Kunst definieren zu wollen heißt, sie einzuschnüren. Eine Folge wäre soziale Distinktion. Wichtig ist die Wirkung eines Werks. Die dabei entstehende Bedeutung ist für jeden etwas anderes.

Von Jonas Vogt

„Das Erste, was ich meinen Schülern immer gesagt habe: Kunst gibt es nicht.“ Kurt Schwertsik, 89 Jahre alt und altgedienter Komponist, ringt mit den Worten, wenn man den Versuch unternimmt, mit ihm über die Bedeutung von Kunst und seiner Arbeit zu reden. Es gebe nur Dinge, die die Gesellschaft als Kunst bezeichne und akzeptiere, sagt Schwertsik. Was darunterfalle oder nicht, das sei für ihn aber ohnehin nicht die interessante Frage. Die Frage sei: Hat ein Werk eine Wirkung? Denn trotz alledem sei für ihn klar: „Manches lässt sich gar nicht anders ausdrücken als über das, was man auch Kunst nennt.“

Das Ringen um Worte, das man bei Schwertsik spürt, zieht sich durch viele Gespräche über Kunst und ihre Rolle für den Menschen und die Welt, in der er sich bewegt. Dahinter steckt ein Grunddilemma: Sprache und Kommunikation leben davon, möglichst eindeutig zu sein. Klare Definitionen, klare Regeln, sonst reden alle nur aneinander vorbei. Kunst hingegen ist einer der wenigen Bereiche der Gesellschaft, dem die Freiheit zugestanden wird, nicht eindeutig zu sein. In dem Moment, wo ich in der Kunst klare Definitionen festlege, nehme ich ihr auch Möglichkeiten. Dementsprechend muss die Beantwortung der Frage „Welche Rolle hat die Kunst noch für die Gesellschaft?“ zwangsläufig scheitern. Aber es kann wenigstens ein produktives Scheitern sein.

Ein Anruf bei Julienne Lorz, seit 2021 Professorin an der Universität für angewandte Kunst Wien. Was kann denn Kunst, Frau Lorz? „Kunst hat die Möglichkeit, gesellschaftliche Themen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu behandeln als andere Disziplinen“, sagt Lorz. Kunst habe mehr Freiheiten als Forschung oder Journalismus, die mehr davon lebten, nach einem gewissen Schema vorzugehen. „Kunst kann mit den Sinnen spielen, sie kann überraschen, den Finger in die Wunde legen, uns emotional wie politisch herausfordern. In ihr steckt das Potenzial, andere, neue gedankliche Wege zu gehen, die relevant für unser Leben und das Leben in der Gesellschaft sind.“

Blicke positiv erschüttern

Lorz kann das alles nicht nur theoretisch erklären, sondern hat auch gleich ein Beispiel parat, um das alles ein bisschen ins Konkrete zu holen. In ihrer Vorlesung im aktuellen Semester geht es unter anderem um die brasilianische Künstlerin Maria Thereza Alves. In ihrem Projekt „Seeds of Change“ beschäftigt sich Alves mit „Ballastpflanzen“: Pflanzen, die ungeplant als Samen an Bord von Handelsschiffen um die Welt reisten und sich in europäischen Hafenstädten ansiedelten. Von der Herangehensweise her ist es ein fast wissenschaftliches Projekt mit strengen Regeln. Aber es wirft auch einen Blick auf einen wenig beleuchteten Teil der Geschichte und macht Kolonialismus auf ungewöhnliche Weise sichtbar. So ein Projekt kann „unseren“ Blick, also den eine_r Besucher_in eines europäischen Museums im 21. Jahrhundert, im positiven Sinne erschüttern. Und vielleicht generiert man daraus Bedeutung (siehe auch Interview mit Anja Grebe) und nimmt etwas für die eigene Gegenwart mit.

Das wäre sie: eine fast übertrieben simplifizierte Theorie, wie Kunst unseren Blick auf die Welt und Gesellschaft verändern kann. Aber wer ist das eigentlich, dieses „wir“? Wessen Blick wird da verändert?

In der Kunst und der Debatte um sie sind viele verschiedene Ebenen verwoben. Es geht um individuelles Empfinden, um Bedeutung für soziale Gruppen, um „die Gesellschaft“. Die Beziehungen sind komplex: Soziale Bedeutung entsteht dadurch, dass man Kunstwerken diese zuschreibt; die verändert aber auch wiederum, welche Empfindungen diese Werke bei den individuell auslösen. Kunst hat eine Rolle für die Gesellschaft, aber diese hat natürlich auch einen Einfluss auf die Kunst. Nicht nur als Inspiration, sondern vor allem auch über die Bedingungen, unter denen Kunst entsteht. Es ist ein hochkomplexes soziales Phänomen. Und da hat man Begriffe und Konzepte wie „Ästhetik“ oder „Schönheit“ noch nicht mal angetastet.

