Die Psychologie des Fehlers und der Umgang damit: ein erst junger Gegenstand der Wissenschaft. „Adaptive Anpassung, „Fehlerkultur“ oder „psychologische Sicherheit“, für den Gesundheitssektor sind diese Begriffe besonders relevant.

Von Michaela Endemann-Wright

Schon kleine Fehler können gravierende Auswirkungen haben. Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht davon, dass etwa 10 Prozent der Fehler Schäden verursachen, ein Drittel davon wäre vermeidbar. Die Sicherheit der Patient_innen sollte oberste Priorität haben und bei allen Aspekten der Arbeit berücksichtigt werden. Doch das Gesundheitspersonal arbeitet oft am Limit. Stress, Burnout und Sucht nehmen zu, innere Kündigung und Berufswechsel sind die Folge. Starke Hierarchien und Hochmut können dazu führen, dass Fehler vertuscht, statt offen angesprochen werden. So sagt Doris Behrens, Leiterin des Departments für Wirtschaft und Gesundheit an der Universität für Weiterbildung Krems: „In einem hierarchischen und zumeist risikoaversen System ist eine offene und wertschätzende Atmosphäre, die eine lernende Organisation auszeichnet, kaum anzutreffen“. Brigitte Ettl, Präsidentin der Plattform Patientensicherheit und früher Ärztliche Direktorin der Klinik Hietzing sowie Leiterin des Karl Landsteiner Instituts für Klinisches Risikomanagement: „Man weiß, dass es Ereignisse gibt, die durch präventive Maßnahmen verhindert werden könnten, aber dazu gehört die Schaffung von Prozessen, um Fehler zu vermeiden und ein Umfeld, in dem Mitarbeitende sich sicher fühlen, Fehler zu melden, an der Verbesserung von Prozessen teilzunehmen, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen“.

Fehler werden nicht absichtlich gemacht, und diejenigen, denen Fehler unterlaufen, sind emotional und psychologisch betroffen. Diese „Second Victims“ können unter erheblichem Stress, Schuldgefühlen und sogar Burnout leiden oder in eine Sucht abgleiten. Der amerikanische Arzt Albert Wu prägte im Jahr 2000 als erster den Begriff „Second Victim. Seit 2022 bezeichnet die weltweit erste evidenzbasierte Definition des Begriffs, die vom European Researchers' Network Working on Second Victims verabschiedet wurde, als Second Victim „jeden Angehörigen der Gesundheitsberufe, der direkt oder indirekt an einem unerwarteten unerwünschten Ereignis, einem unbeabsichtigten Fehler in der Gesundheitsversorgung oder einer Verletzung eines Patienten beteiligt ist und in dem Sinne zum Opfer wird, dass er ebenfalls negativ betroffen ist"[1]. Seit rund drei Jahren macht die Plattform Patientensicherheit mit Vorträgen in Gesundheitseinrichtungen auf das Thema aufmerksam. „Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass die Menschen froh sind, einem Phänomen, das sie kennen, einen Namen zu geben“, so Ettl.

Wenig Aufmerksamkeit wurde dabei bisher jenen Personen gewidmet, die Personaluntersuchungen und Disziplinarverfahren durchführen oder leiten, wie eine Umfrage des NHS Wales 2023 am Rande des HARM-Projekts zeigt, das Disziplinarverfahren im Gesundheitswesen optimieren möchte (siehe Artikel „Stressfrei zum Verfahren“). Erste Ergebnisse, so Walter Hyll, Universität für Weiterbildung Krems, zeigten, dass nicht nur Betroffene von Disziplinarverfahren negativ beeinflusst würden, sondern auch diejenigen, die sie durchführen, unabhängig ihrer Erfahrung.

Sucht als Ventil

Eng verbunden mit einem nicht optimalen Betriebsklima, ständiger Angst und Arbeiten am Limit ist die Sucht. So sind etwa fünf Prozent der Beschäftigten in Österreich nach Daten der Gesundheit Österreich alkoholkrank, weitere 350.000 konsumieren Alkohol in gesundheitsschädigendem Ausmaß. Auch der Drogenkonsum ist nicht zu vernachlässigen. Themen, die gerade im Gesundheitssystem eine Herausforderung sind. Ein wenig bekannter Zusammenhang: 30 Prozent der von Burnout Betroffenen haben auch ein Suchtproblem. Chronischer Stress und psychische Belastungen, auch im privaten Bereich, erhöhen die Anfälligkeit für die Entwicklung von Suchterkrankungen, die multifaktoriell zu sehen sind. Claudia Caruso, Lehrgangsleiterin an der Universität für Weiterbildung Krems: „Sucht wächst im Verborgenen. Suchtkranke verharmlosen und haben Angst, stigmatisiert zu werden. Das verhindere eine offene Kontaktaufnahme. Besser sei es, zunächst die Auffälligkeiten anzusprechen und Vertrauen aufzubauen. „Wichtig sind schnelle Hilfe und Ansprechpartner, sowohl für die Betroffenen als auch für Mitarbeiter, denen etwas auffällt, sagt Caruso: „Wenn das gelungen ist, kann ein verbindlicher Stufenplan unter Einbeziehung aller Beteiligten wie Geschäftsführung, Betriebsrat oder Arbeitsmedizin umgesetzt werden. Ziel ist es, die Mitarbeiter_innen im Unternehmen zu halten. Viele Betriebe sind für Suchtthemen nicht ausreichend gerüstet, es gibt oft keine Ansprechpersonen oder verbindliche Stufenpläne obwohl es Weiterbildung und Unterstützung gibt“, so Caruso.

