Um Maßnahmen gegen die komplexen Probleme der Ernährungssicherheit zu entwickeln, braucht es transdisziplinäre Zusammenarbeit. Der Innovations- und Systemwissenschafter Gerald Steiner und der Nährstoffforscher Kaushik Majumdar bemühen sich seit Jahrzehnten darum, Fachgrenzen zu überwinden und Akteure aus der Praxis stärker einzubinden.
Interview: Tanja Traxler
upgrade: Der Hunger auf der Welt war immer schon eines der größten Probleme der Menschheit. Aktuelle Krisen verschärfen die Situation zusätzlich – was sind aus Ihrer Sicht derzeit die drängendsten Probleme bei der Ernährungssicherheit weltweit?
Kaushik Majumdar: Die Ernährungssicherheit war schon immer eine Herausforderung. Es scheint, als ob wir mit allen technologischen und anderen Verbesserungen immer hinterherhinken. Man hat immer wieder den Eindruck, als sei die Ernährungssicherheit fast zum Greifen nahe. Aber dann geschieht so etwas wie die Corona-Pandemie oder eine politische Krise, und die Lage wird wieder prekär. Die aktuelle Situation ist, dass viele Millionen Menschen aufgrund der globalen Krisen an Hunger leiden. Gleichzeitig zeigen Studien, dass wir ausreichend Nahrungsmittel für zehn Milliarden Menschen produzieren. Das Problem ist also die Verteilung und der Zugang zu Nahrungsmitteln. Es gibt viele Aspekte, die wir in Angriff nehmen müssen, wenn wir jemals eine sichere Ernährungslage für die gesamte globale Familie erreichen wollen.
Gerald Steiner: Es geht zunächst einmal darum, die Komplexität der Ernährungssicherheit zu verstehen und auch deren Verflechtung mit den relevanten anderen Aspekte des Lebens wie etwa Ressourcenverfügbarkeit, Biodiversitäts-Herausforderungen und Klimawandel. Wir sprechen sehr oft über Interventionen, es wäre aber viel wichtiger, an einem tiefen Verständnis der gegenseitigen Abhängigkeiten und wechselseitigen Zusammenhänge zu arbeiten, um das gesamte System zu verstehen. Erst mit so einem Big Picture kann darüber nachgedacht werden, welche Auswirkungen verschiedene Interventionen haben würden. D.h. das Systemverständnis ist die Basis für zielführende Entscheidungen und Interventionen. Gerade in heutiger Zeit, wo unterschiedlichen Krisen im Sinne einer Polykrise sich gegenseitig beeinflussen und teils verstärken, zeigt sich wie essenziell das Verständnis dieser Systemkoppelungen ist. Ein klarer Auftrag an uns als Universität.
Die Produktion von Lebensmitteln ist auch eng mit ökologischen Fragen verbunden. Wie kann globale Ernährungssicherheit in einer ökologisch verträglichen Weise erreicht werden?
Gerald Steiner: Wenn wir ein nachhaltiges Lebensmittelsystem anstreben, ist mir wichtig zu betonen, dass es sich dabei nicht um einen statischen Zeitpunkt handelt, sondern um eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Management von System- und Adaptionskapazitäten. Das ist ein Kernkonzept, das nicht nur für unsere Generation von Bedeutung ist, sondern auch für zukünftige Generationen. Es geht also auch um Generationengerechtigkeit. Und damit wird auch deutlich, wie wichtig es ist, genau zu verstehen, was vor sich geht, wo die Engpässe sind, welche Anpassungskapazitäten wir haben und was wir tun können, um beispielsweise diese Kapazitäten zu stärken. Hier kommt Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen eine große Bedeutung zu. Um auf das Beispiel zurückzukommen, das Kaushik Majumdar zuvor erwähnt hat – den Umgang mit Verteilungsungleichheiten bezüglich Lebensmittelverteilung inklusive dem Umgang mit Lebensmittelabfällen: Wir müssen uns etwa die Frage stellen, inwiefern die Lebensmittelverschwendung in direktem Zusammenhang mit der Anpassungsfähigkeit des gesamten Systems steht. Das heißt eine nachhaltige Lebensmittelversorgung erfordert gleichzeitig das systemische Beschäftigen mit dem Phänomen Hunger wie auch Fettleibigkeit inklusive gesellschaftlicher und globaler Ungleichheiten.
