Die Digitalisierung hat die juristische Arbeit ebenso beschleunigt wie entschleunigt, erklärt der Rechtswissenschaftler Thomas Ratka von der Donau-Universität Krems. Medienkompetenz und Quellenkritik sind insbesondere für angehende Juristinnen und Juristen essenziell.

Interview: Heike Hausensteiner

upgrade: Herr Professor Ratka, wie hat die Digitalisierung die praktische juristische Arbeit verändert?

Thomas Ratka: Sehr – sie wurde vor allem beschleunigt und in gewissem Ausmaß automatisiert. Vor fast einer Generation, als Mitte der 1990er-Jahre das Internet in den Alltag kam, hat man begonnen, Gerichtsentscheidungen, Rechtsvorschriften und auch Gesetzeskommentare digital abrufbar zu machen. Entsprechend schnell waren diese allgemein zugänglich. Bis dahin waren JuristInnen die Gralshüter des Rechts, man ging in exklusive Bibliotheken, um das richtige Werk zu finden, und das wollte gelernt sein. Heutzutage haben wir so etwas wie einen gesamthaften Zugang zum Recht: Alle Rechtsquellen sind für alle zugänglich – und das nahezu weltweit. Vielen Rechtssuchenden gibt das eine Scheinsicherheit, sofort alles auf Knopfdruck wissen zu können. Man muss die Rechtsdatenbanken aber als Instrumente gut und effizient bedienen können, um zum Ziel zu kommen. Das schnellste Boot nützt der Anfängerin/dem Anfänger nichts – sie/er steigt ein und verliert sich im weiten Meer digitaler Rechtsquellen.

Zugespammte Gerichte und Behörden

Ich bin jetzt 48 Jahre alt; als ich mit Mitte 20 angefangen habe, juristisch zu arbeiten, hat man als Anwalt aus Zeitschriften und Kommentaren exzerpiert und einen eigenen, durchdachten Text daraus entwickelt. Heute kopiert man oft relevante Stellen aus der Rechtsdatenbank und fügt nur noch die Verbindungssätze ein. Das führt dazu, dass die Schriftsätze, die früher 15 bis 20 Seiten, dafür aber einen roten Faden hatten, jetzt – bei selbem Inhalt – manchmal gut 100 Seiten umfassen. Der Verfahrensökonomie ist damit oft nicht gedient – die Gerichte und Behörden werden zuweilen regelrecht mit Sammelsurien zugespammt.

Andererseits steigen insgesamt die Gesetze, Verordnungen und Gerichtsurteile?

Ratka: Ja, denn die Welt ist komplizierter und vielschichtiger geworden. Die Quantität der Rechtsquellen steigt weltweit wie eine exponentielle Kurve, aber nicht die Qualität: Der Verfassungsgerichtshof muss immer wieder Gesetze mit der Begründung aufheben, dass sie ohne subtile juristische Kenntnisse oder ohne eine gewisse Lust zur Lösung von Denksportaufgaben schlicht nicht mehr verständlich oder überhaupt in sich unschlüssig sind – das ist nämlich seinerseits verfassungswidrig. Die Rechtswissenschaft steht vor der Herausforderung, Übersicht und System in das wachsende Chaos zu bringen. Gute RechtswissenschaftlerInnen sind wie Kartographen des Rechts: Sie fördern mit ihren Werken die Übersichtlichkeit, zeigen Zusammenhänge auf, geben Orientierung, führen die „Schiffe der RechtsanwenderInnen“ wie ein Navigationssystem schneller und sicherer zum Ziel.

„Heutzutage haben wir so etwas wie einen gesamthaften Zugang zum Recht: Alle Rechtsquellen sind für alle zugänglich – und das nahezu weltweit. Vielen Rechtssuchenden gibt das eine Scheinsicherheit.“

Thomas Ratka

Inwieweit geraten Rechtswissenschaft und -praxis durch die Beschleunigung noch unter Druck?

Ratka: Digitalisierung, richtig angewendet, entschleunigt manche Dinge sogar. Wenn wie bis vor kurzem viele Personen gleichzeitig zu einem Termin persönlich beim Notar erscheinen müssen, um zeitgleich einen Vertrag zu unterschreiben oder notariell belehrt zu werden, ist das nicht effizient und kostet Zeit. Wenn man mit der Bürgerkarte und der Handysignatur seine Identität nachweisen kann, ist eine Online-Zuschaltung viel zeitsparender, ohne die Schutzzwecke des Notariatsakts zu schmälern. Oder oft dauern Prozesse um Jahre länger, weil geladene Zeugen nicht erscheinen, und jede neue Tagsatzung verzögert das Verfahren. Würde man sie online vernehmen, könnte das die Prozessökonomie fördern. Andererseits ist die monatelange Dauer von Verfahren in manchen Fällen ein Asset, weil oft erst während eines Prozesses Zusammenhänge klarer werden, bis die Sache im Wortsinn „entscheidungsreif“ ist.

