Nicht nur muss Evidenz in die Arztpraxen, Krankenhäuser und Kliniken hinein, sondern widerlegtes Wissen auch wieder hinaus: Solche De-Implementierung ist vermutlich das schwierigste Kunststück. Ein Ausflug in die Implementierungsforschung.

Von Johanna Müller

Um 1979 herum erhärtete sich der Verdacht, dass das Bakterium Helicobacter pylori für Gastritis und in der Folge auch für Magengeschwüre verantwortlich sein könnte. Denn das Stäbchenbakterium, findet sich auch im sauren Milieu des Magens gut zurecht. 1982 gelang es, den Beweis zu erbringen. Seither weiß man: Eine Gastritis ist eine Infektionskrankheit, keine Folge von Übersäuerung oder von Stress. An der medizinischen Praxis änderte die Erkenntnis zunächst nichts. Die Therapie von Gastritis blieb hartnäckig bei den Magensäurehemmern, Geschwüre wurden operativ entfernt. „Hätte ich als Medizinstudent Ende der 1980er Jahre einem Chirurgen erzählt, ein Magengeschwür sei eine Infektionskrankheit, wäre ich wohl sofort aus dem Hörsaal geflogen“, sagt Horst Christian Vollmar, Professor für Medizin an der Ruhr-Universität Bochum. „Das zeigt uns: Selbst, wenn eine Evidenz da ist, heißt dies nicht, dass sich auch das Denken oder das Verhalten verändert.“ Vollmar ist ein Pionier der Implementierungsforschung und war bereits Anfang der 2000er Jahre an der Entwicklung von evidenzbasierten Leitlinien für das Internet beteiligt; dass heute in jedem Krankenhaus sogenannte Patientenleitfäden, die die kommunikative Kluft zwischen Patient_in und Arzt bzw. Ärztin überbrücken helfen, üblich sind, ist auch auf sein Engagement zurückzuführen. „Es gibt bei der Implementierung von neuer Evidenz kein Rezept mit Erfolgsgarantie“, sagt Vollmar.

25 Jahre bis zum Ziel

Die Implementierungsforschung geht davon aus, dass es rund 10 bis 25 Jahre dauert, bis eine Erkenntnis aus dem Labor den Weg ans Krankenbett oder, allgemeiner formuliert, in die medizinische Praxis findet. Und in der Regel dauert es ebenso lang, bis eine unwirksame Praxis wieder deinstalliert ist. Bei der Gastritis etwa dauerte es noch bis Mitte der 1990er Jahre, bis die Triple-Therapie, eine Antibiotika-Therapie, etabliert war. Und bis heute hält sich hartnäckig die Vorstellung, ein Magengeschwür habe vor allem mit einer Übersäuerung des Magens oder mit Stress zu tun.

Warum setzen sich neue Erkenntnisse nicht schneller durch und ersetzen alte, widerlegte Praktiken? Warum reicht das Wissen um die Evidenz nicht aus, um die Praxis zu verändern? „Was für die Evidenz selbst gilt, gilt auch für Maßnahmen, die die Evidenz in die Praxis bringen sollen, also für die Implementierung selbst“, sagt Marie-Therese Schultes, Psychologin und Implementierungsforscherin an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. „Es gibt eine Reihe von Maßnahmen, von denen man weiß, sie erzielen nicht die gewünschte Wirkung, aber man wendet sie trotzdem noch großflächig an."

Der Kontext zählt

Die Implementierungsforschung hat sich seit den 2000er Jahren zu einem eigenständigen Forschungszweig entwickelt. Interdisziplinär im Ansatz, versucht sie, dem Erfolg und Misserfolg von Implementierungsversuchen evidenten Wissens auf den Grund zu gehen. Neben der Psychologie fließen auch Zugänge, Methoden und Erkenntnisse aus den Gesundheitswissenschaften, Politikwissenschaften, der Betriebswirtschaft und Soziologie ein. „Es geht darum, gesamthaft zu verstehen, was die Umsetzung von Maßnahmen fördert und was nicht“, sagt Christina Kien vom Zentrum für Evidenzbasierte Medizin der Universität für Weiterbildung Krems. Nach dem Wissen der Implementierungsforschung hat eine verzögerte Umsetzung zwar starke psychologische Treiber, doch der oder die Einzelne ist nicht allein entscheidend. „Es ist sehr wichtig, dass das Verhalten von Personen nie isoliert betrachtet wird. Der Kontext, die Organisationsstrukturen, die Unternehmenskultur – alles entscheidet mit“, so Schultes.

Schultes forscht unter anderem zur Implementierung von Maßnahmen zur Prävention von Infektionen auf neonatologischen Intensivstationen: „Dort spielen auch die Angehörigen eine ganz wichtige Rolle. Sie halten sich viel auf der Station auf und müssen Hygienemaßnahmen genauso einhalten wie das Personal. Ein Erfolgsfaktor, damit sie das tun, ist, sie auf Augenhöhe mit einzubeziehen. Das wiederum setzt voraus, dass das Pflegepersonal auch genug Zeit hat, mit den Angehörigen zu sprechen.“

Christina Kien

„Aus Sorge, falsch zu diagnostizieren, verschreiben viele Ärzt_innen Therapien, von denen sie nicht überzeugt sind.“

