider Informationszentren sind lediglich dem Personal in den Kliniken Niederösterreichs vorbehalten. Anfragen aus anderen Bundesländern, von nichtklinischen Pflegediensten, privaten Heilanstalten oder niedergelassenen Ärzt_innen können nicht berücksichtig werden. Vorhanden sind diese Anfragen jedenfalls, berichten die beiden Leiter_innen. „Es gibt aber erste Gespräche für die Ausweitung des Pflegeinformationsdienstes – allerdings in einem noch überschaubaren Umfang“, erklärt Fangmeyer. „Der Nutzen unseres Services wird aber jedenfalls erkannt.“

Vorbild für niedergelassene Ärzt_innen?

Naheliegend wäre, ein Service dieser Art auch für den niedergelassenen Sektor anzubieten. Erika Zelko, Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin der Johannes Kepler Universität (JKU) Linz, sieht steigenden Druck durch den Ärzt_innenmangel, der es schwerer macht, up to date zu bleiben. Grundsätzlich stellt sie den niedergelassenen Ärzt_innen aber ein gutes Zeugnis aus: „Der überwiegende Teil studiert die Literatur des eigenen Fachbereichs und kennt die Guidelines, die den Behandlungen zugrunde liegen, sehr gut“, betont die JKU-Professorin. Auch die verpflichtenden regelmäßigen Fortbildungen hält sie für gut strukturiert und zielführend. Große Hoffnungen für eine weitere Verbesserung setzt sie auf die Erneuerung der Ausbildung in ihrem Bereich. „Ähnlich wie bei anderen Disziplinen wird künftig auch die Allgemeinmedizin als fachärztliche Ausbildung neu strukturiert“, erklärt Zelko.

Zudem könnten sich die kommenden Ärztezentren, in denen die Mediziner_innen in einem engeren fachlichen Austausch stehen, positiv auf die Beschäftigung mit evidenzbasiertem Wissen auswirken. Zelko warnt hier aber vor zu großen Erwartungen: „Letzten Endes kommt es auf die Person an. Wenn ein Arzt oder eine Ärztin nicht an neuer Forschungsliteratur interessiert ist, ändert auch das Ärztezentrum wenig daran.“ Für sie gehören vor allem eine Neuverteilung der Kompetenzen in den Gesundheitsberufen – also etwa zwischen Pflege und Ärzteschaft – und eine bessere Kommunikation zwischen Kliniken und dem niedergelassenen Sektor zu den Bereichen, die einer Reform bedürfen. Doch auch ein Service für Evidenzbasierte Medizin würde Zelko gutheißen. „Analytische und praktisch orientierte Zusammenfassungen, die nicht nur für Wissenschaftler_innen gut lesbar sind, wären ein Gewinn“, betont sie. „Dabei wäre allerdings wichtig, dass die Daten ebenfalls aus dem niedergelassenen Bereich kommen. Oft sind Ergebnisse aus dem Spital und der Primärversorgung nicht eins zu eins vergleichbar.“

Erika Zelko

„Ähnlich wie bei anderen Disziplinen wird künftig auch die Allgemeinmedizin als fachärztliche Ausbildung neu strukturiert.“

Erika Zelko

Jede Ausweitung des Angebots bei den evidenzbasierten Informationszentren Krems müsste jedenfalls mit einigen organisatorischen Veränderungen einhergehen. Ärztezentrumsleiterin Glechner kann sich etwa vorstellen, die Bezirksärzt_innen in NÖ miteinzubeziehen, um Anfragen zu sammeln. Und natürlich bräuchte es entsprechende personelle Ressourcen, um mehr Fälle abzuarbeiten. Fangmeyer: „Immerhin wenden wir pro Beantwortung einer Frage im Pflegeinformationszentrum 100 bis 150 Arbeitsstunden auf.“


MARTIN FANGMEYER
Martin Fangmeyer, BScN MScN ist Leiter des Informationszentrums für Pflegende am Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Universität für Weiterbildung Krems. Er studierte Pflegewissenschaften und war vor seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter Assistent der Pflegedirektorin am Krankenhaus Hietzing.

ANNA GLECHNER
Dr.in Anna Glechner ist Leiterin des Ärzteinformationszentrums am Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation der Universität für Weiterbildung Krems. Sie ist ausgebildete Ärztin für Allgemeinmedizin und arbeitete u. a. als medizinische Gutachterin für das Gesundheitsministerium

ERIKA ZELKO
Prof.in Dr.in Erika Zelko, PhD ist Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin der Johannes Kepler Universität (JKU) Linz. Sie absolvierte 2000 die Facharztprüfung Allgemeinmedizin. Zelko forscht u. a. zu allgemeinmedizinische Themen, Interprofessionalität und Palliativmedizin.

LINK

Artikel dieser Ausgabe

Zum Anfang der Seite