Kann Musik einen positiven Einfluss auf unseren Alltag haben? Marin Alsop, Chefdirigentin des ORF Radio-Zymphonieorchesters und erste weibliche Leiterin eines großen US-Orchesters, ist davon überzeugt und spricht auch über Diversität auf der Bühne und Gleichberechtigung.
Interview: Susanne Hofinger
upgrade: „Music has the power to change lives“, das ist eine Ihrer Überzeugungen. Gerade in Zeiten einer Pandemie sind wir alle bedürftig nach positiver Energie. Worin liegt diese Kraft der Musik?
Marin Alsop: Nun, im Wesentlichen denke ich, dass es in der Musik und im Musizieren um eine Verbundenheit – auch eine emotionale Verbundenheit – geht, die über eine sprachliche Beschreibung hinausgeht. Es ist so einfach, Worte falsch zu verstehen – besonders in Zeiten wie diesen. Musik hat die Fähigkeit, uns zusammenzubringen, und uns vor allem im Dienste der Schönheit und Freude zusammenzubringen. Das brauchen wir in diesem Moment der Isolation, der Trennung und des Widerspruchs dringend.
Sie haben einen dichten Terminplan für den kommenden Herbst und Winter und arbeiten mit unterschiedlichen Orchestern in verschiedenen Ländern. Gehen Sie in diese Proben und Konzerte jetzt mit einem anderen Gefühl?
Alsop: Ich glaube, es ist ein bisschen so wie das, was Menschen erzählen, nachdem sie mit dem Tod in Berührung gekommen sind, dass sie eine neue Wertschätzung für das Leben haben. Ich glaube zwar, dass ich nie keine Wertschätzung für Musik hatte, aber nun ist sie noch ein bisschen besonderer. Heute Morgen habe ich das 1. Klavierkonzert von Johannes Brahms geprobt (Anmerkung: Zum Zeitpunkt des Interviews war Marin Alsop gerade in Kopenhagen). Ich habe das Stück jetzt wegen der Pandemie seit zwei oder drei Jahren nicht mehr geprobt und es war so wunderbar, die Musik zu hören und ein Teil davon zu sein, sich mit den Musiker_innen zu verbinden. Ich habe das Gefühl, dass ein bisschen ein anderer Ton in der Luft liegt, eine andere Atmosphäre. Ich glaube, alle spüren, dass sie das gerade nicht für selbstverständlich halten.
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„Woran ich gerne weiterarbeiten würde: das Publikum hinter die Kulissen schauen lassen, damit sie mehr erfahren, was wir da eigentlich machen.“
Marin Alsop
Wie haben Sie die Zeit der Lockdowns erlebt? Gerade als Dirigentin sind Reisen doch ein wichtiger Teil Ihres Berufes.
Alsop: Ich weiß mich sehr glücklich zu schätzen, denn ich hatte wirklich viel Glück im Vergleich zu so vielen anderen Menschen und anderen Künstler_innen. Für mich war es tatsächlich sehr gesund, einmal innezuhalten und eine Pause einzulegen. Ich konnte mit meiner Familie vorübergehend nach Wien übersiedeln und in Wien hat das ORF Radio-Symphonieorchester viel gearbeitet, wir haben viele Aufnahmen gemacht und dann doch auch einige Konzerte gespielt. In dieser Zeit konnte ich eine Beziehung zu den Musiker_innen aufbauen. Aber auch mit meiner Familie habe ich wirklich viel Zeit verbracht. Anfangs waren wir alle besorgt darüber, so viel Zeit miteinander verbringen zu müssen (lacht), wir wussten nicht, ob wir uns mögen würden, aber wir hatten schlussendlich eine tolle Zeit. Es war auch das letzte Jahr, bevor unser Sohn auf das College muss, und somit war es eine doppelt besondere Zeit für uns drei.
Können Sie einen Unterschied zwischen amerikanischen und europäischen Orchestern im Umgang mit der Pandemie festmachen?
Alsop: Ja, ich glaube, es gibt einen Unterschied in der kulturellen Reaktion auf die Pandemie. Amerika war in totaler Panik, nahezu schon hysterisch. Im Gegensatz dazu war meine Erfahrung in Wien und auch im Rest Europas ganz anders. Da war klar: Kunst ist Teil unseres Lebens und wir werden nicht ohne Kunst leben. Wenn jemand im Orchester an Corona erkrankt, wird dieser Teil des Orchesters kurzzeitig isoliert und der Rest macht weiter. Wir haben es einfach gemacht und versucht, mit den Umständen zu leben. Aber in den USA war der Umgang ein ganz anderer – es wurde alles so überdramatisch gehandhabt. Ich glaube, Europa ist eher der Ansicht, dass man eine gewisse Not und eine gewisse Härte aushalten muss und man einfach das Beste aus einer schlechten Situation macht. Außerdem glaube ich auch, dass die Öffentlichkeit vor allem in Wien Kunst so hoch schätzt, dass sie nicht darauf verzichten möchte, und das ist fantastisch. So sollte das Leben sein!
Glauben Sie, dass die Pandemie nachhaltige Veränderungen im musikalischen Leben mit sich bringen wird?
