Überlastete Ärzte, ausgebrannte Pflegekräfte und Patient_innen, die nicht mehr versorgt werden können: Lean Management zielt auf schlanke Prozesse. Das Gesundheitswesen könnte sich damit selbst retten.

Von Karin Pollack

Niemand will gerne über den Tag nachdenken, an dem eine schwerwiegende Diagnose das Leben verändert. Vorbei die Zeiten der Selbstbestimmtheit: wer wieder gesund werden will, ist plötzlich auf Untersuchungstermine, Ärzt_innen und Pflege angewiesen, eine bis dahin meist unbekannte Welt, die sich unter dem Begriff Gesundheitswesen zusammenfassen lässt. Wer seine Karriere als Patient_in startet, erkennt schnell: Zum Kranksein gehört nicht nur das Ertragen von Schmerzen, sondern auch viel Geduld, um Untersuchungs- oder Operationstermine zu vereinbaren, um lange Wartezeiten in Ambulanzen zu verbringen oder um Gesprächstermine mit überarbeiteten Ärzt_innen einzufädeln. Spätestens nach zwei Wochen wissen Patientent_innen, dass Österreichs Gesundheitssystem im Reality-Check nicht das Beste der Welt ist. „Auch wenn es niemand hören will: Unser Gesundheitssystem ist knapp am Anschlag“, sagt Krankenhausmanagerin Natasa Neuhold vom Kepler Universitätsklinikum in Linz.

Der Pflegenotstand ist der Gipfel des Eisbergs, es besteht akuter Handlungsbedarf, zeigen Berichte. Es geht um die Erfüllung des Versorgungsauftrags, dem nicht optimal nachgekommen werden kann. „Aufgrund der Ressourcenknappheit bei medizinischem Personal in sämtlichen Berufsgruppen und einem immer höherem Patientenaufkommen kann der Betrieb nur unter großer Mühe aufrechterhalten werden,“ sagt Neuhold. Obwohl sich das Dilemma seit Jahren abzeichnet, würden die Zustände wie in einer Abwärtsspirale immer kritischer werden, warnt sie.

Lean oft besser als Geld

„Wenn Abläufe ineffizient sind, muss nicht zwangsläufig mehr Geld zu Verbesserungen führen, es geht darum, Prozesse zu durchleuchten und Fehler im System zu identifizieren“, sagt Doris Behrens, Vizedekanin an der Fakultät für Gesundheit und Medizin an der Universität für Weiterbildung Krems. Sie hat erlebt, dass Lean Management („lean“: übersetzt schlank; siehe Kasten) im Gesundheitswesen Verbesserungen durch Kommunikation, Zusammenarbeit und Prozessoptimierungen bringen kann. Im Netzwerk der Lean Management Initiative im Gesundheitswesen (LMIG), das Neuhold leitet, werden kontinuierlich Erfahrungen ausgetauscht. Ziel ist es, anwendbare und nachhaltige Lösungen für die aktuellen Handlungsfelder im Gesundheitswesen auszuarbeiten.

Als Doris Behrens, Leiterin des Departments für Wirtschaft und Gesundheit, die Lean-Methode ehemaligen Absolvent_innen im Rahmen eines Alumni-Abends präsentieren wollte, staunte sie nicht schlecht über die ein oder andere erboste Reaktion. Effizienz im Gesundheitswesen oder eine Verschlankung von Systemen seien eine Provokation für alle, die heute in diesen überlasteten Systemen arbeiten, erfuhr sie.

„Wer das Prinzip von Lean Management verstanden hat, weiß, dass am Beginn jeder Transformation im Gesundheitswesen, ein Kulturwandel hinsichtlich des Umgangs mit Mitarbeitenden stehen muss“, sind Neuhold und Behrens sich einig. Gegenseitige Wertschätzung, intensive Kommunikation und abteilungsübergreifende Transparenz seien für Umstrukturierungen unerlässlich.

 

Was genau ist eigentlich Lean Management?

