In einer vorrangig ökonomisch betrachteten Welt wird der Wert der Natur oft übersehen. Seit rund 50 Jahren wird deshalb versucht, die Bedeutung von Ökosystemen für den Menschen in Zahlen darzustellen. Ob der Umgang mit dem komplexen System damit gesteuert werden kann, bleibt fraglich.
Von Sonja Bettel
Frische Luft, sauberes Wasser, Lebensmittel, Heilmittel, Materialien, Schutz vor Naturgefahren – für alle unsere lebenserhaltenden Bedürfnisse brauchen wir die Natur und die biologische Vielfalt. Weil diese Bedeutung der Natur nicht ohne weiteres sichtbar ist und in den Prioritäten von Wirtschaft und Politik oft weit hinten gereiht wird, wurde in den 1970er Jahren der Begriff der Ökosystemleistungen, auch genannt Ökosystemdienstleistungen, entwickelt. Das Konzept versucht, das Bewusstsein für die Funktionen von intakten Ökosystemen zu erhöhen und eine Orientierung für Entscheidungsträger zu geben, damit Ökosysteme nachhaltig genutzt werden.
Der deutsche Biochemiker und Umweltpublizist Frederic Vester, der Mitglied des Club of Rome war, versuchte Anfang der 1980er Jahre, die Leistungen der Natur mit seinem Buch „Der Wert eines Vogels“ anschaulich zu machen: Betrachte man das Material – Knochen, Fleisch, Federn, Blut – sei ein Blaukehlchen nur etwa 3 Pfennig wert. Beziehe man seine Bedeutung als Schädlingsbekämpfer, Verbreiter von Samen, Bioindikator oder für das menschliche Gemüt ein, seien es mehr als 300 Deutsche Mark.
Weltweite Bewertung
Populär wurde der Begriff der Ökosystemleistungen mit dem Millennium Ecosystem Assessment, das im Jahr 2000 vom damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, initiiert wurde. An der Erhebung waren weltweit mehr als 1.360 Experten und Expertinnen beteiligt. Ihre Ergebnisse, die 2005 in mehreren umfangreichen Berichten publiziert wurden, bieten eine wissenschaftliche Bewertung des Zustandes und Entwicklungstrends der Ökosysteme und ihrer Leistungen sowie der Möglichkeiten zur Wiederherstellung, Erhaltung oder Verbesserung der nachhaltigen Nutzung.
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„Kleinstrukturierte Landschaftsräume und vielfältige Gärten können im besten Fall alle Ökosystemleistungen abdecken.“
Christine Rottenbacher
Für die Erhebung und Bewertung von Ökosystemleistungen wurden im Laufe der Zeit verschiedene Konzepte entwickelt und intensiv diskutiert, wie das in Europa verwendete CICES (Common International Classification of Ecosystem Goods and Services).
Projekt ÖKOLEITA
Der Biodiversitäts-Hub an der Universität für Weiterbildung Krems hat deshalb 2021 das Projekt „Ökosystemleistungen als Gestaltungselement in Niederösterreich“ (ÖKOLEITA) gestartet. Es soll den Wert der Natur verständlicher machen.
Das Umweltbundesamt hat dafür ausgewählte Ökosystemleistungen für Niederösterreich auf einem Raster von einmal ein Kilometer dargestellt. Das ist ein recht aufwendiger Prozess, der wesentlich davon abhängt, welche Daten verfügbar sind. Martin Götzl vom Umweltbundesamt erklärt diesen am Beispiel der Ökosystemleistung fruchtbarer Boden: „Im Fall der landwirtschaftlichen Nutzung ist der Indikator die natürliche Ertragsfähigkeit. Die Daten stammen aus der frei verfügbaren Version der Österreichischen Bodenkarte eBOD des Bundesforschungszentrums für Wald“. Die dort angegebene Wertigkeit eines Bodens von eins bis fünf leitet sich aus den Bodeneigenschaften und den Standorteigenschaften wie Wasserverhältnisse, Oberflächenform, Neigungsgrad, Neigungsrichtung und Klimaverhältnisse ab.
„Wenn für eine Ökosystemleistung keine Daten über die genutzte Menge existierten, wurde das Angebot einer Region festgestellt, also: was wäre nachhaltig nutzbar? War auch das nicht möglich, wurde das Potenzial erhoben, sprich: welcher Umweltparameter ist in einem gewissen Gebiet Voraussetzung, damit eine Ökosystemleistung zur Verfügung gestellt werden kann“, erklärt Martin Götzl weiter.
Ein Beispiel: Bei der Ökosystemleistung „Bestäubung durch Insekten“ dienten Daten über den landwirtschaftlichen Ertrag, z. B. Tonnen geerntete Äpfel pro Fläche, als Grundlage. Die Statistik Austria sammelt jährlich Daten zu Erntemengen pro Bezirk oder Bundesland, das Umweltbundesamt hat diese auf Quadratkilometer umgerechnet. Dann könne man sich aufgrund von Literaturangaben errechnen, wie viel Prozent des Ertrags einer bestimmten Kultur pro Fläche von der Bestäubung durch Insekten abhängig sind.
Insgesamt wurden vom Umweltbundesamt 17 Ökosystemleistungen anhand von 28 Indikatoren erfasst. Sie werden im Rahmen von ÖKOLEITA in den digitalen Biodiversitäts-Atlas Österreich integriert und können z. B. als Entscheidungshilfe im Rahmen von großräumigen Landnutzungsänderungen dienen. Man könne damit auch zeigen, ob die Förderung einer Ökosystemleistung zu Lasten einer anderen geht, sagt Martin Götzl.