Alsop: Das hoffe ich sehr! Ich hoffe, dass es vor allem nachhaltige Veränderungen in Bezug auf Diversität bringt: eine Vielfalt des Repertoires, aber auch der Menschen, die das Repertoire auf die Bühne bringen. Ich hoffe, dass es mehr Geschlechtergerechtigkeit geben wird. Ich weiß aber nicht, ob das wirklich die Folgen der Pandemie sein werden oder eher der sozialen Bewegungen, die rund um die Pandemie entstehen. Vermutlich ist das alles irgendwie miteinander verbunden. Außerdem hoffe ich, dass sich vor allem in den USA die Idee, dass Konzerte digital bereitgestellt werden, etwas weiterentwickelt und durchsetzt. Das sollte auch ein Teil der Arbeit eines jeden Orchesters und jeder künstlerischen Person sein. Wir müssen moderne Technologien besser integrieren in unser Handeln, um ein möglichst breites Publikum erreichen zu können.
Kann die Atmosphäre eines Konzertsaals in das eigene Wohnzimmer übertragen werden oder worin sehen Sie Möglichkeiten des Streamings?
Alsop: Nein, das glaube ich nicht, aber ich glaube, dass es Dinge gibt, die Technologie und digitale Zugänge leisten können, die Live-Performances nicht schaffen. Die Zuseher_ innen kommen viel näher an das Konzertgeschehen heran, oft sogar direkt in das Bühnengeschehen hinein. Das ist, woran ich gerne weiterarbeiten würde: das Publikum hinter die Kulissen schauen lassen, damit sie mehr erfahren, was wir da eigentlich machen, wie wir miteinander an dieser großartigen Musik arbeiten und wie Prozesse im Orchester ablaufen. Außerdem besteht so auch die Chance, Musiker_innen persönlicher kennenzulernen. Ich glaube, dass mit diesen Einblicken das Erlebnis von Livekonzerten – wenn sie wieder möglich sind – aufgewertet wird. Ich würde nicht sagen, dass Streaming ein Substitut ist, aber es ist eine Ergänzung und auch eine Bereicherung.
Viele Expert_innen warnen davor, dass besonders Frauen die Verliererinnen dieser besonderen Situation sind, da sich die bereits existierenden Ungleichheiten verstärken und zuspitzen. Gilt diese Befürchtung auch für den Musikbereich?
Alsop: Ich hoffe nicht. Aber ich glaube, dass es da im Moment auch viele Bewegungen gibt als Ergebnis der #MeToo-Bewegung. Es gibt auch Bewegungen für mehr Gleichberechtigung und mehr Diversität auf den Bühnen. Und wenn es etwas gibt, das ich dazu beitragen kann, dann mache ich das und trage bei, was ich nur kann. Ich glaube, dass wir Frauen immer mehr beginnen, uns zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen, und das ist mit einer gewissen Macht verbunden: Wenn wir zusammenkommen – und ich glaube wirklich, dass dieser Prozess gerade beginnt –, dann können wir versuchen, eine Veränderung für alle Frauen der ganzen Welt anzustoßen.
Wer hat Sie in Ihrem Wunsch, Dirigentin zu werden, unterstützt?
Alsop: Das waren vor allem meine Eltern. Sie waren beide Berufsmusiker und sie wollten unbedingt, dass ich erfolgreiche Musikerin werde. Aber auch mein späteres Idol, Leonard Bernstein, hat mich extrem unterstützt. Viele meiner Freund_innen waren auch musikalisch tätig und mit deren Hilfe konnte ich in meinen 20ern die Arbeit mit meinem ersten Orchester beginnen. Außerdem hatte ich wundervolle Lehrer_ innen – ich bekam also viel Unterstützung.
Aber?
Alsop: Was ich allerdings nicht hatte, waren Vorbilder. Ich hatte keine Frauen vor Augen, die Dirigentinnen waren, und das war etwas, das ich unbedingt ändern wollte für die zukünftigen Generationen und für junge Mädchen. Ich wollte ihnen zeigen, dass Frauen in jeder erdenklichen Rolle sein können. Vor fast 20 Jahren habe ich begonnen, die Dirigierlandschaft etwas zu verändern, indem ich ein Stipendium für Dirigentinnen ins Leben gerufen habe, das sogenannte Taki Alsop Conducting Fellowship, das sehr erfolgreich ist: Von den Absolventinnen haben jetzt 19 einen Musikdirektorinnentitel. Sie kommen aus 16 verschiedenen Nationen und sie sind nicht nur wundervolle Dirigentinnen, sondern auch wundervolle Menschen, die ihrer Community sehr viel zurückgeben. Außerdem bin ich jetzt auch an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien Artist in Residence und gebe dort Master Classes und freue mich sehr darauf, dort mit jungen Dirigent_innen arbeiten zu können.
Marin Alsop studierte an der Yale University in New Haven und an der New Yorker Juilliard School. 2007 wurde sie Chefdirigentin des Baltimore Symphony Orchestra und damit zur ersten weiblichen Leiterin eines großen US-amerikanischen Orchesters. Ebenso dirigierte Alsop als erste Frau die „Last Night of the Proms“ in London. Seit 2019 ist sie die Chefdirigentin des ORF Radio-Symphonieorchesters und seit 2020 Artist in Residence an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.
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