Ein ganzes Leben, hineingepackt in eine Datenskulptur: Visualisierungtechniken machen nicht nur komplexe Sachverhalte begreifbar, sondern auch Kunst. Das 40 Meter-Werk „Radiertes Tagebuch“ des Herwig Zens wurde so zum 3D-Lebensbaum.
Von Alexandra Matzner
Rot ist er und verzweigt, der „Lebensbaum“ des Wiener Künstlers Herwig Zens (1943–2019). Im Ausstellungsraum werden Lebensläufe meist in einem tabellarischen Überblick als Chronologie oder als Zeitstrahl dargestellt. Nikolaus Kratzer, Kurator der Zens-Ausstellung in der Landesgalerie Niederösterreich, geht nun einen neuen Weg. Dabei erhielt er starke Unterstützung durch die Universität für Weiterbildung Krems. Die Lebensreise des Malers, Grafikers und Hochschulprofessors Herwig Zens wird mittels einer handlichen Datenskulptur und ihrer digitalen Erweiterung inhaltlich spannend und neuartig aufbereitet. Das Publikum ist eingeladen, den durchsichtigen Kubus mit dem eingeschlossenen roten „Lebensbaum“ in die Hand zu nehmen, zu drehen, zu erforschen. In Harz gegossen, visualisiert die rote Linie Bewegungen von Herwig Zens in Zeit und Raum. Dazu kommen noch die Entstehungsdaten seiner wichtigsten Kunstwerke. Die Datenskulptur lässt an ein fossiles Insekt denken, das in 100 Millionen Jahre alten Bernstein eingeschlossen ist, und den Blick auf die Vorzeit ermöglicht. Wenn man in dem Bild der Archäologie bleiben möchte, so bildet die vertikale Achse der Datenskulptur Sedimentschichten nach, die Hinweise auf Werk und Leben von Herwig Zens konservieren.
Drei Fachdisziplinen waren an der Realisierung dieser innovativen Visualisierung von Daten im Raum beteiligt: Florian Windhager, Senior Researcher am Zentrum für Kulturen und Technologien des Sammelns, Viola Rühse, Leiterin des Zentrums für Bildwissenschaften, und Michael Smuc, ehemaliger Mitarbeiter am Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement und nun Leiter von mindfactor IT solutions. Zu dritt zeichnen sie für die haptische und inhaltliche Umsetzung der Datenskulptur verantwortlich, wobei Viola Rühse die Daten aufbereitete, Florian Windhager die Methode der Visualisierung entwickelte, und Michael Smuc für die technische Umsetzung verantwortlich war.
Auf Goyas Spuren
„Hätt' ich nicht so viel Ideen, ginge alles viel einfacher.“ So urteilte Herwig Zens selbst über sich selbst. In die Kunstgeschichte ging der Wiener Maler, Druckgrafiker und Zeichner nicht nur mit Gemälden, Druckgrafiken, Filmen ein, sondern auch mit einem radierten Tagebuch. Zwischen dem 9. November 1977 und dem 30. April 2019 hielt der Künstler täglich seine Arbeit und Erlebnisse als Künstler und Lehrer fest. Die kleinen Bilder versammeln unter anderem Skizzen zu Projekten, Ideen für Kunstwerke, Landschaftsdarstellungen, expressive Seelen-Selbstporträts, aber auch Ausstellungen und Reisedaten. Ausgelöst durch einen Herzinfarkt, der Zens im Alter von nur 34 Jahren die eigene Vergänglichkeit drastisch vor Augen führte, fixierte er sein Leben in Hunderten Radierungen. Damit folgte er unter anderem seinem großen Vorbild, dem Spanier Francisco de Goya (1746–1828), der das 44. Blatt seiner Serie zum spanischen Bürgerkrieg gegen die napoleonischen Truppen mit den Worten „Yo lo vi“ – „Ich sah es“ – kommentierte. Augenzeugenschaft, die bei Goya eine bemerkenswerte Ausnahme darstellt, wird bei Zens zum künstlerischen Movens, das ihn bis zu seinem Tod antrieb.
Bei Zens‘ Tagebuch handelt es sich um die längste Radierung der Welt: Allein der Zusammendruck der 40 mal 5 Zentimeter großen Tagblätter aus dem Jahr 2005 übersteigt mit 479 Seiten und einer Länge von über 40 Metern die klassische Form des Tagebuchs. Das Objekt ist daher im Ausstellungsraum schwierig zu präsentieren. Die Landesgalerie Niederösterreich hängt eine gerahmte 11 Meter lange Fassung des Werks.
Die in Streifen angeordneten Radierungen changieren zwischen Comic-Strip und autobiografischer Erzählung, wie sie Zens etwa bei Thomas Bernhard vorfand. Mitnichten handelt es sich dabei um eine private Aufzeichnung, denn durch Wahl des Mediums wandte sich der Künstler dezidiert an eine Öffentlichkeit. All diese Faktoren führen dazu, dass das Werk, wie es die Kunsthistorikerin Sabine Fürnkranz ausdrückte, als „Lebensfilm“ von Herwig Zens und als Dokument der österreichischen Kulturszene wahrgenommen wird.
