Welche Rolle spielen Kunst und Kultur in einer Gesellschaft, die sich stetig verändert? Darüber sprach „upgrade“ mit Eva Maria Stöckler, Leiterin des Departments für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Universität für Weiterbildung Krems.

Interview: Nina Schedlmayer

upgrade: Frau Stöckler, Sie leiten das Department für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Universität für Weiterbildung Krems. Wie weit fassen Sie den Begriff der Kultur?

Eva Maria Stöckler: Kultur bezeichnet menschliche Errungenschaften, die Gestaltung des Zusammenlebens, Wertvorstellungen, menschliche Hervorbringungen etwa in der Geschichte, der Wirtschaft und des Alltagslebens. Kultur ist ein lebendiger Begriff, der ständigen Neudeutungen und Umdeutungen unterworfen ist. In einem engeren Sinne umfasst der Begriff das, was wir unter künstlerischen Leistungen verstehen – bildende Kunst, Literatur, Musik, Architektur, Film. Die Kulturwissenschaften sind ein sehr breites Feld und stark interdisziplinär ausgerichtet, wobei an den verschiedenen Universitäten unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden. An der Universität für Weiterbildung Krems arbeiten wir mit einem in der Kulturgeschichte verankerten Kulturbegriff.

Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Kunst, Kultur und Gesellschaft beschreiben?

Stöckler: Kultur ist das Fundament einer Gesellschaft und Kunst ihr kritischer Spiegel. Ein Beispiel dafür ist Sprache: Wir erwerben eine Sprache als Teil unserer kulturellen Sozialisation, leben mit ihr, leben in ihr. Gleichzeitig ist Sprache künstlerisches Gestaltungsmittel in der Literatur, im Theater. Wie präsent, auch wie umkämpft der Begriff „Kultur“ heute ist, sieht man im Umgang mit Migration und Integration, wo es weniger um ökonomische als um kulturelle Fragen geht. Das Verhältnis zwischen Kunst, Kultur und Gesellschaft hat immer auch etwas mit ihrem Stellenwert in einer Gesellschaft zu tun. Wie gehen wir mit dem zeitgenössischen Kulturleben um, wie mit der kulturellen Überlieferung? Wie viel ist uns Kunst und Kultur wert? Gerade in Niederösterreich konnte man in den letzten Jahren erleben, dass die Investitionen in Kunst und Kultur wesentlich zu einer positiven Entwicklung und zur Identitätsbildung des Landes beigetragen haben.

Welche Funktionen würden Sie Kunst darüber hinaus zuschreiben?

Stöckler: Die Funktion von Kunst liegt in der Kunst selbst und in dem, wie sie auf Menschen, die sich mit ihr beschäftigen, wirkt. Dabei geht es nicht nur darum, Menschen zu ermöglichen, Kunst in Ausstellungen, Museen, Theatern, Konzerten zu erleben, sondern auch selbst schöpferisch tätig zu werden, sich Kunst im Tun anzueignen. Dafür braucht es bestimmte Rahmenbedingungen und Strukturen, etwa die Möglichkeit, miteinander zu musizieren, zu singen. Feste und Feiern, Ereignisse im Jahreskreis sind verbunden mit künstlerischen und kulturellen Aktivitäten, ein lebendiges Kulturleben ist unabdingbarer Teil des Zusammenlebens.

Wie stark sollte die ökonomische Rolle der Kultur sein? Kann diese nicht schnell in eine falsche Richtung führen?

Stöckler: Die Wertschöpfung, die Kultur generiert, ist sehr hoch, vor allem, wenn man bedenkt, dass Kunst und Kultur auch zum touristischen Angebot gehören. Weil aber hier von Kultur eine bestimmte Funktion erwartet wird, besteht durchaus die Gefahr der Vereinnahmung und Einflussnahme. Eine demokratische Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie Widerständiges und Kritisches nicht nur zulässt, sondern auch fördert. Künstler_innen sind die Sensoren der Gesellschaft, die gesellschaftliche Verwerfungen bereits erkennen, bevor sie offen zu Tage treten, und sie in ihre künstlerische Sprache transferieren.

Welche Beispiele fallen Ihnen dazu ein?

Stöckler: Im Archiv der Zeitgenossen werden Vorlässe einer ganzen Reihe von Künstlern gesammelt, deren Werke einen kritischen Blick auf die Gesellschaft werfen: Etwa Peter Turrini mit seinen Stücken für das Burgtheater, dem Drehbuch für die Fernsehserie „Die Alpensaga“ oder im Libretto zur Oper „Der Riese vom Steinfeld“, vertont von Friedrich Cerha. Auch die Komponisten HK Gruber und Kurt Schwertsik haben in ihrer Musik künstlerisch zu aktuellen Themen Stellung bezogen.

Im Vergleich zu Literatur und Film ist Musik nicht narrativ. Nehmen unterschiedliche Sparten auch verschiedene Rollen in Bezug auf die Gesellschaft ein?