 

Lean Management wurde Mitte der 1950er-Jahre von Taiichi Ohno beim japanischen Autohersteller Toyota entwickelt, hat sich seitdem kontinuierlich weiterentwickelt und ist heute in vielen Branchen im Einsatz. Basis für Lean Transformationsprozesse sind die drei simplen Fragen: Wie soll ich es tun? Wo fange ich an? Wer kann mir bei der Umsetzung helfen? Ziel sind schlanke Prozesse. Dabei geht es nicht vorrangig um Reduzierung, sondern um einen optimalen und respektvollen Umgang mit Ressourcen. Ein wesentlicher Grundsatz des Lean Management ist kontinuierliche Verbesserung, auch Kaizen genannt, und damit verbunden die Überzeugung, dass auch kleine Schritte große Wirkung haben können. Übersetzt in die Sprache des Managements dient der Lean-Ansatz der Gestaltung, Lenkung und Entwicklung von Aufbau und Ablauforganisation. Ziel ist Kund_innenorientierung und die Eliminierung von Verschwendung – intern wie extern, wobei alle Wertschöpfungspartner miteinbezogen werden. Lean Management kann auf
 

  • die Produktion von Waren/Dienstleistungen
  • das Humansystem
  • die Unternehmenskultur

angewendet werden. Es ist ein Denkansatz, mit dem sämtliche Bereiche eines Unternehmens auf die Zufriedenheit aller dort Involvierter überprüft werden kann. Lean Management im Gesundheitswesen trägt auch zur besseren Zusammenarbeit innerhalb und zwischen unterschiedlichen Bereichen des Systems bei. Insofern ist diese Art zu denken, auch ein Leadership-Thema und zielführend, wenn Führung und Team wertschätzend und konstruktiv miteinander umgehen.

Leuchtturmprojekt Linz

Wie gut das funktionieren kann, zeigt sich auf der Abteilung für Neurochirurgie am Kepler Universitätsklinikum in Linz, ein Leuchtturmprojekt für Lean Management im Krankenhaus. „Es ist eine Tatsache, dass wir mit zunehmend reduzierten personellen Ressourcen eine wachsende Zahl von Patient_innen versorgen müssen,“ umreißt Harald Stefanits, geschäftsführender Oberarzt am Kepler Universitätsklinikum, die Ausgangslage, sprich: immer mehr Operationen müssen mit immer weniger Personal durchgeführt werden. Die Wartelisten für Patient_innen werden immer länger, die Situation für alle Beteiligten zunehmen unangenehmer. Der Knackpunkt: Die Abläufe in einem Spital stammen aus alten Zeiten und wurden nie an die aktuelle Versorgungswirklichkeit angepasst, berichtet Stefanits, nach Eigendefinition Zahlenfreak mit Freude an Organisation. Er schickte sich an, alles, was sich an Abläufen messen lässt, zu erfassen.

Es ist ein Blick hinter die Kulissen eines Spitalbetriebs, der Patient_innen stets verschlossen ist. Wie ist die Auslastung der OPs? Wie viele Patient_innen werden operiert? Wie ist die Interaktion mit anderen Abteilungen, etwa den Anästhesisten, die für die Narkosen zuständig sind? Was wird operiert und wie lange dauern die Operationen, die von Hirntumoren über Gefäßfehlbildungen bis zu Bandscheibenvorfällen reichen können? Wie viele Leute stehen wie lange im OP? Was kostet eine Minute dort? „Lean Management war retrospektiv eine probate Methode für diese Analyse, weil es ein formales System ist, mit dem sich die Komplexität eines Krankenhauses abbilden lässt und trotzdem die Patientenperspektive nicht aus dem Blick gerät,“ begründet Stefanits die Wahl seines methodischen Ansatzes. Durch genaues Nachvollziehen von internen Prozessen ergab sich eindeutig, dass sich Verzögerungen durch die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen einstellten, dass die OP-Pläne nicht die Art und Dauer der Operationen berücksichtigten, dass es kein System für die OP-Einteilung und damit verbundene Prozesse wie die stationäre Aufnahme und Entlassung gab. Folglich wurden Arbeitszeiten an der Neurochirurgie regelmäßig überzogen, „denn man kann eine OP nur weil Dienstschluss ist, ja nicht einfach aufhören und am nächsten Tag weitermachen.“ OP-Personal kündigte, was die Lage zusätzlich verschlechterte.