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„Gerade heute, wo sich Krisen im Sinne einer Polykrise gegenseitig beeinflussen und verstärken, zeigt sich, wie essenziell das Verständnis dieser Systemkoppelungen ist. Ein klarer Auftrag an uns als Universität.“
Gerald Steiner
Kaushik Majumdar: Im Zentrum meiner Forschung steht Phosphor, der eine endliche Ressource und ein äußerst wichtiger Nährstoff ist. Wenn es um Nachhaltigkeit geht, fällt mir auf, dass es in diesem Forschungsfeld drei Gruppen gibt: Eine Gruppe befasst sich mit der Frage, wie die endliche Ressource Phosphor weltweit genutzt werden kann, wobei die meisten Vertreter_innen dieser Gruppe sagen, dass Phosphor in den nächsten 30, 50 oder hundert Jahren erschöpft sein wird. Eine andere Gruppe von Wissenschaftler_innen aus dem globalen Norden ist der Ansicht, dass Phosphor – etwa mit Bezug auf Grundwasserbelastung aufgrund von Überdüngung von Böden – ein enormer Schadstoff ist und sein Einsatz reduziert werden muss. Und dann gibt es eine dritte Gruppe von Forschenden, hauptsächlich aus dem globalen Süden, die sagt, dass der Phosphorverbrauch erhöht werden muss, um die Welt zu ernähren. Interessant sind die Verbindungen zwischen ihnen: Alle drei Gruppen arbeiten auf eine nachhaltige Nutzung von Phosphor hin. Allerdings tun sie dies auf sehr unterschiedliche Weise, wahrscheinlich aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer Herkunft und ihres jeweiligen Hintergrunds. Sie alle streben Nachhaltigkeit an, aber keiner arbeitet mit dem anderen zusammen. Das ist der schwierige Teil der Gleichung: Jeder arbeitet in seinem eigenen Silo und hat keine Verbindung zu den anderen, obwohl sie eigentlich am selben Ziel arbeiten.
Wie könnte die Zusammenarbeit dennoch gelingen?
Kaushik Majumdar: Es ist wichtig zu verstehen, dass Nachhaltigkeit nicht in der Verantwortung einer Gruppe von Menschen liegt. Eine ganze Reihe von Akteur_innen ist daran beteiligt, wenn Nachhaltigkeit gelingen soll. Zum Beispiel Landwirte zu bitten, die Phosphatnutzung zu reduzieren, um Nachhaltigkeit zu fördern, ist daher der falsche Ansatz. Alle müssen daran beteiligt sein, angefangen bei den Herstellern von Phosphatdünger, über die Verarbeitung bis hin zum Landwirt und dem Verbraucher der Lebensmittel. Für den effizienten und nachhaltigen Phosphateinsatz müssen alle zusammenarbeiten. In der gesamten Versorgungskette müssen Lücken geschlossen werden, wenn wir wirklich eine nachhaltige Nutzung von Düngemitteln anstreben. Es gibt keine singuläre Lösung für ein so komplexes Problem, bei dem so viele geopolitische Faktoren eine Rolle spielen. Wir alle müssen dazu beitragen. Aber um diese komplexen Lösungen zu erarbeiten, müssen wir interdisziplinär zusammenarbeiten.
Sie beide sind an zahlreichen trans- und interdisziplinären Initiativen beteiligt. Welche Herausforderungen ergeben sich bei der Zusammenarbeit jenseits der Fachgrenzen und gemeinsam mit sozialen Akteur_innen?