„Künstliche Faulheit“ als Ausgleich

Wo es zu flotte „künstliche Intelligenz“ gibt, müsste als Ausgleich so etwas wie „künstliche Faulheit“ kreiert werden, damit sich der digital beschleunigte Prozess in einem menschlich vertretbaren Tempo bewegt und nicht das passiert, was wir „speed kills“ nennen. Es wäre technisch bereits möglich, digital erfasste Rechtsverstöße (etwa das Nichteinreichen einer Bilanz) automatisch zu bestrafen. Oder noch entmenschlichter: Anhand meiner biometrischen Daten erkennt eine Kamera, dass ich gerade bei Rot über die Kreuzung gegangen bin, und in der Sekunde flattert ein Strafbescheid aufs Handy – das verbieten dankenswerterweise aber die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) und die Verfassung: Demnach muss ein staatliches Organ, das nur ein Mensch sein kann, einen Bescheid oder ein Urteil erlassen, obwohl das automatisationsunterstützt möglich wäre. Manche befürworten das aufgrund der Effizienz, nur: Der RoboCop ist da nicht mehr weit entfernt. Schon Cicero meinte: Summum ius summa iniuria, „höchstes Recht ist höchste Ungerechtigkeit“. Recht wird immer noch von Menschen für Menschen erlassen, das gilt auch für seine Durchsetzung. Der Ermessensspielraum bei staatlichen Zwangsmaßnahmen ist wichtig.

Welche Soft Skills sind in Zukunft verstärkt notwendig?

Ratka: Eine Fähigkeit, die man JuristInnen mitgeben muss, ist, das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden zu können und alles selbst in einen eigenen Zusammenhang zu setzen. Ein kritischer, vernetzt denkender Geist ist speziell in einer digitalisierten Welt wichtig. Wenn man diese Instrumente ad infinitum, global und jederzeit zur Verfügung hat, neigt man dazu, alles verwenden zu wollen und für sinnvoll zu halten. Das ist ein Problem der „Generation Internet“, wenn sie tendenziell „analoge“ Quellen als zweitklassig betrachtet. Häufig ist es umgekehrt! Ein Literaturklassiker lässt mich ein Problem erst verstehen und einordnen. Mit digitalen Quellen kann man dann weiterarbeiten, den Klassiker auf das aktuelle Problem ummünzen.

Quellenkritik und -selektion

Quellenkritik und -selektion sind somit essenziell. An Universitäten sehen wir das Problem, dass viele Studierende mit ihren Abschlussarbeiten Schwierigkeiten haben, weil sie sich in digitalen Quellen verzetteln. Man kann innerhalb weniger Sekunden zehntausende Seiten herunterladen – das ist für sich noch keine Rechercheleistung. In der Bibliothek muss ich mich dagegen auf das fokussieren, was ich eigentlich wissen will. Daher rate ich: Geht zuerst in die Bibliothek und den Buchladen und dann in die Rechtsdatenbanken, nicht umgekehrt!

Analog und digital müssen sich ergänzen, es gibt kein sinnvolles Entweder-Oder. Genauso in der Lehre: Die Uni ist ein wunderbarer Ort für physische Begegnungen und einen akademischen Diskurs – die digitale Lehre bietet wiederum unglaubliche Möglichkeiten der Ergänzung des persönlichen Austausches am Campus durch ortsunabhängige Vor- und Nachbereitung. Covid-19 hat gezeigt: Online-Lehre ist – didaktisch richtig durchgeführt – großartig, physische Präsenzlehre aber auch.

Es geht im juristischen Bereich nicht mehr nur um Fachwissen: Soft Skills und interkulturelle Kompetenzen, aber auch Mediation sind viel wichtiger als noch vor 20 Jahren.

Sie bauen gerade ein digitales Projekt mit dem Manz Verlag auf. Worum geht es da?

Ratka: Gesetzeskommentare sind sehr dick und umfassen oft tausende Seiten – der von mir mitherausgegebene Kommentar zum Unternehmensgesetzbuch hatte 1980 in der ursprünglichen Fassung 400 Seiten, jetzt, 2021, sind wir bei 4.000 Seiten. Das zeigt genau das Problem, das ich eingangs beschrieben habe. Um den AnwenderInnen den Einstieg zur Lösung eines Rechtsbegriffes zu erleichtern, haben wir mit dem Manz Verlag die gesamte österreichische Rechtsordnung in Begriffe unterteilt und diese miteinander vernetzt. Jeder Begriff enthält Verweise auf jeweils drei, vier Kommentarstellen, die sich mit den häufigsten Anwendungskonstellationen des Begriffes beschäftigen. Das ist ein viel effizienterer Einstieg als über ein Stichwortverzeichnis. Die User bekommen nicht hunderte Artikel vorgeschlagen, sondern die Suchergebnisse sind fokussierter und klarer. Das ist ein relativ neuer Ansatz, um schnell Zusammenhänge aufzuzeigen.

Wann startet das Projekt?

Ratka: Der Pilot, die 500 Schlagwörter zum Gesellschaftsrecht, Unternehmensrecht und Zivilrecht, wird im Herbst dieses Jahres fertig. Wenn alles gut geht, könnten wir in nur zwei Jahren ein riesengroßes, vernetztes Kompendium zur gesamten österreichischen Rechtsordnung geschaffen haben.


THOMAS RATKA
Univ.-Prof. DDr. Thomas Ratka, LL.M. ist Leiter des Departments für Rechtswissenschaften und Internationale Beziehungen. Er studierte Rechtswissenschaften sowie Geschichte an der Universität Wien (jeweils Diplom- und Doktoratsstudium), anschließend absolvierte er zwei Postgraduate-Studien (LL.M.) in Internationalem Steuerrecht (WU Wien) und in Europarecht (Donau-Universität Krems). Er ist der Herausgeber zahlreicher rechtswissenschaftlicher Standardwerke, darunter die „Wiener Kommentare“ zum UGB, GmbHG und BWG.

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