Der Granitsteinbruch, der sich im Gebiet der beiden Dörfer Groß-Reipersdorf und Roggendorf bei Pulkau befindet, weist sehr unterschiedliche historische Schichten auf. Er war ein früher Industriestandort, der Arbeitsplätze in eine strukturschwache Region brachte. Anfang der 1930er Jahre waren 230 Steinarbeiter im „Granitwerk Roggendorf“ beschäftigt, die zum Teil aus der Umgebung stammten oder sich mit ihren Familien dort ansiedelten.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich flüchtete der Besitzer des Granitwerks – Leopold Popper-Podhragy, der in der NS-Diktion als „Halbjude“ galt – ins englische Exil. 1941 wurde der Betrieb an einen lokalen Betreiber verpachtet, der sowjetrussische Kriegsgefangene, polnische und ukrainische „Ostarbeiter“ zur Zwangsarbeit anforderte. Ab November 1944 wurden zudem jüdische Verschleppte aus Ungarn zur Zwangsarbeit eingesetzt.
Nach dem Krieg wurde die Arbeit am Granitwerk zunächst wieder aufgenommen, wurde jedoch nach einem Entscheid der Rückstellungskommission 1950 die Verpachtung und Weiterverpachtung durch den lokalen Betreiber aufgehoben, da sie ohne Zustimmung Popper-Podhragys erfolgt war. Versuche Popper-Podhragys den Betrieb weiterzuführen, scheiterten.
Verursacht durch Versprengungen war mittlerweile am Gelände ein Teich entstanden, der von der lokalen Bevölkerung zum Baden genutzt wurde. Die Erinnerungen an Badevergnügen in freier Natur sollten zur dominanten Erinnerungsschicht an diesen Ort werden. Die Geschichte der NS-Zwangsarbeit wurde nicht in das lokale Gedächtnis aufgenommen.
Ab Beginn der 2000er Jahre wurde ein Gebäude adaptiert, mit Bühne ausgestattet und für Kulturveranstaltungen genützt. Heute findet einmal jährlich ein „Kreativfest“ am Steinbruchgelände statt. Mit Ausnahme von einigen Mauern der Steingebäude und einem Kleintrafowerk sind heute am weitläufigen ehemaligen Steinbruchgelände kaum materielle historische Spuren zu finden.
Wie also umgehen mit einem so vielschichtigen Ort und dessen erinnerten und nichterinnerten historischen Schichten? Wie können die unterschiedlichen Schichten sichtbar und lesbar gemacht werden? Wie kann die lokale Bevölkerung, aber auch Nachkommen von „Zwangsarbeitern“ einbezogen und wie diese unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften verbunden werden?
Am Beispiel des Granitsteinbruchs in Roggendorf bei Pulkau erprobte das Projekt Formate und Praxen des Erinnerns, Lesbarmachens und Vergegenwärtigens von Orten mit nichterinnerter, „belasteter“ NS-Geschichte. Neben historischer Forschung wurden künstlerische Formen der Erschließung, Citizen Science-Formate und digitale Technologien eingesetzt.
Edith Blaschitz
Umsetzung
Transdisziplinäre Zusammenarbeit von Künstler:innen, Historiker:innen, Digital/Creative Media Technologies-Experten mit lokalen Projektpartnern und Geschichtsinteressierten sowie Nachkommen der betroffenen „Zwangsarbeiter“.
- Grundlagenforschung zur gesamten historischen „Biografie“ des Ortes
- Abhaltung einer „Geschichtswerkstatt“ und Durchführung von Erinnerungsarbeit mit Schüler:innen; Einbeziehung von Nachkommen ehemaliger „Zwangsarbeiter“
- Umsetzung künstlerischer Projekte
- Entwicklung eines „Leitfadens“ zur Umsetzung digitalgestützter Projekte der Auseinandersetzung mit „vergessenen“ NS-Orten.
