Sammeln ist eine tiefliegende Eigenschaft des Menschen. Für Museen die Grundlage ihrer Existenz. Wie Sammlungen vermittelt und im digitalen Zeitalter mit dem Anspruch ewiger Aufbewahrung umgehen sollten, beantwortet die Expertin für Sammlungswissenschaften Anja Grebe.

Interview: Jonas Vogt
 

upgrade: Ich würd das Interview gerne mit einer etwas naiven Frage beginnen: Warum sammelt der Mensch?

Anja Grebe: Sammeln ist etwas Universelles. Jeder Mensch hat heute auf dem Handy oder in der Cloud riesige Sammlungen an Daten, Fotos und anderem. Anthropologen sagen, dass Sammeln eine Überlebensstrategie ist: Wir legen uns Vorräte an, um unser Überleben zu sichern. Dieses Vorratsdenken ist letztlich die Grundlage für das Sammeln des Menschen bis heute.
 

„Jäger und Sammler“, den Begriff kennt man.

Grebe: Wobei wir heute wissen, dass es auch Jägerinnen waren! Sammeln entnimmt Dinge aus der Gegenwart, um eine Zukunftssicherung zu haben. Das ist auch das Prinzip des musealen Sammelns: Wir – beziehungsweise bereits unsere Vorfahren, von denen wir die Objekte dann übernehmen – haben der Gegenwart Dinge entnommen, um sie für die Zukunft aufzubewahren. Irgendetwas erscheint an diesen Dingen wichtig: Sammeln verbindet immer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Zukunftsblick scheint dabei aber ein wenig verloren gegangen zu sein. Wir agieren aktuell sehr in der Gegenwart.
 

Man müsste, wenn ich das richtig verstehe, mehr aus der Sicht der Kinder denken: Welchen Wert könnten bestimmte Gegenstände für sie haben?

Grebe: Wir sollten diese Zukunftsperspektive tatsächlich wieder öfter ins Bewusstsein rücken. In jedem Objekt einer Sammlung – von der versteinerten Muschel bis hin zum Meistergemälde – steckt enormes Wissen, wie Menschen früher, in ihren jeweiligen zeitlichen und örtlichen Kontexten, mit der Gegenwart und ihren Herausforderungen umgegangen sind. Auch wenn Vieles heute anders ist: Vielleicht können wir deren Überlebensstrategien, deren Wissen, etwa im Umgang mit Ressourcen, wieder für uns nutzbar machen und damit auch die Sicht auf unsere Welt verändern. Das ist für mich einer der spannendsten Aspekte an der Museumsarbeit: Jedes Objekt ist ein Fragment der Vergangenheit, das sich mit jeweils unterschiedlichen Erfahrungen in Verbindung bringen lässt. Deshalb kann auch jeder Mensch aus diesen Objekten anderes Wissen, andere Bedeutung generieren.

Anja Grebe

„Sammeln ist etwas Universelles. Jeder Mensch hat heute auf dem Handy riesige Sammlungen an Daten und Fotos. Anthropologen sagen, dass Sammeln eine Überlebensstrategie ist.“

Anja Grebe

Können auch Objekte, die man heute inhaltlich eher kritisch beurteilen würde, „positive“ Bedeutung generieren?

Grebe: Es gibt derzeit beispielsweise große Debatten, ob man Kunstwerke, deren Inhalte nach heutigen Vorstellungen sexistisch oder rassistisch sind, noch ausstellen soll. Das geht mir persönlich oft zu weit. Natürlich ist ein sorgfältiges Abwägen notwendig. Aber Museen können und sollen auch abbilden, dass es in der Vergangenheit andere Sichtweisen gab – selbst, wenn wir diese heute als problematisch ansehen und nicht mehr gutheißen. Vielleicht kann ich mit der entsprechenden Kontextualisierung in Ausstellungen lernen, mit kontroversiellen Themen und Objekten umzugehen. Das kann dann wiederum ein Denkanstoß sein, den ich mit in meine eigene Gegenwart nehme.
 

Warum gehen Menschen in Museen?

Grebe: Da gibt es viele Gründe: Der vielleicht wichtigste Beweggrund ist die Neugierde. Ich war unlängst in Berlin im Deutschen Historischen Museum in einer neuen Ausstellung speziell für Kinder. Dort wurde in einer Art „Zeitreise“ ein Gemälde ausgestellt, das die Menschen in Augsburg in der Renaissancezeit zeigt. Die Kurator_innen haben geschaut, welche Objekte sie zu einzelnen Details des Bildes in ihrer Sammlung haben und die Gegenstände so in einen Kontext gesetzt. Neben dem Gemälde selbst waren beispielsweise historische Musikinstrumente, Spiele, Bücher und Turniergeräte ausgestellt. Es gab viel zu entdecken und wurde auch angenommen. Das Ganze war sehr interaktiv und spielerisch aufbereitet. Die Kinder hatten großen Spaß, und die Erwachsenen auch. Das Learning ist: Im Idealfall sollten Museen den Besucher_innen immer etwas zum Entdecken bieten.
 

Muss ein Objekt, das man ausstellt, andere Dinge mit sich bringen als eines, das „nur“ in der Sammlung ist?

