Komplexitätsforschung und Netzwerkanalyse sind wichtig, um das Zusammenspiel von Informationen und neuerdings gesellschaftliche Auswirkungen von Verschwörungserzählungen zu erforschen.
Von Alois Pumhösel
Fake News auf Social Media, die Ausbreitung einer Viruserkrankung in der Bevölkerung oder ungeahnte Auswirkungen des Klimawandels – keines dieser Probleme lässt sich ohne ein Verständnis von komplexen Netzwerken auch nur annähernd erfassen. Die Werkzeuge der Netzwerkanalyse werden unter anderem dort zu wichtigen Hilfsmitteln, wo ein gemeinsames Agieren von Menschen näher betrachtet werden soll: die Zusammenarbeit in Unternehmen, das Wahlverhalten in einer Demokratie oder sogar das Agieren der gesamten Menschheit, die ihre eigene Weiterentwicklung organisiert. Wissenschaftler_innen betrachten Individuen oder Gruppen von Menschen dabei niemals isoliert, sondern untersuchen, wie diese – als Akteur_innen innerhalb eines Netzwerks – miteinander verbunden sind. Sie entwickeln Szenarien, die mögliche Zukunftsperspektiven eröffnen, oder geben Hinweise, wie man in reale Zusammenhänge eingreifen kann, um einen möglichst großen Effekt zu erzielen.
Lukas Zenk ist einer der Forschenden, die diese Arbeit im Bereich der sogenannten sozialen Netzwerkanalyse leisten. Der Wissenschaftler an der Universität für Weiterbildung Krems fokussiert unter anderem auf das Betrachten von Unternehmen und Organisationen als Netzwerke. „Manager_innen achten bei der Weiterentwicklung ihrer Organisationen auf formale Strukturen. Für sie sind Funktionen, Abteilungen und Hierarchien wichtig“, erklärt Zenk. „Wir nutzen die soziale Netzwerkanalyse, um Organisationen wie mit einem Röntgenblick zu durchleuchten. Dabei kommen auch die informellen Strukturen zutage. Also: Wer spricht mit wem vor Entscheidungen? Wer kennt Leute aus anderen Abteilungen? Welche Kolleg_innen unterstützen andere bei schwierigen Situationen?“, gibt Zenk Beispiele. „Die zugrundeliegenden Daten werden in Fragebögen gesammelt. Aus den resultierenden Modellen kann etwa abgelesen werden, wie tatsächlich informell miteinander gearbeitet wird, welche Gruppenbildungen über die Zeit entstehen und wer als sogenannte Broker_in eine vermittelnde Position zwischen verschiedenen Gruppen hat.“
Hat man diese „Landkarte“ der Informationsflüsse vor Augen, wird schnell klar, wo innerhalb einer Organisation zu wenig kommuniziert wird, wo informelle Gruppenbildungen einem effizienten Arbeitsablauf förderlich sind oder wo sie im Weg stehen. Ein Anwendungsbereich der Analysemethode liegt etwa bei Unternehmen, die im Zuge einer Fusion aus zwei Vorgängerorganisationen entstanden sind, sagt Zenk. „In diesen Fällen bestehen selbst nach Jahren oft noch zwei Unternehmenskulturen parallel unter einem Dach. Die Analyse zeigt hier, wo die Zusammenarbeit der fusionierten Belegschaft gut und wo sie weniger gut klappt.“
Persönlichkeitsmerkmale von Verschwörungsgläubigen
Bei der Betrachtung von Informationsflüssen auf gesellschaftlicher Ebene ist heute die Ausbreitung von Falschinformationen und Verschwörungserzählungen – etwa zur Corona-Pandemie – auf Social Media ein wichtiges Analysethema. Immerhin tragen diese Phänomene auch zu einer Erosion demokratischer Systeme bei. Zenk und sein Team haben in einer Studie etwa erhoben, inwiefern das Teilen von Verschwörungserzählungen an bestimmte Persönlichkeitsmerkmale gebunden ist. Die Ergebnisse bestätigen die Annahme, dass Bildung und das eigene Netzwerk wichtige Einflussfaktoren sind: „Es zeigt sich, dass der Hang zu Verschwörungserzählungen besonders bei Menschen ausgeprägt ist, die nicht geschult sind, komplex zu denken, sondern auf stark vereinfachte Vorstellungen zurückgreifen. Zusätzlich war die Ausprägung bei Personen höher, die sich selbst nicht impfen ließen und in einem Freundschaftsnetzwerk eingebunden waren, das nicht geimpft war“, sagt Zenk. „Betroffene zeigen aber auch geringeren Optimismus und ein geringeres Vertrauen in Institutionen. Verschwörungserzählungen als simplifizierte Erklärungen sind letztlich ein Ausdruck der Suche nach vermeintlicher Sicherheit und Kontrolle in einer komplexen Welt.“
Die Analyse der Informationsweitergabe in sozialen Netzwerken wird aber auch in vielen wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen genutzt. Unternehmen versuchen etwa herauszufinden, in welche Influencer_innen sie investieren sollen, um die Reichweite ihrer Marketingmaßnahmen zu maximieren. „Von der Art, wie sich Information durch die sozialen Netzwerke fortpflanzt, kann darauf zurückgeschlossen werden, wie professionell die Quelle ist – was auch bei der Einschätzung der Herkunft von Falschmeldungen relevant ist“, beschreibt Stefan Thurner in diesem Zusammenhang. Der Komplexitätsforscher und Leiter des Complexity Science Hub Vienna (CSH) war in den vergangenen Jahren durch Analysen zur Corona-Pandemie in zahlreichen Medien vertreten. In einem Projekt untersuchen Thurner und sein Team den Einfluss von Social Media auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
