Noch nie war der Moment so günstig, das Steuerrecht in der EU zu koordinieren, wenn nicht gar zu vereinheitlichen. Doch reicht der politische Wille dieses Mal aus?

Cathren Landsgesell

Seit Juli 2020 ist offensichtlich, was für Steuerrechtsexpertinnen und -experten wohl ohnehin nie in Frage stand: Das Wettbewerbsrecht ist kein adäquater Ersatz für ein zumindest koordiniertes Steuerrecht in der Europäischen Union. Aus Mangel an Beweisen scheiterte vor einem Jahr der seit 2016 währende Versuch der Europäischen Kommission, 13 Milliarden Euro an nicht bezahlten Steuern vom Mitgliedsstaat Irland bzw. vom IT-Konzern Apple einzufordern. Das Argument der Kommission: Irland habe Apple durch spezielle Steuerdeals von 2004 bis 2014 unrechtmäßige Wettbewerbsvorteile verschafft. Irland brauchte 2016 keine Woche, um dies als Einmischung in die eigene Souveränität zurückzuweisen. Der Fall landete vor dem Europäischen Gerichtshof. Sein Urteil 2020: Doch, die EU darf bei nationalen Regulationen mitreden, wenn diese den freien Wettbewerb im Binnenmarkt beeinträchtigen, nur habe die Kommission ebendas nicht ausreichend belegt. Während der Versuch, die Steuerdeals als (unzulässige) Staatshilfen zu demaskieren, derart gescheitert war, ist eine Leerstelle nicht zu kaschieren: Was immer das Wettbewerbsrecht macht, die EU kann die Verwerfungen des Digitalzeitalters so lange nicht ausgleichen, wie es kein koordiniertes Steuerrecht gibt.

Heute steht die EU zusätzlich mit Kosten in Höhe von 750 Milliarden Euro als Folge der Pandemie da. Erzwingt die Corona-Krise einen Paradigmenwechsel im Steuerrecht? „Das generelle Problem ist, dass wir mit den Mitteln und Rechtsbegriffen des 19. Jahrhunderts Probleme des 21. Jahrhunderts lösen wollen“, sagt Thomas Ratka. Für den Rechtswissenschaftler passt das Problem in ein Wort: „Nationalstaat“. Das 19. Jahrhundert, das die Strukturen des heutigen Rechts hervorgebracht hat, war territorial, die nationale Souveränität in allen Belangen der unhinterfragte Rahmen staatlicher Politik. Im Steuerrecht ist es das Prinzip der unbeschränkten Steuerpflicht im Staat, also der „wirtschaftlichen Oberleitung“, das den Weg zu einem gemeinsamen Steuerrecht und – so Ratka – auch den Steuerwettbewerb blockiert. Das Prinzip legt fest, dass Steuern unbeschränkt dort zu entrichten sind, wo ein Unternehmen seinen „tatsächlichen“ Sitz hat, wo die Produktion stattfindet und die Arbeiter arbeiten. In einer Welt, in der es Unternehmen gibt, deren Geschäftsmodell auf Daten basiert, die von über den ganzen Globus verstreuten Konsumentinnen und Konsumenten generiert werden, macht das Prinzip keinen Sinn mehr. „Dort zu besteuern, ‚wo der Server steht‘, kann wohl kein Anknüpfungspunkt für Besteuerungsrechte sein“, sagt Ratka. Es kommt dennoch Quantenphysik gleich, wollte man sich das Recht als etwas vorstellen, das zugleich ortsgebunden und supranational ist. Diesen Quantensprung aber zu schaffen, ist, so Ratka, eine „entscheidende Zukunftsaufgabe“ und aus seiner Sicht sogar möglich, jedoch „eine Frage des politischen Willens“.

