Digital Leadership ist spätestens seit den Lockdowns nicht mehr nur ein Thema für Start-ups und digitale Unternehmen. Das stellt viele Führungskräfte vor Herausforderungen: Sie müssen mehr denn je auf Vertrauen statt Kontrolle setzen, klar priorisieren – und sie sollten experimentierfreudig sein.

Von Alexandra Rotter

Als 2020 die Mehrzahl der Erwerbstätigen nach Ausrufung der Lockdowns von einem Tag auf den anderen zuhause bleiben musste, konnte ihre Arbeit nur noch digital bewältigt werden. Das forderte von Mitarbeiter_innen und von Führungskräften gleichermaßen eine enorme Umstellung: Führung, wie sie bekannt war, gab es von heute auf morgen nicht mehr. Teams waren schwer greifbar und sämtliche Kommunikation lief über virtuelle Kanäle.

Nikolai Neumayer, Leiter des Lehrgangs Lean Operations-Management an der Universität für Weiterbildung Krems, erinnert sich: „Digitale Führung gab es in meiner Welt als Führungskraft nicht, bis wir im März 2020 ins Home Office katapultiert wurden.“ In seinem Umfeld hatten vor der COVID-19-Pandemie im Wesentlichen nur Forschende teils über die Distanz gearbeitet. Dann setzte ein Kulturwandel ein, der Spuren hinterließ: Jetzt ist Home Office nicht mehr einem kleinen Personenkreis vorbehalten, sondern kann von allen Mitarbeiter_innen in Anspruch genommen werden. Neumayers Mitarbeiter_innen können das an bis zu zwei Tagen die Woche tun. Auch physische Meetings gibt es kaum noch – eine Ausnahme ist etwa die Weihnachtsfeier.

Bessere Stimmung und Effizienz

Letztlich habe das laut Neumayer aber einige Verbesserungen gebracht. So seien Regelmeetings viel effizienter geworden und die Stimmung im Team habe sich deutlich verbessert. Aber nicht alles ist einfacher: „Solange es allen im Team gut geht, ist Digital Leadership wunderbar. Aber die Gefahr ist größer, etwas zu übersehen, zum Beispiel, wenn es in der Familie eines Mitarbeiters ein Problem gibt.“ Führungskräfte, die „die digitale Tür“ zumachen, würden riskieren, ihre Fürsorgepflicht gegenüber Mitarbeiter_innen zu vernachlässigen, weil dann der informelle Austausch fehlt. Auch erste Kontakte, sei es in der Akquise oder im Recruiting, hätten rein digital eine andere Qualität. Die Reduktion von Dienstreisen hingegen sieht Neumayer eindeutig positiv – für Mitarbeiter_innen, Organisationen und Umwelt.

Laut Eva Maria Bauer, die – ebenfalls an der Universität für Weiterbildung Krems – den MBA-Lehrgang „Communication and Leadership“ leitet, ist Digital Leadership nicht mehr nur auf Start-ups und digitale Unternehmen bezogen, sondern beinhaltet allgemein Aufgaben und Werkzeuge der Führung in Zeiten der Digitalisierung. Bauer verweist auf den Begriff „Leadership 4.0“, der oft synonym zu digitaler Führung verwendet wird. Die Forschung beschäftigt sich etwa seit 2008 mit Digital Leadership.

Kontrolle versus Vertrauen

Bauer weist darauf hin, dass Digital Leadership weit weg von traditionellen Führungsstilen ist, wie sie etwa Max Weber definiert hat, darunter hierarchisches, bürokratisches oder patriarchales Führen – diese gingen von der Präsenz aller Beteiligten aus. Während Führungskräfte lange in erster Linie für die Kontrolle der Mitarbeiter_innen zuständig waren, wächst im Digital Leadership deren Freiheit. Dabei steigt die Notwendigkeit gegenseitigen Vertrauens. Bauer: „Um Vertrauen und Kontrolle in der Waage zu halten, müssen sich Mitarbeiter und Führungskräfte auf gemeinsame Rahmenbedingungen einigen – gerne auch schriftlich.“

Unabdingbar sei Kommunikation, denn damit Digital Leadership gelingt, müsse klar sein, was die gemeinsame Vision und Strategie ist und wie die Rahmenbedingungen aussehen. Bauer: „Es muss vereinbart werden, wann die Kernarbeitszeit ist bzw. wann man im Home Office erreichbar ist und wann man sich zurückziehen kann. Dabei helfen digitale Tools wie ein gemeinsamer Kalender oder ein digitaler Raum, wo man angibt, ob man verfügbar, in Besprechung oder abwesend ist.“ Eine der wichtigsten Kompetenzen von Führungskräften im Digital Leadership sei, selbst sehr strukturiert zu sein.

Volatil, unsicher, komplex

Die digitalen Möglichkeiten tragen dazu bei, dass die Zeiten immer volatiler, unsicherer, komplexer und mehrdeutiger werden – auch unter dem Begriff VUCA bekannt (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity). Unter diesen Umständen macht eine langfristige Strategie immer weniger und agiles Führen immer mehr Sinn. 