Grebe: Museen müssen sich natürlich immer Gedanken um die Präsentation und Vermittlung machen, doch da decken sich die Perspektiven nicht immer. Schon rein platztechnisch können in den meisten Museen nicht alle Sammlungsobjekte ausgestellt werden. Ein wichtiges Entscheidungskriterium, ob ein Objekt ausgestellt wird, ist neben seinem Erhaltungszustand die Herkunft: Historisch gesehen ist ja nicht nur das Objekt an sich interessant, sondern vor allem die Provenienz, also die Geschichte, d.h. wer es gemacht hat, wofür und für wen es hergestellt wurde, wer es besessen und benutzt hat und wie es in der Sammlung gelandet ist. Ein Reisigbesen, von dem wir wissen, wer ihn vor 120 Jahren geschaffen hat und durch welche Hände er ging, kann wesentlich interessanter sein als ein ähnliches Objekt, das vielleicht besser erhalten ist, zu dem wir aber diese Informationen nicht haben. So etwas kann man in einer Ausstellung auch wunderbar erzählen.
 

Welche Bedeutung hat die Digitalisierung für die Tatsache, dass sich die meisten Museumsobjekte im Depot befinden?

Grebe: Für die Sammlungswissenschaften bedeutet die Digitalisierung eine Chance und Herausforderung zugleich. Bei den meisten Objekten war es, kurz gesagt, lange Zeit so: Habe ich sie einmal ins Depot überführt, tut sich so schnell einmal nichts. Die Digitalisierung bietet die Möglichkeit, große Datenmengen, d.h. idealerweise der gesamten Sammlung einschließlich aller Depotobjekte, öffentlich zugänglich zu machen. Der Haken: Bei digitalen Daten kann derzeit niemand garantieren, dass sie in 20 Jahren noch in der ursprünglichen Form da sind und gelesen werden können. Der Anspruch von Museen, Objekte und das mit ihnen verbundene Wissen „für alle Ewigkeit“ zu bewahren, ist im digitalen Zeitalter mit großen Herausforderungen und Unsicherheiten konfrontiert. Es gibt mittlerweile schon Datenrestaurator_innen in einigen Museen. Es ist aber leider noch nicht umfassend ins Bewusstsein der Museumsszene vorgedrungen, wie viel Aufwand die Pflege von Daten bedeutet und wie hoch das Sicherheitsrisiko ist. Es kann leider viel zu schnell gehen, dass meine digitalen Bestände weg oder nicht mehr zugänglich sind.

Anja Grebe

„Der Anspruch von Museen, Objekte und das mit ihnen verbundene Wissen ‚für alle Ewigkeit‘ zu bewahren, ist im digitalen Zeitalter mit großen Herausforderungen und Unsicherheiten konfrontiert.“

Anja Grebe

Museen machen ja auch immer wieder Inventuren, der Fachbegriff ist „Revision“. Sortiere ich da auch Dinge aus, oder gilt: einmal gesammelt, für die Ewigkeit gesammelt?

Grebe: Theoretisch sammeln wir für die Ewigkeit. Trotzdem haben sich seit einiger Zeit der Begriff und das Konzept des „Entsammelns“ entwickelt. Das Bewusstsein für die problematischen Aspekte potenziell unendlicher Sammlungen ist nicht zuletzt mit dem Bewusstsein für Klimawandel und die damit verbundene Forderung nach einem verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen gewachsen. Die Frage: „Brauche ich wirklich den 250. Dachziegel in meiner Sammlung?“ erscheint legitimer. Solche Fragen werden heute offener gestellt.
 

Wie „entsammele“ ich einen Dachziegel ganz konkret?

Grebe: Entsammeln muss nach bestimmten Regeln ablaufen. Man hat in der Vergangenheit immer wieder von gewissen „Entsorgungsaktionen“ in Museen gehört, wo ungewünschte Objekte z.B. an Mitarbeiter_innen verteilt oder schlimmstenfalls heimlich in einen Müllcontainer verbracht wurden. So darf es natürlich nicht sein. Die Objekte sollten auch idealerweise nicht vernichtet, sondern geordnet und transparent übergeben werden. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Wenn ich als Kunstmuseum z.B. über einen Nachlass ein Konvolut von Dachziegeln erhalten habe, das nicht wirklich in meine Sammlung passt, sollte ich versuchen, eine Institution zu finden, die für dieses Sammlungsgebiet spezialisiert ist. Dies bedeutet auch, dass sie mehr Expertise besitzt, um die Objekte zu bewahren, mit ihnen zu arbeiten und sie sinnvoll ausstellen kann. Aber „Entsammeln" ist ein heikles Thema und wird es wohl auch bleiben.
 

Wieso ist das heikel?

Grebe: Ein Grund ist, dass viele Museen nicht zuletzt aufgrund fehlender eigener Mittel darauf angewiesen sind, dass Privatleute ihnen Dinge überlassen. Zugleich stellt es eine Verbindung zur Gesellschaft dar. „Mein Objekt ist im Museum“, ist für viele Menschen berechtigterweise so etwas wie ein Ewigkeitsstempel für kulturelle Bedeutung. Wenn sie erfahren, dass Objekte auch wieder weggeben werden, überlegen sie sich eventuell zweimal, ob sie ein kostbares Objekt dem Museum vermachen.


ANJA GREBE

Die Universitätsprofessorin für Kulturgeschichte und Museale Sammlungswissenschaften an der Universität für Weiterbildung Krems, Dr.in Anja Grebe, studierte französische Literatur, Geschichte und Kunst- und Medienwissenschaft an der Universität Konstanz und der Université Paris-Sorbonne. Die Leiterin des Zentrums für Kulturen und Technologien des Sammelns forscht u.a. zu Museums- und Sammlungsgeschichte, Objekt und Material in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst, der Renaissancekunst in Deutschland, vor allem Albrecht Dürer, und Global Art History.

LINK

Artikel dieser Ausgabe

Zum Anfang der Seite