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„Soziale Netzwerkanalyse durchleuchtet informelle Strukturen von Organisationen wie mit einem Röntgenblick. Zum Beispiel: Wer spricht mit wem vor Entscheidungen?“
Lukas Zenk
„Uns interessiert dabei die Fragmentierung und Polarisierung, die durch das kommunikative Umfeld der digitalen Medien entsteht“, erklärt Thurner. Gruppenbildungen sind auf Facebook und Co denkbar einfach. Ist man mit der Dynamik in einer Onlinegruppe nicht einverstanden, wechselt man einfach in die nächste. Das führt auch dazu, dass andere Gruppen mit abweichenden Meinungen und Interessen oft als feindlich betrachtet werden. Zudem werden Broker_innen, die eine Brückenfunktion zwischen verschiedenen Gruppen einnehmen, seltener. Die Fragmentierung nimmt zu. „Der Austausch zwischen verschiedenen Gruppen ist aber eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie“, betont Thurner. „Wir untersuchen, wo die Kipppunkte in diesem Netzwerk liegen, und gehen der Frage nach, ab wann diese Fragmentierung zur ernsthaften Gefahr für unser demokratisches System wird.“
Suche nach Maßnahmen gegen den Klimawandel
Doch nicht nur die Dynamik von menschlichen Gesellschaften, sondern auch die Frage, wie die gesamte Menschheit mit dem Erdsystem interagiert, kann im Rahmen der Netzwerkanalyse und Komplexitätsforschung dargestellt werden. Gerade in Hinblick auf den Umgang mit dem Klimawandel ist dieser Ansatz relevant. Manfred Laubichler forscht als Global Futures Professor und President’s Professor für Theoretische Biologie und Geschichte der Lebenswissenschaften an der Arizona State University in den USA in diesem Bereich. „Wir beginnen, die natürlichen Prozesse der Erderwärmung langsam zu verstehen. Das größere Problem ist, dass wir es als menschliche Gesellschaft nicht schaffen, wirksame Maßnahmen zu ergreifen“, erklärt der aus Österreich stammende Wissenschaftler, der in Wien, Yale und Princeton studierte.
„Das Ziel ist also, die Komplexität der eng verknüpften sozialen, politischen und ökonomischen Prozesse zu durchschauen. Auf diese Weise könnten dann Interventionspunkte identifiziert werden, um Gesetze, Incentives oder Fördersysteme anzupassen.“ Ignoriert man diese komplexen Dynamiken, besteht die Gefahr, dass bei Interventionen auch immer unbeabsichtigte Auswirkungen entstehen. Die Schwierigkeit ist, eine adäquate Abstraktion des Netzwerks unserer Gesellschaft zu finden. Nur jene Prozesse, die wesentliche Bedeutung im Zusammenhang mit dem Klimawandel haben, sollen für eine Analyse zusammengefasst werden.
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„Der Austausch verschiedener Gruppen ist Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Wir untersuchen die Kipppunkte und fragen, ab wann Fragmentierung zur ernsthaften Gefahr wird.“
Stefan Thurner
Laubichler fasst in seinen Analysen das gemeinsame Wachstum von Bevölkerung, Wissen und Energieflüssen weltweit seit den Anfängen der Landwirtschaft vor 10.000 Jahren zusammen. Dafür hat er den Begriff der „Anthropocene engine“ geprägt. Er beschreibt dabei die Menschheit als Teil eines Entwicklungssystems, dessen von Wissenserwerb getriebenes, exponentiell zunehmendes Wachstum immer wieder von Rückkopplungseffekten – Kriegen, Pandemien oder Naturkatastrophen wie dem Klimawandel – gebremst wird. „Die Herausforderung ist, diese brutalen Arten der Rückkopplung mit regulatorischen Prozessen zu ersetzen. Wir brauchen Regularien, die ein exponentielles Wachstum, das zu Krieg und Krankheit führt, verhindern“, resümiert Laubichler. Es bleibt abzuwarten, ob das „Netzwerk Menschheit“ zu diesem hohen Grad an Selbstorganisation fähig ist.
LUKAS ZENK
Mag. Dr. Lukas Zenk ist Assoziierter Professor für Innovations- und Netzwerkforschung an der Universität für Weiterbildung Krems, wo er am Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement forscht. Er wirkt u. a. im Transatlantic Research Lab on Complex Societal Challenges mit.
STEFAN THURNER
Univ.-Prof. Dr. Stefan Thurner ist Leiter des Complexity Science Hub Vienna (CSH). Der Komplexitätsforscher hält eine Professur an der Medizinischen Universität Wien, wo er die Abteilung für die Wissenschaft komplexer Systeme leitet.
MANFRED LAUBICHLER
Prof. Dr. Manfred Laubichler ist Global Futures Professor und President’s Professor für Theoretische Biologie und Geschichte der Lebenswissenschaften an der Arizona State University. Er wirkt u. a. am Complexity Science Hub Vienna mit und ist Mitglied im Transatlantic Research Lab on Complex Societal Challenges der Universität für Weiterbildung Krems.
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