Veränderungen sichtbar machen
Thomas Wrbka und seine Kolleg_innen vom Büro CoopNatura und dem Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien haben im Projekt ausgewählte Lebensraumtypen in der Beispielregion Wachau kartiert und anhand der von ihnen entwickelten Ökosystemleistungsmatrix bewertet. „Wir bilden damit nicht die Aufnahme von soundsoviel Kilogramm CO2 oder dergleichen ab, sondern ein relatives Maß“, erklärt Thomas Wrbka. Nämlich, wie sich Ökosystemleistungen durch verschiedene Maßnahmen oder Eingriffe verändern. Wrbka: „Wir wollen Trade-offs (Anm: Abwägungen) darstellen, denn jeder Eingriff in die Natur hat Konsequenzen.“
Im Projekt ÖKOLEITA wurden auch „Living-Lab“-Workshops in der Welterbe-Kulturlandschaft Wachau organisiert, um gemeinsam lokales Wissen über natürliche Prozesse sowie Wechselwirkungen zwischen Mensch und Natur zu ermitteln.
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„Das Konzept wurde strategisch eingeführt, um Politik oder Wirtschaft zu zeigen, es geht nicht nur um nette Blümchen, sondern um Existenzielles. Aber man muss aufpassen, dass sich das nicht verselbständigt.“
Kurt Jax
„Story Maps, die die Interaktionen zwischen Mensch und Natur auf alltäglicher Basis darstellen, wurden als ortsbezogene Erzählungen in den Biodiversitäts-Atlas integriert und bewerten die Ergebnisse der sich verändernden Ökosystemleistungen“, erklärt Christine Rottenbacher, die das Projekt gemeinsam mit Georg Neubauer leitet, der für die Darstellung der Projekt-Ergebnisse im Biodiversitäts-Atlas sorgt.
Im Rahmen des „Living Lab“ wurde außerdem ein Kartenfächer entwickelt, der verschiedene Landbedeckungen beschreibt und so ein Lesen der Landschaft unterstützen kann. „Kleinstrukturierte Landschaftsräume und vielfältige Gärten können im besten Fall alle Ökosystemleistungen abdecken“, nennt Christine Rottenbacher eine überraschende Erkenntnis aus dem Projekt. Das Living Lab habe auch gezeigt, dass das Konzept Ökosystemleistungen nach wie vor sehr unterschiedlich verstanden werde. Platzbezogene Erhebungen helfen, so die Projektleiterin, von einer konkreten Ausstattung dieses Bereiches auf natürliche Prozesse zu schließen und zu verstehen, welche Ökosystemfunktionen dort erhalten werden müssen, um die Leistungen sichern zu können.
Ein brauchbares Konzept?
Wie brauchbar ist das Konzept der Ökosystemleistungen generell, um den Wert der Natur zu vermitteln? Kurt Jax, der bis 2021 stellvertretender Leiter des Departments Naturschutzforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig war und sich als einer der Koordinatoren des EU-Projektes OpenNESS mit der Umsetzung des Konzepts der Ökosystemleistungen auseinandergesetzt hat, ist mittlerweile skeptisch: „Dieses Konzept wurde strategisch eingeführt, um Politikern oder Wirtschaftsvertretern zu zeigen, es geht hier nicht nur um nette Blümchen, sondern das hat auch eine existenzielle oder ökonomische Bedeutung. Aber man muss aufpassen, dass sich das nicht verselbständigt und andere Motivationen für den Naturschutz keine Rolle mehr spielen.“
Das Konzept der Ökosystemleistungen habe Eingang in die internationale umweltpolitische Agenda gefunden. Es sei ein wichtiges Thema zwischenstaatlicher Übereinkommen, wie der Konvention über die biologische Vielfalt, und spiele auf europäischer Ebene in der Biodiversitätsstrategie eine bedeutende Rolle, so die Analyse des Umweltbundesamtes im Jahr 2015. Das Ringen um Maßnahmen zur Umsteuerung in Politik und Wirtschaft zeigt jedoch, wie schwierig es ist, das Konzept in der Praxis zu nutzen.
MARTIN GÖTZL
Dr. Martin Götzl ist Biologe und als Leiter von Projekten im Fachbereich Biodiversität am Umweltbundesamt tätig. Er hat in den vergangenen Jahren u. a. zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Landnutzung und Ökosystemleistungen geforscht und an Empfehlungen zu Indikatoren für Ökosystemleistungen gearbeitet.
THOMAS WRBKA
Ass.-Prof. Dr. Thomas Wrbka lehrt und forscht am Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien und ist Mitglied des Österreichischen Biodiversitätsrats. Zu seinen Fachgebieten zählen Vegetations- und Landschaftsökologie, Biodiversitätsmonitoring, Naturschutz und Schutzgebietsmanagement.
CHRISTINE ROTTENBACHER
Die Landschaftsökologin Dipl.-Ing.in Dr.in Christine Rottenbacher führt ein Büro für Landschaftsplanung und Landschaftsarchitektur. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität für Weiterbildung Krems, wo sie den Lehrgang „Ökologisches Garten- und Grünraummanagement“ leitet.
KURT JAX
Prof. Dr. Kurt Jax war bis 2021 stv. Leiter des Departments Naturschutzforschung am Helmholtz- Zentrum für Umweltforschung in Leipzig und ist Professor für Ökologie an der Technischen Universität München. Jax war einer der Koordinatoren des EU-Projektes Open-NESS, das sich mit der Umsetzung von Ökosystemdienstleistungen auseinandersetzte.
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