Verästelung ist das Problem

Das Problem sind nicht allein die bekannten großen Steueroasen wie die Cayman-Inseln oder der offene „Steuerwettbewerb“ zwischen den Staaten. Ein Teil des Problems ist die Komplexität des bestehenden Steuerrechts, das sich seit mehr als einhundert Jahren immer weiter verästelt und verzweigt. „Je größer der weltweite Rechtsbestand wird, desto größer wird die Versuchung, eigene Gesetze zu umgehen und künstlich in eine andere Rechtsordnung hinein zu optimieren“, sagt Ratka. Unternehmen, BeraterInnen und auch die Staaten selbst haben das Dickicht geschaffen: „Es gibt heute über 5.000 Doppelbesteuerungsabkommen, die nur teilweise angeglichen sind. Wenn man diese kennt, findet man immer Lücken, um solche Konstrukte zu bilden, wie sie die Digitalunternehmen benutzt haben“, erklärt Silke Ötsch. Die Soziologin beobachtet seit vielen Jahren ein „unglaubliches Steuerdumping, sowohl bei den Kapital- als auch bei den Unternehmenssteuern“, das vor allem zu Lasten niedrigerer und mittlerer Einkommen geht. Die fehlenden Einnahmen werden nämlich durchaus kompensiert – durch die höhere Besteuerung von Arbeit und von Konsum. Der Effekt dieser Umverteilung von unten nach oben: „Die Ungleichheit wird größer, wer viel hat, profitiert.“

Spätestens seit der Finanzkrise 2008 ist die soziale Toleranz für steueroptimierende Unternehmen weniger geworden und ebenso die Geduld mit den Staaten, die nichts dagegen unternehmen. Der Zeitpunkt, das Steuerrecht zu koordinieren, war noch nie so günstig, sagt Silke Ötsch. „Auch SteuerberaterInnen denken bei der Steuergestaltung Reputationsrisiken jetzt mit. Die Finanzämter sind motiviert und spüren den gesellschaftlichen Rückenwind. Das ist wichtig, denn Steuergesetze sind nie so klar definiert, dass eins zu eins beurteilt werden kann, wie die Gesetze auszulegen sind. Es gibt Spielräume, und da entscheidet auch das normative Klima.“

Wenig umverteilend

Die Möglichkeit, die durch Steueroptimierungen verursachten Budgetlöcher über Lohn- und Einkommens- bzw. Konsumsteuern auszugleichen, ist wohl ausgereizt. Weithin bekannt ist das Beispiel des US-Amerikaners Jeff Bezos, reichster Mann der Welt, der de facto nur rund ein Prozent Einkommenssteuer zahlt. Das ist nicht allein ein Problem der USA. Es ist nur ein besonders einprägsamer Fall. Auch die Steuersysteme in Europa, sagt der Ökonom Jakob Kapeller, sind generell wenig umverteilend, da de facto wenig progressiv. „Durch die Konsumsteuern gleicht sich die Progression wieder aus. In Österreich bewirken die proportionalen Sozialversicherungsbeiträge sogar, dass die oberen Einkommen entlastet werden. Am Ende kommt für die unteren zehn Prozent nahezu dasselbe heraus wie für die oberen zehn Prozent. Unsere Steuersysteme verteilen nicht um.“

„Dort zu besteuern, ‚wo der Server steht‘, kann wohl kein Anknüpfungspunkt für Besteuerungsrechte sein.“

Thomas Ratka

Globale Mindeststeuer

Am 1. Juli 2021 geschah etwas Erstaunliches: Die Finanzminister der G7-Staaten schlugen vor, eine globale Mindeststeuer für Unternehmensgewinne in Höhe von 15 Prozent zu vereinbaren. Was dies konkret auslösen wird, ist offen. „Ich kann mir vorstellen, dass man diesmal anders als in den letzten Wirtschaftskrisen ab 2008 Steuern erhöhen wird, um mehr investieren zu können“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Mario Holzner. „Wenn es auf einer globalen Ebene verstärkt zu einer Körperschaftsbesteuerung kommt, kann das Kapital nicht mehr wirklich ausweichen. Wenn mit diesen Geldern dann nützliche Investitionen im öffentlichen Sektor getätigt werden, kann das der Anstoß sein für mehr private Investitionen.“ Die Globalisierung, die eigentlich bereits ins Stocken geraten war, könnte so wieder in Schwung kommen. An der Tatsache, dass produzierende Unternehmen tendenziell lieber in China sind, als in Europa, wird das aber vermutlich wenig ändern: Europa mag die größte Binnenwirtschaft sein, die Wachstumsmärkte sind in Asien.

