Bessere medizinische Entscheidungen, Rückenwind dank KI-Boom, dazu politisch-rechtliche Weichenstellungen auf EU-Ebene: Gesundheitsdaten als neuer Schatz der Medizin stehen jetzt aus vielen Gründen im Fokus des Interesses.

Von Andreas Aichinger

Die zentrale Bedeutung von Gesundheitsdaten für die Zukunft der medizinischen Versorgung sowie der Pflege ist heute unter Expert_innen unstrittig. Gerade angesichts des rasanten Fortschritts der medizinischen Wissenschaft gilt es aber zunächst, eine spannende Schlüsselfrage zu beantworten: In welcher Form können Daten eigentlich einen Beitrag zu einer besseren medizinischen Behandlung von Patient_innen leisten? Oder noch grundsätzlicher: Wie helfen Daten dabei, bessere Entscheidungen zu treffen?

Raimund Kovacevic ist der perfekte Adressat für diese Frage. Als Senior Scientist am Department für Wirtschaft und Gesundheit der Universität für Weiterbildung Krems hat sich der studierte Statistiker im Fach Operations Research (OR) habilitiert. Vereinfacht gesagt geht es dabei darum, mit Hilfe mathematischer Optimierungsrechnungen Methoden zur Entscheidungsunterstützung abzuleiten. Kovacevic: „Dieses Feld ist heute sehr breit geworden, da Entscheidungen ja in allen Lebensbereichen getroffen werden müssen. Die Mehrzahl meiner wissenschaftlichen Publikationen dreht sich um Entscheidungen unter Unsicherheit.“ Spätestens seit auch epidemiologische Modelle während der COVID19-Pandemie gefragt gewesen sind, prägen vermehrt auch medizinische Fragestellungen die Arbeit des Wissenschaftlers. „Je besser man informiert ist, desto bessere medizinische Entscheidungen kann man treffen,“ schickt Kovacevic seine zentrale Prämisse voraus. Anders gesagt: Verfügt ein Arzt oder eine Ärztin über möglichst gute und valide Gesundheitsdaten – beispielsweise die Krankengeschichte respektive Patientenkurzakte, dazu Laborwerte und Bilddaten aus Voruntersuchungen – so kann naturgemäß auch gezielter behandelt werden.

Besonders relevant ist das gerade auch im Bereich der Sekundärversorgung bei niedergelassenen Fachärzt_innen, wo naturgemäß spezifischere Diagnosen gefragt sind. Beispiel Augenheilkunde: Auf Grundlage großer, standardisierter Datensätze auf Basis der Glaukom-Vorsorge des Landes ist es etwa an der Uniklinik für Augenheilkunde und Optometrie in Salzburg bereits seit 2003 möglich, einen Algorithmus und letztlich eine KI für die optimierte Früherkennung und Diagnostik von „Grünem Star“ einzusetzen. Was mit validen Daten beginnt und am Ende in einer gut trainierten KI mündet, kann gerade in der Medizin auch auf einen ganz besonderen Algorithmus-Rohstoff zurückgreifen: die Leitlinien der unterschiedlichen medizinischen Fachgesellschaften, die Diagnostik- und Behandlungsempfehlungen geben und im Idealfall auch den aktuellen Stand des Wissens widerspiegeln. Und auch der Trend zur Personalisierung in der Medizin könnte bei der ärztlichen Entscheidungsfindung immer wichtiger werden. Raimund Kovacevic hat ein Zukunftsszenario vor Augen: „Man könnte versuchen, unter Berücksichtigung der Leitlinien sowie von verfügbaren Daten anderer Patienten eine individuelle Behandlungsstrategie für einen ganz konkreten Menschen maßzuschneidern.“

Raimund Kovacevic

„Je besser man informiert ist, desto bessere medizinische Entscheidungen kann man treffen.“

Raimund Kovacevic

Grünes Licht für EHDS

Apropos verfügbare Daten: Wer über Gesundheitsdaten spricht, muss auch den sich abzeichnenden European Health Data Space (EHDS) miteinbeziehen. Hintergrund: Am 24. April 2024 hat das Europäische Parlament grünes Licht für den EHDS gegeben, der als spezifischer Datenraum gleichsam Teil eines europäischen Binnenmarkts für Daten werden soll. Sinn der Sache: Bürger_innen sollen die volle Kontrolle über ihre personenbezogenen Gesundheitsdaten erhalten, um Gesundheitsdienstleistungen innerhalb der EU auch außerhalb ihres Wohnsitzlandes in Anspruch nehmen zu können. Darüber hinaus soll – nach der nationalen Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten, unter strengen Auflagen und im Gegensatz zu ELGA-Daten – auch eine „Sekundärnutzung“ der Daten im Dienst von Forschung, Innovation oder Public Health möglich werden. Die Chancen des EHDS sind aus meiner Sicht unbegrenzt“, begrüßt Andreas Joklik, seines Zeichens Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Medizinrecht, diese Entwicklung. Abhängig von der konkreten Umsetzung und Akzeptanz des EHDS könnte „in sehr ferner Zukunft“ sogar über ein eigenes Sozialversicherungssystem – derzeit bekanntlich noch Domäne nationalen Rechts – inklusive der Verwaltung aller Gesundheitsdaten auf EU-Ebene nachgedacht werden, so Joklik.