Musik bedeutet fast allen etwas

Versuchen wir trotzdem einmal, das Ganze mal so simpel wie möglich herunterzubrechen. Nehmen wir uns einen sehr durchschnittlichen Österreicher her – nennen wir ihn Max. Und nehmen wir eine Kunstform her, zu der fast alle einen Zugang haben: die Musik. Bevor wir uns fragen, welche Bedeutung Kunst für die Gesellschaft hat, gehen wir zwei Schritte zurück: Welche Rolle hat die Kunst, in dem Fall die Musik, für Max?

Julienne Lorz

„Kunst kann mit den Sinnen spielen, sie kann überraschen, den Finger in die Wunde legen, uns emotional wie politisch herausfordern.“

Julienne Lorz

Musik ist eine buchstäblich uralte Ausdrucksform des Menschen. Die ältesten aktuell bekannten Knochenflöten sind um die 50.000 Jahre alt. Fast jeder Menschen kann singen. Und in den meisten Fällen macht Musik – egal ob ich sie aktiv mache oder passiv höre – auch etwas mit dem Menschen. Wenn Max halbwegs durchschnittlich ist, wird das auch für ihn gelten. Musik bewegt ihn.

„Musik wird nah an grundlegenden Hirnregionen verarbeitet“, sagt Eva Maria Stöckler. Die studierte Musikwissenschaftlerin leitet das Department für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Universität für Weiterbildung Krems. „Man nimmt an, dass Musik deshalb so eine große Bedeutung für den Menschen hat.“ Anders als andere Sinne könne man das Hören nicht abschalten: Ohren ließen sich nicht komplett schließen, und akustische Signale würden im Gehirn automatisch verarbeitet. Wie das menschliche Gehirn mit Musik umgehe, sei einer der Gründe, warum sie so stark mit Emotionen verbunden sei. „Eine bestimmte Musik, etwa Songs, die man gehört hat, als man sich das erste Mal verliebt hat, kann einen auch später wieder in diese Zeit versetzen“, sagt Stöckler. „Das bleibt oft das ganze Leben.“

Das soziale Phänomen sehen

Wenn Max das richtige Alter hat, war er in seiner Jugend nicht nur zum ersten Mal verliebt, sondern hat für diese Person auch ein Mixtape gemacht. In so einem Moment wird Musik für ihn dann mehr als „nur“ ein Signal im Hirn. Sie nimmt eine soziale Funktion ein. Das wird vermutlich nicht das einzige Mal gewesen sein, wo Max auf Musik als soziales Phänomen getroffen ist. Vielleicht hat er im Kindergarten in der Gruppe gesungen, vielleicht war er Teil einer Blasmusikkapelle. Vielleicht hat er sich auch als Mitglied einer Metalband von Blasmusikkapellen aber auch völlig abgegrenzt. Egal auf welche Weise: Für viele Menschen spielt Musik eine Rolle in ihrer Identitätsbildung.

„Mit Musik können verschiedene Informationen gleichzeitig vermittelt werden“, sagt Stöckler. Dadurch wurde sie beispielsweise früh zum Synchronisieren von Tätigkeiten eingesetzt: Marschieren, Rudern, Erntearbeiten. „In vielen Kulturen wurde etwa zur Arbeit gesungen – daraus haben sich bis heute existierende Musikformen entwickelt, etwa Worksongs und Blues.“ Musik hat Menschen in der Geschichte genauso zusammengebracht wie getrennt. „Man denke etwa an Nationalhymnen“, sagt Stöckler. „Sie dienten zur Bildung einer Gruppenidentität, ebenso wie heute die persönliche Wahl der Musikszene, der man sich zugehörig fühlt. Aber mit Gruppenbildung ist auch immer Ausgrenzung von Menschen außerhalb dieser Gruppe verbunden.“ Einfacher gesagt: In der Entscheidung, mich als Punk zu fühlen, liegt auch die Feststellung, dass es alle anderen nicht sind.

Kurt Schwertsik

„Das Erste, was ich meinen Schülern immer gesagt habe: Kunst gibt es nicht.“

Kurt Schwertsik

Wer die Macht hat zu definieren

In dem Moment, wo man Musik und Kunst als soziales Phänomen betrachtet, ist es natürlich nicht mehr von den sozialen Bedingungen zu trennen, unter denen es produziert wird. Traditionell würde man die Geschichte der meisten Künste – extrem grob betrachtet – wohl folgendermaßen zusammenfassen: Mit dem Ackerbau und der Herausbildung von arbeitsteiligen Gesellschaften entstehen auch erstmals spezielle Positionen für Künstler_innen. In der Antike haben die Künste eine erste Ausdifferenzierung erfahren, die damals auf mehreren Säulen stand und auch viele weltliche Einflüsse hatte. Mit dem Übergang ins frühe Mittelalter - circa 7. Jahrhundert nach Christus – wandert die Definitionsmacht, was Kunst ist, langsam in die Hand der Kirche. Sie ist entweder direkte Auftraggeberin, oder Adelige geben als Mäzen_innen christliche Kunst neben profaner in Auftrag. Das gilt quer durch alle Kunstgattungen und ist bis heute ein wichtiger Faktor, wenn man die Entwicklung der Kunst verstehen will. „Die Kirche hat beispielsweise die Regeln dafür festgelegt, was als Musik zu gelten hat“, sagt Stöckler. Sakralmusik sei hoch angesehen gewesen. „Dienstleistungsmusiker_innen“, oft fahrendes Volk, hätten hingegen lange eine sehr schlechte soziale Stellung gehabt.