Jasmin Eisner

„In Zeiten von Personalmangel sind Lean-Maßnahmen wichtig, weil sie Mitarbeitende entlasten – und gleichzeitig die Zufriedenheit der Patient_innen erhöhen.“

Jasmin Eisner

Perspektiven tauschen

„In einem Krankenhaus arbeitet jede Abteilung wie ein eigenes kleines Unternehmen und schnell war uns klar, dass wir uns mit anderen Abteilungen und Berufsgruppen an einen gemeinsamen Tisch setzen müssen, um Abläufe abteilungsübergreifend neu aufzusetzen,“ so Stefanits, und wer das mache, betrachtet quasi automatisch, wie Patient_innen ihren Krankenhausaufenthalt erleben. Was einfach klingt, sind drastische Maßnahmen, wie das Aufbrechen von Silos zwischen Medizin, Pflege und Verwaltung. „Es war ein Prozess, der über ein Jahr lang dauerte. Ohne das klare Bekenntnis zu Veränderung von Seiten der Führung und einer wirklichen Wertschätzung der verschiedenen Berufsgruppen für die Arbeit der anderen, hätte sich nichts verbessert,“ sagt er. Heute werden Patient_innen in Linz nach genauen Klassifizierungen durch die Abteilungen geschleust. Die OP-Einteilung wird von Mediziner_innen durchgeführt und durch zwei lange OP-Slots pro Tag sind längere Arbeitszeiten für die OP-Teams planbar und damit akzeptabel geworden. Der unmittelbare Erfolg dieser Maßnahmen ist messbar: Die Kündigungsrate des Personals im OP ist von 25 Prozent auf de facto Null gesunken und Wartezeiten sind transparent geworden. „Damit können sich Patient_innen einigermaßen arrangieren,“ so Stefanits Erfahrung, „in gewisser Weise ist Lean Management systematisierter Hausverstand,“ sagt er.

Lean Hospital

Anders, aber doch ähnlich sieht es auch Jasmin Eisner, Organisationsentwicklerin am LKH Universitätsklinikum in Graz, wo sämtliche Bereiche der Steiermärkischen Krankenanstalten nach Lean Prinzipien neu gestaltet werden. „Wir wollen das erste ‚lean hospital‘ in Österreich sein,“ sagt Eisner, die das Konzept optimierter Prozessabläufe auch auf Warenströme innerhalb der Krankenanstalten, auf die Verwaltung, die Küche und sogar bei der Planung von Neubauten anwendet.

24 Bettenstationen wurden bereits optimiert. Über jedem Krankenbett hängt ein Board, auf dem die nächsten tagesaktuellen Termine und das geplante Entlassungsdatum vermerkt sind. Seit diese Information visuell für Kranke und ihre Angehörigen verfügbar ist, hat sich die Anzahl der Glockenrufe vom Patientenbett an die Pflege drastisch reduziert. „In Zeiten von Personalmangel sind solche Maßnahmen wichtig, weil sie Mitarbeitende entlasten – und sich gleichzeitig die Zufriedenheit der Patient_innen erhöht“, umreißt Eisner einen Win-Win-Effekt.

Verbesserung über das Spital hinaus

Dass die Prozesse und die Zusammenarbeit nicht nur in spitalsinternen Abteilungen, sondern auch darüber hinaus, also etwa in den niedergelassenen Bereich besser werden sollten, dessen ist sich Herwig Ostermann, Leiter der Gesundheit Österreich (GÖG), mehr als bewusst. „Schnittstellenmanagement“, so der Fachbegriff, stand bereits im Krankenhausplan 1974 – also vor 50 Jahren – auf der Agenda, und warum das nicht umgesetzt werden kann, liege daran, dass Österreichs Gesundheitswesen einfach „hoch fragmentiert“ sei. Es gibt zahlreiche Finanzflüsse, die nur mehr für Spezialist_innen durchschaubar wären und trotzdem bestimmen, wie Patient_innen durch das Gesundheitssystem geschleust werden. Und weil es kein übergeordnetes System gibt, hat jeder Bereich über Jahrzehnte eigenen Lösungen implementiert. „Eine Harmonisierung wäre ein Kraftakt, für den sich viele unterschiedliche Stakeholder auf einheitliche Prozesse einigen müssten“, so Ostermann und fragt, wer oder welche Institution dem Gesundheitssystem so einen grundlegenden Wandel verordnen sollte, „denn schließlich könne man in diesem Bereich niemanden zwingen.“ Genau darin sieht Ostermann auch die Wurzel aller Dysfunktionalitäten. Jeder Bereich arbeitet selbständig, implementiert Lösungen und über die Jahre sind diese in vielen Bereichen inkompatibel zueinander geworden. Das bekommen Patient_innen immer stärker zu spüren, im Krankenhaus selbst und noch mehr im niedergelassenen Bereich, der noch einmal ganz anders organisiert ist, weiß der Leiter der GÖG.