Christina Kien

Bei dem Versuch, die klinische Praxis evidenzbasiert zu verbessern, geht es der Implementierungsforschung nicht allein um die Kosten, die unwirksame Therapien verursachen, sondern darum, jene Therapien, die wirken, „in die Breite“ zu bringen, wie Kien es formuliert. „Wir wollen erreichen, dass evidenzbasierte Maßnahmen nicht nur in einem ausgewählten Setting funktionieren, sondern in der Praxis, damit eine wirklich große Zielgruppe auch davon profitiert. Der systematische Zugang hilft, zu erkennen, welche Faktoren entscheidend sein könnten.“

Den Leitlinien zum Trotz

Es ist manchmal ein gar nicht so subtiler sozialer Druck, der einer überholten Evidenz ein langes Leben in der medizinischen Praxis beschert. „Studien aus den USA zeigen, dass viele Ärzt_innen aus Sorge, falsch zu diagnostizieren, Therapien verschreiben, von denen sie nicht überzeugt sind. Sie ergreifen lieber irgendeine Maßnahme, als gar nichts zu tun“, sagt Kien.

Speziell das Abwarten ist eine Strategie, die Ärzt_innen wie Patient_innen schwerfällt. Vollmar nennt das Beispiel Rückenschmerzen: Sofern keine Warnhinweise auf eine schwere Erkrankung hindeuten, etwa neurologische Ausfälle, raten weltweite Leitlinien Ärzt_innen von einer zusätzlichen bildgebenden Diagnostik ab. Der Grund: Computertomografie und Röntgen zeigen Veränderungen an der Wirbelsäule, die vielleicht immer schon bestanden haben und nicht die aktuelle Schmerzursache sind. Statt die Diagnose besser zu machen, legt die Bildgebung so unwillentlich den Grundstein für eine falsche Therapie. „Trotzdem werden weltweit ständig Patient_innen zur Computertomografie und zum Röntgen geschickt“, sagt Vollmar. Seine Vermutung: „Die Patient_innen haben das Gefühl, sie bekommen erst dann eine sichere Diagnose, und die Ärzt_innen trauen sich nicht zu sagen: ‚Wir haben eine gute Anamnese gemacht, ich kann keine Auffälligkeiten finden. Wir warten jetzt erst mal ab.‘“

Mit dem Wissen Schritt halten

Doch Veränderung ist möglich, andernfalls gäbe es die moderne Medizin nicht. „Inzwischen ist der Gebrauch von Antibiotika bei Atemwegsinfekten nicht mehr so üblich wie früher und auch die Schmerzspritze bei Rückenschmerzen ist nicht mehr so häufig, die meisten Ärzt_innen raten ihren Patient_innen bei Rückenschmerz heute zu Bewegung“, zählt Vollmar auf. Ein wichtiger Impuls für die Bewegungsempfehlung war ein Cochrane-Report aus den 1990er Jahren, der belegen konnte, dass Patient_innen, die aktiv blieben, sich schneller erholten. „Es ist eigentlich banal, aber eine Leitlinien-Empfehlung lässt sich umso leichter implementieren, je eher sie sich mit den Überzeugungen der Ärztinnen und Ärzte deckt“, sagt Vollmar. Da nun der Grundstein für bestimmte Überzeugungen bereits im Studium gelegt werde und sich später nicht mehr so leicht revidieren lässt, wird verständlich, warum auch widerlegtes Wissen doch ein recht langes Leben hat.

Die Pandemie hat allerdings einen Eindruck vermittelt unter welchen Bedingungen Abweichungen von vertrauten Pfaden gelingen können. Die Konfrontation mit einem bis dahin unbekannten Virus hat in sehr kurzer Zeit zu einer ungeheuren Wissensproduktion geführt und zugleich auch die Auseinandersetzung mit – sich schnell ändernder – Evidenz befördert. Schultes: „Das hat gezeigt, dass zum Beispiel gute Wissenschaftskommunikation und Transparenz ganz entscheidend sind für die Bewertung von Evidenz und die Umsetzung von Maßnahmen. Wir brauchen allerdings in der Implementierungsforschung generell mehr begleitende Studien, wenn neue Maßnahmen eingeführt werden.“

Für die Implementierungsforschung ist es durch die Digitalisierung nicht leichter geworden. Nicht erst durch die COVID-19-Pandemie hat sich die Wissensproduktion in der medizinischen Forschung beschleunigt: Einer Schätzung zufolge verdoppelt sich das medizinische Wissen alle 73 Tage. Diese Schätzung ist von 2011 für 2020. Die Chancen stehen gut, dass sie bereits veraltet ist.


CHRISTINA KIEN
Mag.a Dr.in Christina Kien ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Evidenzbasierte Medizin und Evaluation und dort für die Überprüfung von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung zuständig. Seit 2016 ist sie Stellvertretende Leiterin des österreichischen Standorts von Cochrane Public Health.

MARIE-THERESE SCHULTES
Mag.a Dr.in Marie-Therese Schultes ist Psychologin und Implementierungsforscherin am Institut für Implementation Science in Health Care an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.

HORST CHRISTIAN VOLLMAR
Prof. Dr. med. Horst Christian Vollmar, MPH ist Professor für Allgemeinmedizin an der Ruhr-Universität Bochum und leitet die Abteilung für Allgemeinmedizin. Er ist Mitglied der Ständigen Leitlinienkommission SLK der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM).


WISSENSWERTES

10 bis 25 Jahre dauert es, bis evidenzbasiertes Wissen Eingang vom Labor in die medizinische Praxis findet. Genauso lang dauert es, bis widerlegtes Wissen aus der Anwendung wieder verschwindet.

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