Jakob Kapeller ist denn auch eher geneigt, in der Mindestbesteuerung einen „Versuch“ zu sehen: „Die vorgeschlagenen 15 Prozent sind einmal ein Stoppschild“, sagt er. Die 15 Prozent legen Zeugnis ab vom Willen, die finanziellen Lasten der kommenden Aufgaben fair zu verteilen. Denn man habe bisher vergessen, dass Steuerrecht und -politik auch Gestaltungsinstrumente seien.

Die österreichische und deutsche Volkswirtschaft sind auf einen stabilen, nachfragenden Binnenmarkt angewiesen, der Euroraum ist der Kernmarkt für sie. Auf postpandemisches Umdenken hoffend, erinnert Holzner an die von Austerität geprägten Maßnahmen gegenüber Griechenland. „Jetzt hat man chinesische Eigentümer beim Hafen Piräus, der mittlerweile der größte Hafen im Mittelmeer ist.“ Erfahrungen wie diese haben, so Holzner, mit dazu beigetragen, dass es nun möglich war, gemeinsam Schulden aufzunehmen.

Druck durch Klimawandel

Druck zur Koordination kommt auch durch den Klimawandel. Für die Durchsetzung der Klimamaßnahmen ist das Steuerrecht das vielleicht einzige Mittel. Wer sich klimagerecht verhalte, solle steuerliche Vorteile haben, so Ratka. Der Weg ist gangbar, doch selbst hier gebe es eine Hürde. In dem Fall heißt sie Einstimmigkeitsprinzip. „Das wird man nicht aufheben. Ein europäischer Bundesstaat mit einer völlig einheitlichen Steuergesetzgebung wird eine Utopie bleiben. Ein weitgehend harmonisiertes Steuerrecht, das global ein ähnliches Gewicht wie das US-Steuerrecht hätte und diesem die Stirn bieten könnte, ist demgegenüber ein notwendiger und ein realistischer Fortschritt.“


THOMAS RATKA
Univ.-Prof. Dr. Dr. Thomas Ratka, LL.M. LL.M. ist Rechtswissenschaftler und Professor am Department für Rechtswissenschaften und Internationale Beziehungen der Donau-Universität Krems, das er leitet.

SILKE ÖTSCH
PD Dr. Silke Ötsch ist Professorin für Soziologie; sie lehrt und forscht an der Universität Hamburg am Lehrstuhl für Gesellschaftsanalyse und Sozialen Wandel sowie am Soziologischen Forschungsinstitut (SOFI) der Georg August Universität Göttingen. In einem ihrer Forschungsprojekte „Steuergestaltung als Profession“ untersucht sie Werthaltung der Akteure in diesem Feld.

JAKOB KAPELLER
Prof. Dr. Jakob Kapeller ist Wirtschaftswissenschaftler und Professor für Sozioökonomie an der Universität Duisburg mit dem Schwerpunkt Plurale Ökonomie. Er hat Studien unter anderem zur Verteilung von Vermögen in Österreich durchgeführt.

MARIO HOLZNER
Dr. Mario Holzner ist Wirtschaftswissenschaftler und leitet als Geschäftsführender Direktor das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche WIIW. Forschungsschwerpunkte von ihm sind europäische Wirtschaftspolitik und Infrastruktur-Investitionen im europäischen Wirtschaftsraum, wobei er das Projekt einer Europäischen Seidenstraße vorschlug.

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