Vom „Lebensfilm“ zum „Lebensbaum“
Viola Rühse beschäftigt sich bereits seit geraumer Zeit mit Biografie und Werk von Herwig Zens und plant eine vollständige digitale Edition des radierten Tagebuchs. Zens selbst gibt in den Drucken seinem Erfahrungsraum Sinn. Aus dem komplexen Strom von Ereignissen wählte er Erlebnisse, Begegnungen und Arbeitsvorhaben, die ihm wichtig erschienen. Daraus formte er eine künstlerische Autobiografie, die darüber hinaus wertvolle Einblicke in die kulturelle Praxis der 1970er bis 2010er Jahre ermöglicht. Als kommunikatives Zentrum der österreichischen Kunstszene bietet Zens mit seinem radierten Tagebuch daher einen Ausgangspunkt, aber auch eine aussagekräftige Quelle für kunst- und kulturhistorische Forschung, die weit über ein Verständnis von Zens‘ Gesamtwerk und dessen Deutung hinausgeht. Gemeinsam mit Florian Windhager und Michael Smuc kann Rühse für die Ausstellung „Herwig Zens: Keine Zeit“ in der Landesgalerie einen ersten, kleinen Einblick in dieses größere Forschungsvorhaben geben.
Florian Windhager wählte aus den unzähligen Informationen und Gedankensplittern Zens‘ den Komplex Reise, war der Künstler doch für seinen offenen Horizont und seine Reiselust bekannt. So setzte sich Herwig Zens bereits in seiner Diplomarbeit mit Goya auseinander und unternahm eine Studienreise nach Madrid, wo er im Prado erstmals die Gemälde seines Idols im Original sah. Auf diesen ersten Kontakt im Jahr 1965 folgte eine lebenslange Beschäftigung mit spanischen Künstlern wie Goya oder auch Diego Velázquez (1599–1660), Miguel de Cervantes (1547–1616) und dem Stierkampf. Das führte dazu, dass der Künstler auf der iberischen Halbinsel auch ausstellte und 2002 von Juan Carlos I. von Spanien den Orden del Mérito Civil verliehen bekam.
Orts- und Zeitachse verbinden
In der Landesgalerie Krems hätte man diese Spanienbegeisterung mit einer Karte illustrieren können. Wie häufig Zens nach Madrid reiste, könnte man über die Größe eines Punktes oder auch seine Farbe ausdrücken. Doch fehlt auf der planen Karte die Zeitachse. Die Verbindung von Zeit und Ort lässt sich im digitalen Raum mit einem 3D-Modell leicht herstellen. Doch wie dieses im Ausstellungsraum umsetzen? Möglich wird dies nun mit einer neuen 3D-Drucktechnik. Der „Lebensfilm“ wird so zum „Lebensbaum“, die Äste zeigen Reisen oder Ausstellungen, während der Stamm über dem Lebensmittelpunkt Wien in der Zeit hochwächst. Der durchsichtige Kubus aus Harz gibt der fragilen Struktur der Lebenslinie Halt. An seiner Basis findet sich eine Europa-Karte, Beschriftungen verweisen auf wichtige Lebensstationen, Preisverleihungen, Werke. So gelang es dem Team, Daten in ein haptisches Objekt, eine Datenskulptur, zu übertragen. Die Erweiterung im digitalen Raum ergänzt das Objekt um Fotografien und vertiefende Informationen.
Eine Methode für Alle?
Das innovative Projekt lässt sich auf vieles anwenden, erzählen die Beteiligten – und arbeiten auf https://dataquaria.com an weiteren visualisierten „Lebensbäumen“. Was mit Herwig Zens begann, setzt sich etwa mit Prinz Eugen, Albert Einstein oder Lionel Messi und Madonna fort. Welche Form hat wohl die eigene Lebenslinie? Die Forscher_innen laden alle Interessierten ein, Kontakt aufzunehmen. Die daraus entstehenden Datenskulpturen können gedruckt oder digital bewundert und geteilt werden.
Der Lebensbaum im Internet: https://dataquaria.com/zens
Die Ausstellung in der Niederösterreichischen Landesgalerie „Herwig Zens: Keine Zeit“ läuft noch bis 25. August 2024.
VIOLA RÜHSE
Dr.in phil. Viola Rühse, M.A. leitet das Zentrum für Bildwissenschaften sowie das gleichnamige Masterstudium an der Universität für Weiterbildung Krems. Rühse studierte Kunstgeschichte sowie Deutsche Sprache und Literatur an den Universitäten Hamburg und Wien. Sie promovierte über Siegfried Kracauers Filmschriften.
FLORIAN WINDHAGER
Mag. Dr. Florian Windhager ist Senior Researcher am Zentrum für Kulturen und Technologien des Sammelns der Universität für Weiterbildung Krems. Windhager befasst sich in seiner Forschung u.a. mit Informationsvisualisierung und digitalen Geisteswissenschaften.
MICHAEL SMUC
Mag. Michael Smuc leitet das von ihm gegründete Unternehmen mindfactor IT solutions. Davor war er am Department für Wissens- und Kommunikationsmanagement der Universität für Weiterbildung Krems tätig.
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