Der Übergang in die bürgerliche Gesellschaft änderte das nur zum Teil: Es dauerte etwa bis tief ins 20. Jahrhundert hinein, bis Unterhaltungsmusik als Forschungsgegenstand auf der Universität ankommen durfte. Wer sich ernsthaft mit einem Phänomen wie Schlager beschäftigt, wird noch heute teilweise schief angeschaut. „Musik galt lange nur als hochwertig, wenn sie vermeintlich keinen Zweck verfolgte“, sagt Stöckler. Unterhaltung war ein Zweck und damit minderwertig, was zeitweise sogar Künstler_innen wie Johann Strauss zugeschrieben wurde. „Und es stimmte natürlich auch nicht: Die Musik hatte einen Zweck, nämlich Selbstdarstellung. Erst des Adels, später des Bürgertums.“ Das sehe man noch heute an manchen Ritualen eines Konzert- oder Opernbesuchs.

Eva Maria Stöckler

„Musik galt lange nur als hochwertig, wenn sie vermeintlich keinen Zweck verfolgte.“

Eva Maria Stöckler

In die Breite gewachsen

Auch wenn Kunst und Kultur, speziell Disziplinen wie Theater oder bildende Kunst, noch immer vor allem von höheren Bildungsschichten konsumiert werden, hat grundsätzlich natürlich schon ein Verbreiterungsprozess stattgefunden. Es gibt kaum eine Kulturinstitution, die heute nicht „für alle“ da sein möchte, zumindest offiziell. „Hinter Konzepten wie dem ‚Museum für alle‘ steckt eine gewisse Utopie“, sagt Julienne Lorz. Es sei ein erstrebenswertes Ziel, an dem man sich orientieren könne. „Die Fragen, die dabei immer wieder aufs Neue verhandelt werden, sind: wer ist ‚alle‘ und wie und auf welcher Basis werden ‚alle‘ adressiert und von wem?“

Da ist sie wieder, die „Gesellschaft“. Und die Ausgangsfrage, welche Rolle Kunst in der Gesellschaft heute noch habe, ist eigentlich auch noch unbeantwortet. Wahrscheinlich ist eine Antwort darauf auch so schwer, weil sie einerseits sehr einfach ist: Kunst soll den Blickwinkel erweitern. Das war schon immer so und ändert sich nicht, nur weil sich das Medium ändert. Sie ist aber auch sehr schwierig, weil wir mit der Digitalisierung eine monumentale Verschiebung in den Produktionsbedingungen erleben. Die Eintrittsbarrieren sind so niedrig wie noch nie. Nie in der Geschichte gab es so viel Musik, so viel Kunst wie heute. „Gleichzeitig sind aber die Einkünfte der Musiker_innen gesunken“, sagt Eva Maria Stöckler. Man wisse, dass Musik noch immer einen hohen individuellen Wert habe, ebenso für soziale Gruppen. „Aber was uns als Gesellschaft Musik und Kultur im Allgemeinen wert sind, das wird gerade neu verhandelt.“ In Österreich lande man schnell bei der Frage nach dem touristischen Wert. Aber Kunst und Kultur sei für Menschen auch einfach eine Frage der Lebensqualität, auch in ländlichen Gebieten. „Wenn es irgendwo Veranstaltungen, Konzerte, Kultur gibt, dann ist das ein Ort, an dem man gern lebt.“


KURT SCHWERTSIK
Kurt Schwertsik studierte ebendort Komposition und Horn sowie in Deutschland u.a. bei Karlheinz Stockhausen. Mit Friedrich Cerha gründete er 1958 das Ensemble die reihe für Neue Musik und mit dem Komponisten und Pianisten Otto M. Zykan die „Salon-Konzerte“. Er unterrichtete Komposition in den USA; am Konservatorium Wien und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

JULIENNE LORZ
Julienne Lorz startete ihre Karriere als Tänzerin und Choreografin in Großbritannien. Sie studierte Curating Contemporary Art am Royal College of Art in London. Lorz war u.a. als Kuratorin am Gropius Bau in Berlin tätig und ist derzeit Universitätsprofessorin an der Universität für Angewandte Kunst Wien.

EVA MARIA STÖCKLER
Mag.a Dr.in Eva Maria Stöckler, MA-ME ist Musikwissenschaftlerin und leitet an der Universität für Weiterbildung Krems das Department für Kunst und Kulturwissenschaften sowie das Zentrum für angewandte Musikforschung und der Sammlung Mailer / Strauss Archiv.

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