Österreich ist als Sozialstaat bekannt. Doch es gibt Schrauben, an denen gedreht werden muss, damit dieser weiter funktioniert. Zentral dabei ist, was gerechte Verteilung bedeutet und wie Verhalten geändert werden kann.

Von Milena Österreicher

Als Wohlfahrtsstaat wird Österreich gern bezeichnet. Zentral dabei ist das Sozialversicherungssystem, das sich aus diversen Versicherungs- und Transferleistungen wie Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung zusammensetzt. Damit dieses Werk weiter am Laufen bleibt, müssen die einzelnen Bereiche funktionieren und weiter finanziert werden können. Doch gerade im Gesundheitsbereich krankt es. Lange Wartezeiten auf Facharzttermine, händeringende Suche nach Pflegekräften, Medikamentenknappheit: Die Lage scheint angespannt.

Wenn es nach Gesundheitsökonom Martin Halla von der Wirtschaftsuniversität Wien geht, liegt der Grund dafür aber nicht in den Ressourcen. „In Österreich gibt es auf die Bevölkerung gerechnet sehr viele Ärzte, Fachärztinnen und Krankenhausbetten“, sagt er, „aber die Menschen gehen hierzulande im OECD-Länder-Vergleich in einem signifikant höheren Ausmaß zu Fachärzten.“ Es sei nicht auszuschließen, dass man auch mal warten muss, es brauche aber in vielen Fällen eine viel niederschwelligere Behandlung. „Wir könnten Patient_innen effizienter durch das Gesundheitssystem bringen“, sagt Halla. Doch dabei spielt auch das Verhalten der Betroffenen eine Rolle.

Martin Halla zufolge geht um die richtige Behandlung am richtigen Ort zur richtigen Zeit. „Die Österreicher_innen sollten häufiger zuerst den Hausarzt aufsuchen, denn er oder sie hilft, das Gesundheitssystem zu navigieren“, sagt er. Es brauche ein gewisses Gate Keeping, wie etwa in Dänemark. Dort zahlen Patient_innen für Facharztbesuche nichts, wenn sie von ihrer Hausärztin dorthin überwiesen wurden. Begeben sie sich jedoch auf eigene Faust dorthin, zahlen sie. Hierzulande sei es Halla zufolge fast gang und gäbe, bei Beschwerden in einem bestimmten Bereich direkt zum Fachexperten zu gehen. Verstärkt werde das auch durch „Doktor Google“, also dass Menschen online nach Informationen zu ihren Schmerzen suchen und dann meinen zu wissen, wohin sie gehen müssten. Selbstbehalte bei direkten Facharztbesuchen hält Halla daher für sinnvoll.

Für weniger sinnvoll hält er hingegen die allgemeinen Vorsorgeuntersuchungen in Österreich. „Wir haben in einer Studie die Kosten und den Nutzen untersucht. Das Ergebnis: Wenn die Untersuchung so allgemein gehalten ist, bringt sie wenig“, sagt er. Sinnvoll seien zielgerichtete Präventionsuntersuchungen, wie Kontrollen zu Brust-, Prostata- oder Dickdarmkrebs. Zudem habe sich gezeigt: Zur Vorsorgeuntersuchung gehe in der Regel derjenige, der so und so bereits einen einigermaßen gesunden Lebensstil pflege.

Motivationsschübe

Wie kann dann das Gesundheitsverhalten von Menschen nachhaltig beeinflusst werden, so dass sie im besten Fall gar nicht auf die Leistungen im Gesundheitssystem angewiesen sind? Mit dieser Frage befasst sich Marlene Kritz. Sie ist Gesundheits- und Motivationspsychologin und leitet den Studiengang Healthcare Management an der Universität für Weiterbildung Krems. Um Verhaltensänderungen herbeizuführen, müsse aus einer extrinsischen eine intrinsische Motivation werden. Wenn die Ärztin einem sage, man solle zehn Kilo abnehmen, schaffe man das vielleicht. Doch sobald dieses Ziel erreicht ist, bleibt es ungewiss, ob man einen gesünderen Lebensstil mit viel Bewegung weiterbeibehält – zumindest solange dies nicht mit der inneren Motivation einhergeht, dass dieser Lebensstil einem auch wirklich gefällt und gut fühlen lässt.

Martin Halla

„Ich plädiere in allen Fällen für eine Entemotionalisierung der Debatte.“

Martin Halla

Extrinsische Motivation

Die Motivation beeinflussen laut Kritz verschiedene Faktoren. Die Art der Kommunikation entscheide dabei unter anderem über die Motivation zur Selbstfürsorge. „Wenn der Arzt einem sagt, man solle sein Leben von Grund auf ändern, hat man vielleicht eine extrinsische Motivation, weil man den Arzt zufrieden stellen möchte“, sagt sie. Entscheidend sei aber, dies in eine innere Motivation umzuwandeln und auch genau zu wissen, welche kleinen Schritte einen ans Ziel führen.

