Unsere gesellschaftliche Veränderung ist ein dynamischer Prozess. Ein rechtlicher Rahmen muss jedoch gewahrt bleiben.

Ein Kommentar von Rupert Wolff 

Es ist das Wesen disruptiver Entwicklungen, dass diese meist ohne Vorankündigung geschehen, im Ergebnis aber so convenient für die Nutzerinnen und Nutzer sind, dass die Entwicklung als kurz- und mittelfristig unumkehrbar gesehen wird. Die in Antwort auf die Pandemie beschleunigte Digitalisierung von Verfahren und Arbeitsabläufen wird von vielen als positiv empfunden. In der Rückschau könnte die Einführung von Videotechnologie in Gerichtsprozessen als disruptiv betrachtet werden, da diese auch nach der Pandemie ein Bestandteil des Justizwesens bleiben wird.

Kein Bestandteil unseres Rechtssystems dürfen hingegen die zahlreichen Grundrechtseingriffe und Freiheitsbeschränkungen bleiben, die uns als Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie verkauft wurden. Die österreichische Rechtsanwaltschaft wird ganz genau hinsehen, wenn es darum geht, unsere in früheren Generationen hart erkämpften Bürgerrechte zu verteidigen.

Fortschritt heißt auch, sich Verbesserungen zu Nutze zu machen und Irrläufer wieder zu vergessen. Gleiches gilt in Bezug auf die immer weiter voranschreitende Digitalisierung in der Justiz. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz mag zur Effizienzsteigerung beitragen und im Justiz-Alltag zu Arbeitserleichterungen führen. Aber wo ist die Grenze?

Die Europäische Kommission schweigt dazu in ihrem Vorschlag zur Regulierung von KI-Anwendungen in der EU und bezieht sich lediglich auf KI zur Unterstützung der Entscheidungsfindung, ohne allerdings ein KI-Gericht auszuschließen. Das Grundrecht auf einen menschlichen Richter muss gewahrt werden!

Die Möglichkeit eines KI-Gerichts (z.B. für geringe Forderungen) würde de facto dazu führen, dass gerade sozial schwächere Menschen sich vor einem solchen Gericht und nicht mehr vor einem menschlichen Richter oder einer menschlichen Richterin wiederfinden würden. Auch würde die Rechtsfindung zu einer „Rechtsbetonierung“ verkommen, denn die KI kann und darf das Recht nicht fortentwickeln wie ein Richter oder eine Richterin. Mancher technische Fortschritt ist – falsch eingesetzt – ein gesellschaftlicher Rückschritt. Auch in diesem Bereich wird die Rechtsanwaltschaft ganz genau hinsehen und die Grenzen aufzeigen.

Bei aller technischer Innovation dürfen Nachhaltigkeitsaspekte nicht vergessen werden. Ein verpflichtender Klimacheck von Gesetzen und Verordnungen ist ein Schritt in die richtige Richtung. Umweltrechte sind Menschenrechte, das wird auch in der Rechtsprechung des EGMR immer deutlicher. Dies ist eine neue Realität, die dem Gerechtigkeitssinn vieler entsprechen dürfte, die aber Rechtsklarheit für Unternehmen erschweren wird.


RUPERT WOLFF
Dr. Rupert Wolff ist seit 1987 selbständiger Rechtsanwalt in Salzburg und zertifizierter Gerichtsdolmetscher für die italienische Sprache. Von 2002 bis 2011 war er Vizepräsident und seit 2011 ist er Präsident des Österreichischen Rechtsanwaltskammertags. Von 1992 bis 2011 war er Delegationsmitglied im Rat der Anwaltschaften der Europäischen Gemeinschaft (CCBE) und 2001 dessen Präsident. Er studierte Rechtswissenschaften in Wien und Padua.

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