Lean Management kann das Wohl von Patient_innen und die Zufriedenheit des Healthcare-Personals verbessern, sagt die Operational-Research-Expertin Doris Behrens. Das Ergebnis: eine Win-win-Situation.

Interview: Karin Pollack

Upgrade: Sie beschäftigen sich als Mathematikerin mit der kontinuierlichen Verbesserung von Abläufen in Gesundheitseinrichtungen. Wo haben sie Lean Management kennengelernt?

Doris Behrens: In Großbritannien, wo das Gesundheitssystem wirklich unter Druck ist. In meiner nunmehr fast zehnjährigen Tätigkeit für den National Health Service (NHS) in Wales habe ich gesehen, wie Lean Management zu Qualitätsverbesserung führte, und das mit vergleichsweise wenig Aufwand und großer Wirkung. Es bringt Verbesserungen für Patient_innen und Mitarbeiter_innen des Gesundheitswesen gleichermaßen.

Deshalb ist es mir ein Anliegen, diese Art zu denken und zu handeln hier in Krems in den Weiterbildungsprogrammen zu etablieren.

Wie kann ein Zugang, der aus der Autobranche kommt (siehe Kasten Seite 10), im Gesundheitsbereich funktionieren?

Behrens: Es stimmt, dass Lean Management im Gesundheitswesen auf den ersten Blick irritierend wirken kann. Menschen sind in dem Sinn keine Produkte und Gesundheit nichts, das auf Gedeih und Verderb effizient hergestellt werden muss. Aber lassen Sie es uns doch so betrachten. Das Gut, das in einer Gesundheitseinrichtung produziert wird, ist das Wohl von Patient_innen. Dies soll durch effektive Diagnostik und Behandlung erreicht werden. Und weil dies allen, die krank sind, zugutekommen soll, müssen Abläufe nicht nur evidenzbasiert, sondern auch „schlank“, also englisch „lean“, sein. Damit sichern wir den Versorgungsauftrag, den der Staat für die Bevölkerung hat

Doris Behrens

„Lean Management stellt das Wohl aller Menschen, die gemeinsam in einem System arbeiten, in den Mittelpunkt.“

Doris Behrens

Was kann Lean Management bringen?

Behrens: Am besten lässt sich das an den Wartezeiten erklären. Es gibt Gründe, warum jemand, der Hilfe braucht, Stunden in Ambulanzen oder Ordinationen sitzen muss. Oft sind ineffiziente Abläufe die Ursache. Im Lean Management gibt es Werkzeuge, solche Flaschenhälse, die Wartezeiten verursachen, aufzudecken und Prozesse schlanker zu gestalten, etwa Informationssysteme für Mitarbeitende und Patient_innen. Wenn letztere valide Informationen über ihren Zustand und bevorstehende Behandlungen bekommen, können sie sich besser orientieren, fühlen sich wahrgenommen und sind dadurch auch kooperativer bei Therapien.

Sagen Sie gerade, dass Patient__innenwohl und die Zufriedenheit der Mitarbeiter_innen aneinandergekoppelt sind?

Behrens: Auf jeden Fall. Schlechte Abläufe mit einer hohen Fehleranfälligkeit verursachen Überlastung und Unzufriedenheit. Der Personalnotstand in der Pflege ist neben anderen Gründen auch darauf zurückzuführen. Oft sind schlecht aufgesetzte Prozesse dafür verantwortlich.

Wie zum Beispiel?

Behrens: Regelmäßige Pausen für Mitarbeitende. Die sind in diesen Prozessen einfach oft nicht vorgesehen und dann gilt das Motto: „Schau’n wir mal, was sich ausgeht.“ Was die Mitarbeitenden in Gesundheitseinrichtungen darüber hinaus frustriert, sind inadäquate Leadership-Kompetenzen oder extrem starre, hierarchische Strukturen.

Also schwierige Vorgesetzte?

Behrens: Genau, weil es für Mitarbeiter_innen dann unmöglich scheint, Fragen zu stellen, Bedenken oder Verbesserungsvorschläge zu äußern. Doch genau das sind Dinge, die sich auch auf die Patient_innensicherheit auswirken. Zudem werden die Leute in schlecht aufgesetzten Systemen unzufrieden, was dann wiederum zu vermehrten Kündigungen führt.

Dennoch wird Lean-Management hauptsächlich mit Effizienz in Verbindung gebracht. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass das im Gesundheitssystem durchaus negativ sein kann. Knapp kalkulierenden Ländern fehlten beispielsweise Intensivbetten…

Behrens: Der Gesundheitsbereich unterliegt Schwankungen. Auch außerhalb einer Pandemie. Insofern ist es von großer Bedeutung, diese Schwankungen in der Kapazitätsplanung abzupuffern. Vollauslastung, meist orientiert an irgendwelchen Mittelwerten, wäre nicht zu empfehlen. Zudem wirkt es sich negativ aus, wenn Systeme und somit Menschen kontinuierlich am Anschlag arbeiten.