Entscheidend sei auch, wie unterstützend sich das soziale Umfeld zeige: Wer beispielsweise ins Fitnessstudio geht und dort wegen seines Körpers beschämt wird, wird so schnell nicht wieder kommen. Wichtig sei hier auch die soziale Zugehörigkeit, ein Grundbedürfnis von uns Menschen. „Und damit wir wirklich Veränderungen herbeirufen, müssen wir uns bis zu einem gewissen Grad auch autonom fühlen. Das heißt, wir sollten das Gefühl haben, kompetent und selbstbestimmt in dem zu sein, was wir tun und verändern möchten“, sagt Kritz. Eben wenn etwa die Patientin weiß, wie sie ganz konkret schrittweise selbst den Bluthochdruck senken kann.

Und wie sieht es mit dem Verhalten bei der Inanspruchnahme der Leistungen aus? Ein immer wieder heiß diskutierter Punkt sind die Transferleistungen im Sozialsystem, etwa die Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung. Das führt schnell zu Diskussionen, in denen auf bestimmte Gruppen gezeigt wird, etwa arbeitslose oder zugewanderte Menschen, nach dem Motto „Wir haben eingezahlt, die nehmen es in Anspruch“. So wird unter anderem auch der sogenannte Wohlfahrtschauvinismus befeuert: die Befürwortung eines ausgebauten Sozialstaates, allerdings exklusiv für die autochthone Bevölkerung.

Linda Dezso, Senior Scientist am Department für Wirtschaft und Gesundheit der Universität für Weiterbildung Krems, untersucht in ihrem aktuellen Forschungsprojekt die Ursachen dieses Wohlfahrtschauvinismus. „Im Grunde geht es um das Verständnis, was fair ist“, sagt Dezso. Es gebe mindestens drei verschiedene Fairnessansätze für die Verteilung von Gütern: Gleichheit, Gerechtigkeit und Bedarfsorientierung. So können sich hohe Beitragszahler auf Gerechtigkeit berufen, um sicherzustellen, dass sie bei der Auszahlung bevorzugt werden. Niedrige Beitragszahler können sich auf Gleichheit berufen, um sicherzustellen, dass sie genauso viel bekommen wie alle anderen. „Beide Ansätze sind normativ akzeptabel und scheinen legitim zu sein. Sie können auch Emotionen gegen bestimmte Gruppen wecken“, sagt Dezso. Diejenigen, die weniger Stunden arbeiten oder weniger verdienen, können ebenfalls zu Recht glauben, dass sie Transfers verdienen. Im Prinzip könne jeder seinen Fairness-Ansatz wählen, je nachdem was ihm oder ihr am meisten nützt. In Europa herrsche in diesem Zusammenhang vorwiegend die Vorstellung von Reziprozität: Als fair werde angesehen, wer einzahle, solle davon profitieren. Dennoch sei nicht zu vergessen, dass hinter dem Gedanken oft auch versteckte Diskriminierung stecke, wenn gewollt wird, dass gewisse Gruppen aus dem System ausgeschlossen werden.

Lücken schließen

Damit dieser Chauvinismus und die damit verbundenen einwanderungsfeindlichen Einstellungen nicht weiterwachsen, gelte es allgemein Lücken im System zu schließen. Für Linda Dezso bedeutet das: Genügend Anreize schaffen, um möglichst alle auf den Arbeitsmarkt zu bringen. „Natürlich ärgert es die Menschen, wenn sie hören, wenn manche ein paar Stunden pro Woche arbeiten und ansonsten Transferleistungen erhalten“, sagt sie. Gleichzeitig gebe es aber auch Menschen, die Vollzeit zu einem sehr niedrigen Lohn arbeiten und den Rest mit Sozialhilfe aufstocken. Die Wut werde hier aber auf die Falschen projiziert. Geschraubt werden müsse an den Systembedingungen.

Ähnlich sieht es Martin Halla: „Die Menschen verhalten sich an sich korrekt. Wenn ich weiß, ich bekomme an einem anderen Ort mehr Unterstützung, dann gehe ich dorthin.“ Er verweist auch auf das Beispiel von Saisonarbeitskräften oder Gastro-Mitarbeiter_innen, die vom Arbeitgeber nur für eine bestimmte Zeit angestellt, dann arbeitslos gemeldet werden und dann wieder weiter beschäftigt werden. Auch das gehe auf die Kosten der Allgemeinheit. „Ich plädiere in allen Fällen zu einer Entemotionalisierung der Debatte“, sagt er. In dem Rahmen, der Menschen gesetzt wird, würden sie sich entsprechend verhalten. Möchte man hier das Verhalten ändern, gelte es an den Systemschrauben zu drehen.


LINDA DEZSO
Dr.in Linda Dezso ist Senior Scientist am Department für Wirtschaft und Gesundheit der Universität für Weiterbildung Krems. Sie erhielt 2023 ein Elise-Richter-Stipendium des Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF). Ihr Fokus liegt auf verhaltensorientierter Gesundheitsökonomie und Verhaltensökonomie

MARTIN HALLA
Univ.-Prof. Dr. Martin Halla ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nach seiner Promotion an der Johannes Kepler Universität Linz war er Gastwissenschaftler an der Universität Stockholm und an der University of California, Berkeley. Sein Forschungsschwerpunkt ist die angewandte Mikroökonometrie in den Bereichen Arbeitsmarkt, Familie und Gesundheit.

MARLENE KRITZ
Dr.in Marlene Kritz ist Senior Scientist am Department für Wirtschaft und Gesundheit und leitet den Studiengang Healthcare Management der Universität für Weiterbildung Krems.

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