„Im Krankenhaus wird selten mit strategischen Zielsetzungen gearbeitet,“ kritisiert Natasa Neuhold und warnt davor, Lean-Methoden als simple Lösungen zu missbrauchen. „Wir müssen Systeme ganzheitlich betrachten, weil wir sonst mit den nachweislich wirkungsvollen Werkzeugen der Lean-Methode nur kurzfristig Brände löschen“, warnt sie. Optimierung könne nur funktionieren, wenn sämtliche Behandlungspartner miteinbezogen sind. „In einem Krankenhaus laufen die Abteilungen wie Zahnräder ineinander, kleine Störungen haben oft große Wirkung,“ weiß Neuhold. Wenn etwa das OP-Management reibungslos läuft, kann es sein, dass die verantwortliche Bettenstation bei der Nachbetreuung von Operierten mit ihren Kapazitäten an ihre Grenzen stößt. Reformen, ist sie überzeugt, könnten nur stattfinden, wenn „Mitarbeitende wieder Wirkungsmacht bekommen und ihren Reformvorschläge auch Gewicht beigemessen wird,“ sagt sie und weiß, dass „der Führungsstil einzelner sämtliche Anstrengungen für Verbesserung zunichte machen kann.“ Ein menschenzentrierter Ansatz sei der Schlüssel zum Erfolg und dass die Zufriedenheit der Mitarbeitenden sehr oft mit der Zufriedenheit der Patient_innen parallel schwingt, hat sie oft erlebt, „weil im Grunde alle einen guten Job machen wollen.“

Herwig Ostermann

„Eine Harmonisierung wäre ein Kraftakt, für den sich viele unterschiedliche Stakeholder auf einheitliche Prozesse einigen müssten.“

Herwig Ostermann

Fazit: Lean Management liefert theoretisch die Instrumente und Strategien für nachhaltigen Wandel und anpassungsfähige, resiliente Strukturen. Am meisten von Transformation profitieren Patient_innen, die das Gesundheitswesen in schwierigen Zeiten brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen. Und zur Erinnerung: Jeder kann zu jedem Zeitpunkt Patient_in werden.


NATAŠA NEUHOLD
Nataša Neuhold ist Krankenhausmanagerin am Kepler Universitätsklinikum in Linz. Daneben wirkt sie an der Lean Management Initiative im Gesundheitswesen LMIG mit.

DORIS BEHRENS
Univ.-Prof.in Dipl.-Ing.in Dr.in Doris Behrens ist Leiterin des Departments für Wirtschaft und Gesundheit sowie Vizedekanin an der Fakultät für Gesundheit und Medizin an der Universität für Weiterbildung Krems

HARALD STEFANITS
OA DDr. Harald Stefanits ist geschäftsführender Oberarzt am Kepler Universitätsklinikum sowie Ausbildungskoordinator. Stefanits ist habiltierter Neurochirurg.

JASMIN EISNER
DGKP Jasmin Eisner arbeitet für das LKH-Univ. Klinikum Graz, wo sie für Organisationsentwicklung & Betriebsorganisation zuständig ist.

HERWIG OSTERMANN
ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann ist Leiter der Gesundheit Österreich GmbH, das Forschungs- und Planungsinstitut für das Gesundheitswesen und die Kompetenz- und Förderstelle für Gesundheitsförderung in Österreich.

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