 


[1] https://www.secondvictim.at/was-ist-ein-second-victim/

Brigitte Ettl

„Gewisse Ereignisse könnten durch Prävention verhindert werden. Das erfordert Prozesse zur Fehlervermeidung und ein Umfeld, in dem Mitarbeitende sich sicher fühlen, Fehler zu melden.“

Brigitte Ettl

Psychologische Sicherheit

Erleichterung für den Arbeitsalltag schafft Psychologische Sicherheit. Geprägt hat den Begriff 1999 Amy Edmondson, von der Harvard Business School. Er bedeutet, dass Mitarbeiter_innen ohne Angst vor Konsequenzen Bedenken äußern, Verbesserungsvorschläge machen und Fehler melden können. Benna Waites, klinische Psychologin in Großbritannien: „In einem Artikel in der New York Times aus dem Jahr 2016 wurde beschrieben, wie Google herauszufinden versuchte, welche Eigenschaften charakteristisch für ein erfolgreiches Team sind. Nach Überprüfung zahlreicher Hypothesen stellte sich heraus, dass das Fehlen psychologischer Sicherheit durch keine andere Eigenschaft oder Kombinationen anderer Eigenschaften wettgemacht werden konnte.

Wie durch Verbesserung der psychologischen Sicherheit in Kombination mit angepassten Prozessen beispielweise die Rate an Dekubitus, das sind schlecht heilende Wunden, um 90 Prozent gesenkt werden konnte, zeigt ein Fall in zehn Krankenhausabteilungen in Großbritannien. Benna Waites und Doris Behrens, damals Mitarbeiterin am NHS und heute Professorin an der Universität für Weiterbildung Krems, starteten 2017 eine zweijährige Initiative im britischen Royal Gwent Hospital in Newport, einem großen Akutkrankenhaus mit 770 Betten. „Im Gegensatz zu anderen Initiativen konzentrierten wir uns darauf, psychologische Sicherheit in der Gruppe der beteiligten Pflegekräfte zu schaffen und sie selbst Prozessverbesserungen entwickeln zu lassen. Was zu tun war, war klar und evidenzbasiert. Wie man das in der Hektik des Alltags sicher verankert, weniger. Zu den entwickelten Adaptionen gehörten u.a. abwaschbare Tafeln an den Zimmertüren, auf denen notiert wurde, wann die Patient_innen das nächste Mal umgelagert werden sollten. Vorbeikommende Mitarbeiter_innen konnten den Handlungsbedarf nicht übersehen. „Nach etwa einem Jahr hatten sich viele neu erworbene Kompetenzen etabliert, die Verlässlichkeit der Assessment- und Pflegeprozesse verbessert und die Beteiligten hatten keine Angst mehr, über Fehler zu sprechen, so Behrens. Insgesamt konnten in den beiden Jahren etwa 1,5 Millionen Pfund an Behandlungskosten eingespart und Dekubitus bei etwa 265 Patient_innen verhindert werden.

Der wunde Punkt

Im medizinischen und pflegerischen Bereich würden Personen häufig aufgrund ihrer fachlichen Expertise und nicht aufgrund ihrer Führungskompetenz in Führungspositionen gelangen, stimmen Brigitte Ettl und Doris Behrens überein. Führungskompetenzen würden oft als „angeboren“ angesehen oder auf Charisma reduziert. Diese Fähigkeiten hätten nichts mit persönlicher Ausstrahlung zu tun und seien erlernbar. Deshalb seien Führungs- und Teamtrainings so wichtig, betonen beide.

Der Bedarf ist jedenfalls groß. Aus diesem Grund führt das Department Wirtschaft und Gesundheit führt seit über 20 Jahren Weiterbildungsstudien durch, die speziell im Gesundheitswesen tätige Personen auf Führungs- und Managementaufgaben vorbereiten. Nun gibt es Bestrebungen, Weiterbildungen zum Thema Psychologische Sicherheit für Führungskräfte auf allen Ebenen und in allen Gesundheitsberufen anzubieten bzw. in bestehende Programme zu integrieren. Basis dafür ist das im NHS entwickelte Programm „Leading People, das 2014 gestartet wurde, um Führungskräften aus allen Berufsgruppen – Ärzt_innen, Pflegekräfte, Psycholog_innen, Ergo-, Physio- und Kunsttherapeut_innen, Gesundheitswissenschaftler_innen und Mitarbeitende von Unternehmen – die Möglichkeit zu geben, sich weiterzuentwickeln.

Auf noch einen wichtigen Aspekt von Trainings und Weiterbildungen für Führungspersonal und Teams für ein reibungsloses Arbeiten weist Ettl hin: „Als Führungskraft lernt man viel über Stärken und Schwächen im Team und stärkt so ganz nebenbei den Zusammenhalt.“


BRIGITTE ETTL
Dr.in Brigitte Ettl ist Präsidentin der Plattform Patientensicherheit, Leiterin des Karl Landsteiner Instituts für Klinisches Risikomanagement und Ärztliche Direktorin der Klinik Hietzing, WIGEV, iR.

CLAUDIA CARUSO
Claudia Caruso, BSc MSc ist Leiterin der Weiterbildungsstudien Social Management, Social Work und Wirtschafts- und Organisationspsychologie am Department für Wirtschaft und Gesundheit der Universität für Weiterbildung Krems

BENNA WAITES
Benna Waites ist gemeinsame Leiterin der Abteilung für Psychologie, Beratung und Kunsttherapien bei der Aneurin Bevan Health Board in Südostwales, Großbritannien. Sie arbeitet seit 24 Jahren als klinische Psychologin im National Health Service NHS.

DORIS BEHRENS 
Univ.-Prof.in Dipl.-Ing.in Dr.in Doris Behrens hält die Professur für Management im Gesundheitswesen an der Universität für Weiterbildung Krems, wo sie das Department für Wirtschaft und Gesundheit leitet.

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