In der NS-Zeit befanden sich im niederösterreichischen Zentralraum mindestens 60 Lager, in denen von der „Volksgemeinschaft“ Ausgegrenzte und Zwangsarbeiter:innen aus ganz Europa untergebracht waren. Heute sind die meisten ehemaligen NS-Lager aus dem kollektiven Gedächtnis und der lokalen Erinnerungskultur verschwunden. Viele Lagerstandorte sind nicht (oder kaum) mehr erkennbar: Sie wurden abgetragen, überbaut oder umgestaltet.
Das Forschungsprojekt, geleitet vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs in Kooperation mit dem Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität für Weiterbildung Krems, hat daher drei Ziele: Erstens soll anhand des Konstrukts der „Volksgemeinschaft“ im Nationalsozialismus eine kritische Auseinandersetzung mit sozialer Kohäsion und deren Brüchen erfolgen. Daher soll zweitens die weitgehend vergessene Existenz zahlreicher Lager im niederösterreichischen Zentralraum ins Bewusstsein geholt, erforscht und der Forschungsstand unter anderem durch Mitwirkung von Citizen Scientists verbessert werden. Drittens hat das Projekt das Ziel, materielle Überreste, bildliche und schriftliche Quellen sowie persönliche, auch über Generationen weitergegebene Erinnerungen und Erzählungen nachhaltig zu sichern. Diese historischen Zeugnisse sollen über Formate der Vermittlung und Gedenkkultur nicht nur in das kollektive Gedächtnis des Landes überführt, sondern auch in die transnationale Erinnerungslandschaft, die sich aus den heutigen Wohnorten ehemaliger Insassen und deren Nachkommen in aller Welt ergibt, eingebettet werden. Die möglicherweise zu Tage kommenden baulichen und materiellen Reste, Bodenfunde, Objekte und dergleichen werden dem zuständigen Archäologen bzw. dem Bundesdenkmalamt und/oder den Landessammlungen zur weiteren Sicherung gemeldet und auf diese Weise wieder Grundlagen und Synergien für weitere Forschungen hergestellt.
Martha Keil
Im Kremser Projektteil liegt neben historischer Grundlagenarbeit ein Fokus auf visueller „Citizen Science“. Citizen Scientists begeben sich auf die Suche nach sichtbaren Spuren von Lagern und Lagerorten, halten den gegenwärtigen Zustand fest oder versuchen im Falle von unklaren Standorten, eine Standortbestimmung anhand von historischen Quellen. Zudem werden visuelle Dokumente, sei es im privaten Bereich oder Gemeindearchiven und Topotheken, gesucht.
Des Weiteren ist gemeinsam mit der Fotografin Karin Böhm derzeit ein Buchprojekt in Vorbereitung, das historische Quellenrecherche mit einer künstlerisch-fotografischen Vor-Ort-Auseinandersetzung verbindet.
Galerie
Infobox
Projektdauer: 2022-2024
Projektleitung: PD Dr. Martha Keil, Institut für jüdische Geschichte Österreichs
Projektbearbeitung: Institut für jüdische Geschichte Österreichs: Dr. Christoph Lind, Dr. Philipp Mettauer, BA, Mag. Janina Böck-Koroschitz
Universität für Weiterbildung Krems (Bearbeitung Bezirk Krems): Ass.-Prof. Dr. Edith Blaschitz, Karin Böhm, MA
Ein Kooperationsprojekt des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs und des Departments für Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität für Weiterbildung Krems.
Kooperationspartner für Citizen Science: „Treffpunkt Bibliothek“ der NÖ Gemeindebibliotheken
Gefördert von: NÖ Landesregierung, Abteilung Wissenschaft und Forschung
Literatur
Böhm, Karin / Blaschitz, Edith: Nichts zu sehen? Stalag XVII B – eine topografische Vermessung (in Vorbereitung)
Siehe auch Tagung:
Unsichtbare Lager in Niederösterreich: Beforschen, dokumentieren und zugänglich machen (2019), veranstaltet von: Forschungsnetzwerk Interdisziplinäre Regionalstudien (first), Stabsbereich Digital Memory Studies (Universität für Weiterbildung Krems), Zeithistorisches Zentrum Melk in Kooperation mit dem Haus der Geschichte im Museum Niederösterreich und der NÖ Landesbibliothek.