Eva Maria Bauer

„Um Vertrauen und Kontrolle in der Waage zu halten, müssen sich Mitarbeitende und Führungskräfte auf gemeinsame Rahmenbedingungen einigen.“

Eva Maria Bauer

Bauer verweist auf die Möglichkeit, VUCA umzudeuten: „Indem man die Abkürzung als Vision, Understanding, Clarity, Agility liest, kommt man von der negativen Deutung in eine positive.“ Außerdem könne der VUCA-Welt mit dem VOPA-Modell begegnet werden, also mit Vernetzung, Offenheit, Partizipation und Agilität. Und schließlich sei auch das bewährte SMART-Modell – es setzt auf die Kriterien Specific, Measurable, Achievable Reasonable und Time-bound – ein vielversprechender Ansatz, wie Führungskräfte im Digital Leadership mit Mitarbeiter_innen umgehen können. Bauer: „Dieser Führungsstil ist spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert, und genau das sollten die Kompetenzen der Führungskräfte im Digital Leadership sein.“

Laut Maria Stipper, früher Personalleiterin in IT-Unternehmen und heute selbst auf Human Resources und New Work spezialisierte Unternehmerin, erfordert Agilität Kundenzentriertheit, und das nicht nur in der Entwicklung – selbst Mitarbeiter_innen sollten als Kund_innen betrachtet werden: „Das wird immer notwendiger: In den 50er Jahren haben sich die Arbeitnehmer vor den Arbeitgebern verbeugt. Mittlerweile ist es fast umgekehrt.“ Wer heute digital führt, muss laut Maria Stipper vor allem zwei Dinge beherrschen: Priorisieren und experimentieren. Priorisieren heißt, klar zu entscheiden und gut zu kommunizieren, was etwa in den nächsten zwei Wochen am wichtigsten sein wird.

Identifikation und Zusammenhalt

Experimentieren ist notwendig, um rasch und laufend in kleinen Schritten dazuzulernen. Stipper nennt ein Beispiel: „Jede Führungskraft kann auf kleiner Ebene etwas Neues ausprobieren, zum Beispiel in Meetings – egal ob digital oder analog.“ Meetings seien ein „unglaublich mächtiges Führungsinstrument“. So haben etwa während der Lockdowns viele Firmen einen digitalen Kaffeeklatsch ausprobiert. Ein anderes Beispiel ist, Meetings mit einem informellen Check-in zu starten. Das bewährt sich etwa für Stipper selbst, die in einem sechsköpfigen Team ohne physisches Büro arbeitet: „So weiß ich von jeder Person, wenn das Kind gerade krank ist. Das stärkt den Zusammenhalt und die Identifikation mit dem Unternehmen – und das wird im Digital Leadership immer wichtiger.“

Im digitalen Zeitalter haben nicht mehr nur Konzerne und IT-Unternehmen verstreute Teams. Da Unternehmen händeringend nach guten und verlässlichen Arbeitskräften suchen, bieten viele dem Personal Home Office und Workation, Arbeit an Urlaubsorten, an. Elon Musk sorgt dagegen für Schlagzeilen, wenn er seinen Mitarbeiter_innen ins Home Office schreibt: „Wenn Sie nicht erscheinen, gehen wir davon aus, dass Sie gekündigt haben.“ Stipper sagt dazu: „Auch wenn es für Führungskräfte herausfordernd ist, kann es sich kaum ein Unternehmen leisten, vom Home Office abzukommen.“

Sinnstiften als Führungsaufgabe

Stipper sieht viel Potenzial in der digitalen Führung: „Die Digitalisierung ist weder gut noch schlecht. Es ist nur wichtig, ihre Chancen zu nutzen.“ Die Rolle der Führungskräfte habe sich schon jetzt gewandelt: „Während sich Führen früher vor allem um Zeit und Aufgaben drehte, geht es beim digitalen Führen in erster Linie um Ziele und Ergebnisse.“ Digital Leadership und New Work, was aus ihrer Sicht zusammengehört, verlangen dem Management neue Fähigkeiten ab: „Heute müssen Führungskräfte in Netzwerken denken und vor allem Beziehungsmanager, Sinnstifter und Influencer sein.“ Stipper blickt gespannt in die Zukunft: Vielleicht wird ja das Metaverse einen ähnlich großen Shift bringen wie Corona. Einen konkreten Shift wird es sicher geben, nämlich bei Abwesenheitsnotizen: „Da wird künftig drinstehen: Ich bin heute im Büro. Ihre Mails beantworte ich morgen aus dem Home Office.“


EVA MARIA BAUER
Mag.a Dr.in Eva Maria Bauer ist Leiterin des MBA-Lehrgangs „Communication and Leadership“ am Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement der Universität für Weiterbildung Krems. Sie forscht zu Communication and Leadership, Case Studies und Familienunternehmen.

MARIA STIPPER
Mag.a (FH) Maria Stipper MSc, MBA ist selbständige HR-Expertin, Co-Creator im Bereich New Work und Unternehmensgründerin in Wien. Die Vortragende an der Universität für Weiterbildung Krems beschäftigt sich mit HR, Führung und Change im New-Work-Umfeld und war zuvor viele Jahre Personalleiterin.

NIKOLAI NEUMAYER
Mag. Dr. Nikolai Neumayer ist stellvertretender Leiter des Departments für Wissens- und Kommunikationsmanagement der Universität für Weiterbildung Krems und leitet dort auch den Universitätslehrgang Lean Operations Management. Er forscht zu Prozess- und Qualitätsmanagement.


WISSENSWERTES

In Verbindung mit der Erfordernis flexibler Managementmodelle beschäftigt sich die Forschung verstärkt in den vergangenen Jahren mit dem Einfluss digitaler Arbeits- und Kommunikationstools auf Führung. Einer der maßgeblichen Vertreter ist Prof. Dr. Utho Creusen, Katholische Universität Eichstätt/Ingolstadt und Programmdirektor für Digital Leadership Management School St.Gallen.

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