Datenschutz, Datensilos & Datenneid

Bereits jetzt sieht der Jurist aber eine gute Gelegenheit, über einen sinnvollen Umgang mit dem Datenschutz zu reflektieren. „Bei allem Verständnis für den Datenschutz muss die Frage erlaubt sein, ob die Regularien tatsächlich ihr Ziel erreichen. Oder ob sie nicht in manchen Bereichen die sinnvolle Nutzung neuer Möglichkeiten im Bereich der Digitalisierung behindern“, gibt Joklik zu bedenken. Tatsächlich sind die vorgesehenen Widerspruchsrechte (Opt-Out) naturgemäß eine potenzielle Gefahr für den Erfolg des EHDS-Projekts. Österreich ist indes mit der bereits 2012 beschlossenen elektronischen Gesundheitsakte (ELGA) vergleichsweise gut aufgestellt. Bei der EDHS-Umsetzung wiederum werden neben rechtlichen auch informationstechnische Maßnahmen erforderlich sein. Einerseits um einander unzugängliche Datenspeicher („Datensilos“) miteinander interoperabel zu verknüpfen, und andererseits um egoistisch-kurzsichtigen Motiven mancher Datenverwalter („Datenneid“) die Stirn zu bieten. Medizinrechtler Joklik formuliert es so: „Die größte Herausforderung ist meines Erachtens das Abholen sowohl der Leistungsanbieter im Gesundheitswesen als auch der Patientinnen und Patienten.“ Dennoch bleibt sein Blick optimistisch: „Zum einen erhalten die Ärzt_innen über die Primärdatennutzung in Zukunft vereinfacht und umfassender alle relevanten Daten ihrer Patient_innen. Zum anderen eröffnen sich durch die Sekundärdatennutzung viele Innovationsmöglichkeiten für forschende Ärzt_innen.“

Andreas Joklik

„Die Chancen des European Health Data Space sind aus meiner Sicht unbegrenzt.“

Andreas Joklik

Reinforcement Learning

Gleichzeitig liegt eine wichtige Frage auf dem Tisch: Wie können medizinische Entscheidungen mit digitaler Unterstützung verbessert werden, wenn gesundheitsrelevante Daten zunächst (noch) nicht vorliegen? Beispielsweise weil traditionelle randomisierte Studien in einem bestimmten Szenario nicht praktikabel gewesen sind? Die gute Nachricht: Es gibt selbst in diesem Fall Möglichkeiten, einen Beitrag zu einer Verbesserung der ärztlichen Versorgung zu leisten. Eine davon ist das so genannte Reinforcement Learning, also Verstärkungslernen, eine Spielart des Maschinellen Lernens. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um eine Form eines iterativen Lernprozesses, der auf „Belohnungen“ und „Bestrafungen“ der Maschine aufgrund vorangegangener Aktionen basiert. So könnte Reinforcement Learning etwa zur laufenden Optimierung der Dosierung von Chemotherapien eingesetzt werden – um nur ein Beispiel zu nennen. Auch Raimund Kovacevic verweist auf die Medikamentenentwicklung, wo „Generative Tensorial Reinforcement Learning“ (GENTRL) bereits zur Suche nach potentiellen Wirkstoffen zum Einsatz kommt. Und Kovacevic nennt noch ein Beispiel: „Wenn sich eine Behandlung je nach Krankheitsstadium ändern soll, wird die Sache auch für kundige Ärzte und Ärztinnen schnell sehr komplex. In solchen Fällen können Formen von Reinforcement Learning eine Hilfe sein.“

Daten erleichtern Entscheidungen

Doch auch wenn vorab keine KI-Trainingsdaten benötigt werden, so sind auch beim Reinforcement Learning gewisse Messpunkte aus Krankengeschichten erforderlich, um den Lernprozess überhaupt zu ermöglichen, wie Kovacevic betont. Daten wären schließlich auch im Bereich Public Health dringend erforderlich, um bessere Entscheidungen zu treffen. Gerade während der Coronavirus-Pandemie sei dieser Mangel an verfügbaren Daten offensichtlich gewesen. Raimund Kovacevic: „Daten über die Verbreitung von Krankheiten inklusive der Zusammenhänge mit Umweltfaktoren würden fundiertere Entscheidungen und eine bessere Planung ermöglichen.“ Von Standort-Entscheidungen, über die Lenkung von Patient_innenströmen bis hin zu Dienstplänen spannt sich der Anwendungs-Bogen, der von Gesundheitsdaten profitieren könnte. Die finale Forderung des Wissenschaftlers überrascht daher nicht: „Es ist enorm wichtig, dass wir in Österreich den Zugang zu Gesundheitsdaten weiterentwickeln.“

 

Der Europäische Gesundheitsdatenraum (EDHS)

 

Der EHDS1 stellt einen neuen Rechtsrahmen dar, der es allen Bürger_innen in der Europäischen Union ermög­lichen soll, einfach auf ihre Daten zuzugreifen, diese auszutauschen und dabei gleichzeitig die Kontrolle darüber zu behalten. Ärzt_innen, For­scher_innen und Regulierungsbehörden soll ein erleichteter Zugang zu den Gesundheitsdaten gewährt werden, um sie für eine klar geregelte Verwendung besser zu nutzen. Prävention und Diagnose sollen erleichtert, Forschung unterstützt und die Planung der Gesundheitsversorgung verbessert werden. Die zentrale Voraussetzung für die Verwendung der Daten ist die Einhaltung der Europäischen Datenschutzgrundverordnung. Am 24. April 2024 hat das Europäische Parlament grünes Licht für den EHDS gegeben.


RAIMUND KOVACEVIC
Priv.-Doz. Mag. Dr. Raimund Kovacevic ist Senior Scientist am Department für Wirtschaft und Gesundheit der Universität für Weiterbildung Krems.

ANDREAS JOKLIK
Dr. Andreas Joklik, LL.M. ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Medizinrecht sowie langjähriger Universitätslektor an der Universität für Weitbildung Krems.

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