Was ist die Lösung?

Behrens: Es geht im Lean Management nicht darum, Überkapazitäten zu installieren, sondern durch eine kontinuierliche Verbesserung der Abläufe, Überlastung und Unterforderung auszubalancieren. Das erhöht eben in der Folge auch die Effizienz.

Wer könnte da etwas dagegen haben?

Behrens: Es ist nicht leicht, über lange Zeiträume hinweg etablierte Abläufe zu verändern. Wir Menschen sind ‚Gewohnheitstiere‘ und können uns recht gut mit suboptimalen Gegebenheiten arrangieren. Wenn Prozesse neu aufgesetzt werden, muss alles neu und anders gedacht und gemacht werden. Das überfordert viele, vor allem dann, wenn verschiedene Stakeholder involviert sind und stations- oder bereichsübergreifend gedacht werden sollte. Und deshalb bleiben die Dinge dann meist so wie sie sind.

Wie lässt sich da Dynamik reinbringen?

Behrens: Schritt um Schritt. Lean Management stellt das Wohl aller Menschen, die gemeinsam in einem System arbeiten, in den Mittelpunkt. Die Prozessverschlankungen, die Vermeidung unnötiger Tätigkeiten, Wartezeiten und Wege, das Nutzen von Fähigkeiten aller Mitarbeitenden und die Vermeidung von Fehlern sind Möglichkeiten, Wertschätzung zu zeigen und Wertschöpfung zu generieren.

Wie meinen sie das?

Behrens: Dass die Personen, die in einer Gesundheitseinrichtung arbeiten, Abläufe bestimmen und nicht das System sie in Abläufe zwingt. Das bedeutet Verantwortung für Prozesse, Wirkungsmacht für Veränderungen und Verbesserungen. Darüber hinaus sollten wir verstärkt in Patient_innenpfaden denken.

Sie meinen, einen Krankenhausablauf aus Sicht von Erkrankten zu sehen?

Behrens: Genau, ‚Patient journey‘ ist der englische Fachbegriff dafür und bezeichnet die Stationen, die Menschen mit einer bestimmten Erkrankung innerhalb des Gesundheitssystems durchmachen müssen. Es ist also die Summe der Stationen, die im Zuge von Diagnostik und Behandlung durchlaufen werden. Optimalerweise kommt es hier zu keinen Reibungsverlusten. Also keine Hürden, keine doppelten und dreifachen Untersuchungen, keine ständig wechselnden Ärzt_innen.

Das klingt vor allem bei komplexen Erkrankungen schwierig, also dann, wenn Patient_innen auf einer Reihe von Stationen behandelt werden.

Behrens: Genau, die Schnittstellenproblematik innerhalb eines Spitals wirkt sich massiv auf das Wohl der Patient_innen aus. Eine verbesserte Zusammenarbeit der Abteilungen innerhalb eines Krankenhauses führt auch dazu, Ineffizienzen in Form mehrfach gemachter Arbeit zu eliminieren. Sie bringen Kranken nichts und verschwenden die Zeit der Mitarbeitenden. Wenn man schafft, solche Missstände abzubauen, ist das automatisch mit einem effizienteren Einsatz von Mitteln verbunden.

Was passiert nach der Entlassung aus dem Spital, also dann wenn Patient_innen wieder von Hausärzt__innen im niedergelassenen Bereich betreut werden?

Behrens: Wir sollten Patient_innenpfade ganzheitlich denken, also über die Grenzen von Verantwortungsbereichen wie Primär- oder Sekundärversorgung hinweg. Behandlung und Versorgung hören ja nach dem Spital oft nicht auf. Wer diesbezüglich zusammenarbeitet, bräuchte dann abgestimmte Ziele und synchronisierte Prioritäten. Lean Management wäre eine Option, dies zu erreichen.


DORIS BEHRENS

Univ.-Prof.in Dipl.-Ing.in Dr.in Doris Behrens ist Mathematikerin mit Schwerpunkt Operational Research und beschäftigt sich mit Simulation, Optimierung, Entscheidungsanalyse und Qualitätsverbesserung im Gesundheitsbereich. Seit 2021 ist sie Leiterin des Departments für Wirtschaft und Gesundheit und stellvertretende Dekanin der Fakultät für Gesundheit und Medizin an der Universität für Weiterbildung Krems.

LINK

Artikel dieser Ausgabe

Zum Anfang der Seite