Ergebnisse
Ein hybrides Konzept, das den vorhandenen physischen Raum mit künstlerischen digitalen Erweiterungen und der rekonstruierten Geschichte des Ortes lesbar macht (Buch in Vorbereitung):
- Dokumentation der Geschichte des Ortes: Historische-Chronologie-Steinbruch-Roggendorf-Grossreipersdorf_Langversion.pdf
- Abhaltung einer „Geschichtswerkstatt“ mit Beiträgen von lokalen Citizen Scientists
- Narrative Interviews mit Zeitzeug:innen: Sicherung der letzten Zeitzeug:innenschaft (Befragte im Alter zwischen 86-96)
- On-Site „DER STEINBRUCH, DAS LAGER UND DIE ORTSCHAFTEN“ (Martin Krenn), GPS Web-Applikation zur Erkundung der Geschichte vor Ort, siehe granitsteinbruch.at
- Digitaler Erinnerungsraum (Website/Installation: Rosa Andraschek), siehe memoryspaces.at
- Leitfaden und Empfehlungen zur Umsetzung digitalgestützter Projekte der Auseinandersetzung mit „vergessenen“ NS-Orten (Umgang mit „offenen“ Daten; Umsetzung einer „Geschichtswerkstatt“ und der Erinnerungsarbeit mit Schüler:innen; Liste historischer Datenbanken zu NS-Geschichte; empfohlene Medientechnik und Medienplattform).
Infobox
Projektdauer: 11/2021–04/2023
Inhaltliches Konzept: Edith Blaschitz (Universität für Weiterbildung Krems), Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften), unter Mitarbeit von Georg Vogt (FH St. Pölten).
Künstlerische Umsetzung: Rosa Andraschek, Martin Krenn.
Historische Bearbeitung: Edith Blaschitz, Heidemarie Uhl.
Durchführung Geschichtswerkstatt: Wolfgang Gasser (Institut für jüdische Geschichte Österreichs).
Medien- und Technologieentwicklung, implementierung, -Betreuung und Dokumentation: Georg Vogt, Clemens Baumann, Thomas Moser, Alexander Schlager, unter Mitwirkung von Studierenden (FH St. Pölten).
Projektmanagement, Einreichung, Empfehlung „offene“ Daten: Sylvia Petrovic-Maier (OpenGLAM). Projektadministration: Daniela Wagner (Universität für Weiterbildung Krems).
Gefördert von: Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport
Landesregierung Niederösterreich, Abteilung Kunst und Kultur
(Call Kunst und Kultur im digitalen Raum 2021).
Die Projektentwicklung wurde mit Hilfe einer Anschubfinanzierung von first – Forschungsnetzwerk interdisziplinäre Regionalstudien gefördert.
Projektpartner
- Stadtgemeinde Pulkau
- Kulturverein Bildung hat Wert, Pulkau
- Krahuletz Museum, Eggenburg
- Museum Horn
- Museum Retz
Kooperationspartner
- Paul Mahringer, Bundesdenkmalamt, Erfassungsprojekt der NS-Opferorte
- Gregor Kremser, erinnern.at
- Claudia Theune, Universität Wien, Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie
- Gerald Lamprecht, Universität Graz, Centrum für jüdische Studien, Projekt Digitale Erinnerungslandschaft. Verfolgung und Widerstand im Nationalsozialismus I Dokumentieren und Vermitteln (DERLA)
Literatur
- Blaschitz, Edith: Raum, Vergangenheits(re-)konstruktion, digitale Technologien und Authentizitätserwartungen. Raumbezogene digitale Praktiken und Anwendungen in der historischen Vermittlung, Bildungs- und Erinnerungsarbeit. In: Victoria Kumar / Gerald Lamprecht / Lukas Nievoll / Grit Oelschlegel / Sebastian Stoff (Hrsg.): Erinnerungskultur und Holocaust Education im digitalen Wandel. Georeferenzierte Dokumentations-, Erinnerungs- und Vermittlungsprojekte. Bielefeld: transcript (in Druck).
- Blaschitz, Edith / Uhl, Heidemarie / Vogt, Georg / Andraschek, Rosa / Krenn Martin / Gasser Wolfgang: Rendering Forgotten Places of NS Terror Visible. Art, Research, Participation, and Digital Technologies as an Assemblage in the Project “Making Traces Readable in the Forced Labour Camp Roggendorf/Pulkau”. In: Connected Histories (in Vorbereitung).
- Blaschitz, Edith: Das Nicht-Sichtbare sichtbar machen: Archive, transnationale Erinnerungskulturen und digitale Kollaboration am Beispiel „belasteter“ Orte der NS-Zeit. In: Birgit Peter / Clemens Baumann / Theresa Eckstein / Klaus Illmayer / Alexander Rind / Sara Tiefenbacher / Georg Vogt (Hrsg.), Digitale Strategien zur Erschließung prekärer Bestände. Über Erzählen, Ausstellen, Partizipieren. Göttingen: V&R unipress (in Vorbereitung).
- Nationalsozialistische Lager lesbar machen (in Vorbereitung).
Weitere Links:
https://topos.orf.at/zwangsarbeitslager-pulkau100