Gerald Steiner: All das hat angefangen mit der Philosophie, dass wir nicht Teil einer ignoranten Wissenschaftsgemeinschaft sein wollten, die in ihrem Elfenbeinturm denkt. Stattdessen ist es uns wichtig, uns bewusst zu machen, dass zum Beispiel unsere Partner_innen aus der Praxis ein unglaubliches Wissen haben und wir nicht nur mit Leuten mit akademischem Hintergrund und Doktortiteln zusammenarbeiten. So kann zum Beispiel ein Kleinbauer ein Experte sein, weil er sieht, wie vor Ort Landwirtschaft betrieben wird, in welcher Weise Dünger auf einem bestimmten Acker unter bestimmten lokalen Gegebenheiten und Bewuchs-Charakteristik eingesetzt werden muss. Und deshalb braucht man ein bestimmtes Prozessdesign und Methoden, um die verschiedenen Expertisen zusammenzuführen. Konkret betrachten wir also die Lieferkette, sehen uns verschiedene Etappen entlang der Lieferkette an und sind uns immer bewusst, dass wir es mit einem transdisziplinären Umfeld zu tun haben. Praxis und Wissenschaft arbeiten zusammen, wobei es um die Verschränkung von Expert_innenwissen aus "beiden Welten" geht. Dieser Ansatz hat auch zur Gründung des Transdisziplinären Laboratoriums für Sustainable Mineral Resources an der Universität für Weiterbildung Krems geführt.
Kaushik Majumdar: Das ist ein sehr wichtiger Punkt: Es mag unglaublich erscheinen, dass Forscher_innen jahrelang an Problemen arbeiten, schließlich Lösungen finden, doch wenn diese Lösungen zum Einsatz gebrachten werden sollen, werden sie von den Landwirten nicht akzeptiert. Wie kann das sein? Lösungen zu erarbeiten ohne Kontextwissen und Verständnis der Verbraucherbedürfnisse ist nicht der beste Weg. Tatsächlich ist das eine große Herausforderung geworden und wir haben daher eine internationale Gruppe gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hat, nicht mit fertigen Lösungen an Landwirte heranzutreten, sondern die Lösungen gemeinsam mit ihnen vor Ort auf der Farm zu erarbeiten. Auf diese Weise kann jeder die Fähigkeiten einbringen, die er hat. Die so entwickelten Lösungen werden dann viel eher von allen Akteur_innen akzeptiert.
Wie können die Herausforderungen, die sich bei der transdisziplinären Arbeit ergeben, gemeistert werden?
Gerald Steiner: Wichtig ist, dass wir Akteur_innen auf verschiedenen Systemebenen dafür ausbilden. Es geht darum, dass wir ein Verständnis für die Systeme, Krisen und mögliche Interventionen für die zukünftige Entwicklung erarbeiten. Eine Schlüsselfrage ist dabei, wie man wichtiges und relevantes Wissen integrieren kann, um diese dringenden und enormen Herausforderungen für die Gesellschaft zu bewältigen. Es geht nicht nur um Worte, es geht um klar zu definierende Vorhaben und vor allem um eine gemeinsame Vision.
GERALD STEINER
Univ.-Prof. Dr. Gerald Steiner ist Professor für Organisationskommunikation und Innovation an der Universität für Weiterbildung Krems sowie Principal Investigator des Global Phosphate Data and Knowledge Hub, einer gemeinsamen Initiative des Transdisciplinarity Laboratory Sustainable Mineral Resources der Universität und des Global Phosphate Institute.
KAUSHIK MAJUMDAR
Dr. Kaushik Majumdar leitet das Global Phosphorus Institute (GPI) und ist Direktor des African Plant Nutrition Institute in Marokko. Davor war er in leitender Position beim International Plant Nutrition Institute (IPNI) tätig und erarbeitete zahlreiche Publikationen und Entscheidungstools zum Themenfeld Düngemittel.
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