Stöckler: Die Rollen sind ähnlich, die Medien unterschiedlich. Musik kann auch ohne Text sehr intensive Reaktionen beim Publikum hervorrufen, etwa wenn Erwartungshaltungen und Traditionen außer Kraft gesetzt werden und Genre- und Ortsgrenzen übertreten werden. Das kann auch im positiven Sinne genutzt werden. Ein Symphoniekonzert im öffentlichen Raum – etwa im Schlosspark von Schönbrunn – oder ein Jazzkonzert in der Oper waren lange Zeit undenkbar, sprechen aber ein Publikum an, das womöglich nie den Weg in ein Opernhaus oder zu einer Symphonie gefunden hätte. Eine andere Möglichkeit ist, die Grenze zwischen Profis und Non-Professionals aufzuheben und Menschen die Chance zu geben, sich nicht nur als Konsument_innen, sondern auch aktiv schöpferisch mit Kunst auseinanderzusetzen. Das macht Menschen zu aktiv Beteiligten.

Werden solche partizipativen Ansätze stärker in letzter Zeit?

Stöckler: Vermittlungsprogramme sind fester Bestandteil von Konzerten, Festivals, in Museen, Ausstellungshäusern und Theatern. Zunächst wurden damit vor allem Kinder und Jugendliche adressiert, auch im Hinblick darauf, dass sie das Publikum der Zukunft sind. Mittlerweile richten sich diese Programme verstärkt an Erwachsene. Am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften beschäftigen wir uns etwa mit der Ermöglichung kultureller Teilhabe von Menschen mit Demenzerkrankungen und der Frage, wie Museen mit Alter und Demenz als enormer gesellschaftlicher Herausforderung umgehen.

Wie nahe kann oder soll eine Universität oder die Wissenschaft an der künstlerischen Gegenwart sein?

Stöckler: Wir sind als Wissenschaftler_innen immer Zeitgenoss_innen. Allerdings gibt es unterschiedliche Herausforderungen im wissenschaftlichen Umgang mit historischen und zeitgenössischen künstlerischen Objekten. Die historische Distanz hat zahlreiche Leerstellen in der Überlieferung hinterlassen. Diese gibt es auch im Umgang mit zeitgenössischer Kunst, sie sind jedoch anders gelagert. Transdisziplinäre Ansätze in der Forschung, wie wir sie am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften umsetzen, stellen sich diesen Herausforderungen.

Wie nehmen Sie die Situation der Kultur jetzt in der unmittelbaren Gegenwart der Pandemie wahr?

Stöckler: Erstaunlich für mich war, wie schnell und wie lange das Kulturleben ausgesetzt wurde. Das hat verschiedene Kunstrichtungen unterschiedlich stark getroffen, besonders jedoch die darstellenden Künste. Musik ist vorübergehend ins Netz abgewandert, eine Form von Distribution, die nur äußerst wenig zum Einkommen von Musiker_innen beiträgt. Die ohnehin schon prekäre Situation von vielen – vor allem jungen freischaffenden – Künstler_innen hat sich dadurch dramatisch verschärft.

Die Kultur wurde in der Pandemie den Freizeiteinrichtungen zugeordnet. Was sagt das aus über ihren Stellenwert?

Stöckler: Es hat den Anschein, als hätte Kultur für viele Menschen den Stellenwert einer verzichtbaren Freizeitbeschäftigung. All jene, die selbst künstlerisch als Profis oder Amateure tätig sind, und Menschen, für die Kunst alltäglicher Begleiter ist, würden das jedoch strikt ablehnen. Wollen wir weiterhin als Kulturland wahrgenommen werden, wird es notwendig sein, auf mehr musische Bildung in den Schulen und Bildungseinrichtungen zu setzen, nicht auf weniger.

„Menschen die Chance zu geben, sich nicht nur als Konsument_innen, sondern auch aktiv schöpferisch mit Kunst auseinanderzusetzen, macht sie zu aktiv Beteiligten.“

Eva Maria Stöckler

Denken Sie, dass die Pandemie für die Kunst disruptiv sein wird?

Stöckler: Nicht disruptiv, aber sie hat manche Problemlagen verstärkt und Verwerfungen sichtbar gemacht, die vorher schon bestanden. Eine Erfahrung ist, dass überall dort, wo es überschaubare Strukturen und hohes persönliches Engagement gibt, das Kulturleben rasch wieder in Schwung gekommen ist. Und wir haben gesehen: Digitale Medien sind sehr hilfreich, können aber Live-Events nicht ersetzen.


Dr.in Eva Maria Stöckler studierte Musikwissenschaft, Deutsche Philologie und Slawistik/Russisch (Lehramt) an der Universität Salzburg sowie Musikpädagogik an der JAM Music Lab Private University Wien. Sie promovierte über den Komponisten Ernst Krenek. Heute leitet sie das Department für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Universität für Weiterbildung Krems; zudem das Zentrum für Angewandte Musikforschung. Stöckler ist Mitglied im Vorstand des Österreichischen Musikrats, der wissenschaftlichen Kommission des Österreichischen Volksliedwerkes und der Ernst Krenek Institut Privatstiftung.

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